Ursachen der Republikflucht von Ärzten aus dem Bezirk Magdeburg
9. November 1956
Information Nr. 329/56 – Betrifft: Ursachen der Republikflucht von Ärzten aus dem Bezirk Magdeburg
Wie aus Magdeburg mitgeteilt wird, sind inoffizielle Hinweise über beabsichtigte Republikfluchten von Ärzten und medizinischen Kapazitäten vorhanden, deren Ursachen hauptsächlich in der mangelhaften Organisation des Gesundheitswesens liegen.
Große Unzufriedenheit herrscht bei den Ärzten z. B. darüber, dass eine Übersicht über die Belegung der einzelnen Krankenhäuser überhaupt nicht besteht. Der Leiter des DRK – Dr. Paul1 – lehnte die Aufgabe des Betten-Nachweises ab, was dazu führte, dass einige Krankenhäuser wegen Überfüllung nicht in der Lage sind schwere Fälle zur stationären Behandlung aufzunehmen, während andere Krankenhäuser nur bis zu 40 % ausgelastet sind. Während in anderen Bezirken – z. B. Halle – der Betten-Nachweis vom DRK durchgeführt wird, sind dazu im Bezirk Magdeburg langwierige Telefonate oder persönliche Nachfragen von einem Krankenhaus zum anderen notwendig. Dies erweckt nicht nur den Unwillen der Ärzte und der Bevölkerung, sondern auch die Patienten sind über eine solche Art der Behandlung empört.
Eine Änderung dieses Zustandes durch die Abteilung Gesundheitswesen der Stadt Magdeburg ist bis jetzt noch nicht erfolgt. Die Ärzte des Bezirkes Magdeburg sind äußerst überlastet. – Besonders trifft das für den Kreis Magdeburg zu.2 – Außer in der Stadt Magdeburg selbst sind in den Kreisen keine Möglichkeiten zur Durchführung schwerwiegender Operationen vorhanden. Im Gustav-Ricker-Krankenhaus in Magdeburg sind die Operationsmöglichkeiten äußerst ungenügend. Operationen müssen z. T. in provisorisch eingerichteten Räumen durchgeführt werden, da seit 1952 zehn eingereichte Anträge zum Ausbau von Operationsräumen keine Änderung dieses Zustandes brachten. Z. B. dient ein Baderaum, in dem die Patienten zur Operation vorbereitet werden, gleichzeitig als Umkleideraum für die Schwestern. Die Küche dient den Schwestern gleichzeitig als Aufenthalts- und Speiseraum, da andere Räumlichkeiten nicht verfügbar sind.
Der Bau einer Chirurgie mit zwei Bettenhäusern ist dringend erforderlich. Der an der chirurgischen Klinik des Gustav-Ricker-Krankenhauses tätige Prof. Lembcke3 ist Hirnoperateur. Er kann aber aufgrund des bestehenden Bettenmangels keine Operationen durchführen, sodass die Patienten alle nach Leipzig oder Halle überführt werden müssen. Dies ist der Grund dafür, dass Prof. Lembcke seine Kündigung einreichte um ein westdeutsches Angebot zur Übernahme einer Klinik mit 250 Betten anzunehmen. Die Kündigung wurde von ihm nur unter der Bedingung zurückgenommen, dass eine schnellstmögliche Veränderung des Zustandes herbeigeführt wird. Das erste Objekt zur baulichen Veränderung wurde von ihm selbst ausgearbeitet. Jedoch setzte sich der Architekt mit den Unterlagen nach München ab, wo das Projekt sofort durchgeführt wurde.
Neuerdings sind von Prof. L., seinen Assistenzärzten, Oberärzten und seiner Stationsschwester Äußerungen bekannt geworden, dass sie am 1.1.1957 die DDR verlassen wollen um ein westdeutsches Angebot anzunehmen. Sie sind der Meinung, dass ihre besondere Lage kein Verständnis findet und sie zu dem Schritt getrieben werden. Der Leiter der Landesfrauenklinik Magdeburg – Prof. Emmrich4 – beabsichtigt ebenfalls die DDR zu verlassen, wenn sich im Gesundheitswesen der Stadt Magdeburg nichts ändert. Er lässt sich bereits in Winningen/Westdeutschland ein Haus bauen.
Eine sehr schlechte Stimmung herrscht gegenüber dem Oberbürgermeister Genossen Daub.5 Die Ärzte vertreten den Standpunkt, dass er zwar alles verspricht, aber nichts hält. Sie sind nicht gewillt, sich noch länger von ihm verkohlen zu lassen. Der Kauf von dringend benötigten Einrichtungen, die in Leipzig erhältlich sind, wie z. B. eine Unterwasser-Darmmassage-Einrichtung, wurde trotz wiederholter Anforderung vom Oberbürgermeister Daub nicht bewilligt.