Stimmung zur Neufestsetzung der Arbeitsnormen (8)
26. Oktober 1956
Information Nr. 281/56 – Betrifft: Stimmung zu Arbeitsnormen (8. Bericht)
Aus verschiedenen Industriebetrieben wurde wieder Unzufriedenheit zu Arbeitsnormen bekannt. Während bisher bei der Unzufriedenheit mehr Unklarheiten und ungenügende Aufklärung über Arbeitsnormen Anlass zu Diskussionen gab, zeigt sich gegenwärtig, dass die Unzufriedenheit auf unreale Normen und falsche Normenerarbeitung zurückzuführen ist. Vereinzelt wurden auch Beispiele bekannt, wo Arbeitszurückhaltung bei Normenüberprüfung erfolgt. Im Einzelnen dazu Folgendes:
1. Unreale Normen als Ursache der Unzufriedenheit
Aus vorliegendem Material ist ersichtlich, dass die Mehrzahl der Diskussionen über Arbeitsnormen unreale Normen zur Ursache haben. Die dadurch eintretenden Lohnminderungen bzw. durchzuführenden Mehrleistungen führen dazu, dass diese Normen von den Arbeitern abgelehnt werden. Zum anderen werden aber auch Forderungen nach Schaffung der technischen Möglichkeiten für die Normerfüllung erhoben, sodass nicht in jedem Fall von Unklarheiten über Normen in diesen Betrieben gesprochen werden kann.
Charakteristisch für die Unzufriedenheit sind folgende Beispiele:
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Im VEB Werkzeugfabrik Radebeul, [Bezirk] Dresden, sind die Arbeiter der Abteilung Schleiferei nicht mit der Arbeitsnorm für die Herstellung von Ringschlüsseln einverstanden. Die gegenwärtige Norm bei der Bearbeitung der Ringschlüssel sieht vor, dass in der Stunde 50 Stck. geschafft werden müssen. Bisher ist es noch keinem Arbeiter gelungen, diese Norm zu erfüllen.
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Im VEB EKB Bitterfeld, [Bezirk] Halle, sind die Beschäftigten des Aluwerkes I nicht mit den gegenwärtigen Normen einverstanden. In den Diskussionen wird zum Ausdruck gebracht, dass der jetzige Lohn gegenüber dem Vorjahr bei gleichbleibender und teilweise sogar erhöhter Arbeitsleistung 60,00 bis 70,00 DM weniger beträgt. Diese Frage wird in jeder Versammlung des Betriebes gestellt. Aufgrund der Nichtbeachtung der Beschwerden haben die Beschäftigten bereits die Bitte geäußert, einmal mit Vertretern des Bundesvorstandes des FDGB sprechen zu können.
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Im BKW Zeitz, [Bezirk] Halle, sind die Arbeiter der Brikettfabrik Theißen nicht mehr mit den Arbeitsnormen einverstanden. Die Arbeiter fordern eine Änderung der Normen, da die Planerfüllung aufgrund der unterschiedlichen Rohkohle nicht mehr gewährleistet und die Entlohnung dementsprechend schlecht ist.
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Im VEB Walzwerk Hettstedt arbeiten 32 % der Belegschaft mit unrealen Normen. In der Abteilung »Breite Umkehre« sind 72 Arbeiter beschäftigt, die ihre Norm mit 210 bis 280 % erfüllen. In der Abteilung Versand, 120 Beschäftigte, werden die Normen mit 200 bis 300 % erfüllt.
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Unreale Normen bestehen ebenfalls in folgenden Betrieben:
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VEB Kraftwerk Zschornewitz, [Bezirk] Halle,
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VEB Kraftwerk Vockerode, [Bezirk] Halle, und VEB Kaliwerk Roßleben, [Kreis] Artern, [Bezirk] Halle,
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VEB Presswerk Freital, [Bezirk] Dresden,
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Verwaltung III der Wismut Karl-Marx-Stadt, im Projektierungsbüro und im VEB Zeiss Jena und Wolltuchfabrik Pößneck,1 [Bezirk] Gera.
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Im VEB Zeiss Jena werden die Normen mit 140 bis 150 % erfüllt. Trotzdem lehnen die Arbeiter die Erarbeitung neuer Normen ab mit der Begründung, dass sie dann in der Regel 60,00 [bis] 70,00 DM weniger verdienen würden.
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2. Zurückhaltung bei der Erarbeitung neuer Arbeitsnormen
Aus verschiedenen Betrieben wurden Beispiele bekannt, aus denen ersichtlich ist, dass Arbeiter bei Normenüberprüfung langsam arbeiten bzw. nach erfolgter Normerfüllung die noch verbleibende Zeit verbummeln, um keine Normüberprüfung herbeizuführen. Dazu folgende Beispiele:
Im VEB Kaliwerk Roßleben, [Bezirk] Halle, beträgt die prozentuale Normerfüllung bei den dort beschäftigten Strafgefangenen bis 140 %. Von den Zivilarbeitern erfolgen deshalb ständig Vorwürfe. Außerdem wurde festgestellt, dass die Zivilarbeiter bei einer Erfüllung der Normen mit 120 bis 125 % aufhören zu arbeiten, obwohl noch Zeit für weitere Arbeiten vorhanden wäre.
Im VEB Wittol Wittenberg, [Bezirk] Halle, wurde festgestellt, dass die Zubringerbrigade während einer Normenüberprüfung absichtlich langsam arbeiteten. Als daraufhin der Brigadier zur Rede gestellt wurde, gab er zur Antwort, »wenn die Normenbrecher in der Nähe sind, dann ist das nicht anders«. Der größte Teil der Beschäftigten des Betriebes ist jedoch interessiert daran, dass die unrealen Normen beseitigt werden.
Ähnliche Beispiele liegen vor aus dem VEB Stickstoffwerk Piesteritz, [Bezirk] Halle, Phosphorbetrieb, dem Umschlaghafen Riesa, [Bezirk] Dresden, und dem VEB Elmo-Werk Hartha, [Bezirk] Leipzig, Abteilung Bohrerei und Fräserei. Im letzten Betrieb äußert sich die Zurückhaltung darin, dass die Meinung vertreten wird, keine Verbesserungsvorschläge einzureichen, da sonst mit einer Normenüberprüfung zu rechnen sei.
3. Falsche Erarbeitung von Arbeitsnormen
Vereinzelt führte auch wieder falsche Erarbeitung von Arbeitsnormen zur Unzufriedenheit unter den Beschäftigten, zumal die meistens mit Lohnänderungen verbunden waren. So wurden im VEB Kirow-Werk Leipzig die Arbeitsnormen der E-Schweißer und Stahlbauschlosser auf administrativem Wege auf ein Drittel erhöht. Diese Regelung wurde damit begründet, dass ein neuer Normenkatalog erschienen wäre, über den mit Arbeitern jedoch nicht gesprochen wurde. Um auf die Höhe ihres bisherigen Verdienstes zu kommen, leisten die E-Schweißer gegenwärtig Überstunden.
Im VEB Funkwerk Leipzig ist beabsichtigt, in der Abteilung Wickelei den Normenzuschlag von 8 % zur eigentlichen Zeitaufnahme auf 6 % zu kürzen, obwohl das Normenaktiv damit nicht einverstanden ist. Die Durchführung dieser Maßnahme würde für jeden Arbeiter eine Schmälerung des Lohnes um 7,50 DM bedeuten.
Im VEB VTA Leipzig Werk II Abteilung Verzahnerei sind die Arbeiter unzufrieden darüber, dass die Normen aufgrund 180%iger Erfüllung verändert bzw. die Maschinengruppen neu eingeteilt wurden. Die Erfüllung der Normen mit 180 % erfolgte jedoch nicht aufgrund unrealer Normen, sondern aufgrund der Tatsache, dass die Arbeiter jene Maschinen mit bedienten, die sonst durch Krankheit oder Urlaub von Arbeitern zum Stillstand gekommen wären.