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Entwicklung des Fluchtgeschehens im 4. Quartal 1960

3. Februar 1961
Bericht Nr. 57/61 über die Entwicklung der Republikflucht im Zeitraum Oktober bis Dezember 1960 und über Maßnahmen und Ergebnisse ihrer Bekämpfung

(Dieser Bericht ist eine Ergänzung des Berichtes Nr. 724/60 vom 28.10.60 über die Entwicklung der Republikflucht 1960 und über Maßnahmen und Ergebnisse ihrer Bekämpfung, in dem der Zeitraum Januar bis September 1960 eingeschätzt wurde.)

1. Statistische Übersicht

Nach Meldungen der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei (HVDVP) haben im Zeitraum von Oktober bis Dezember 1960 insgesamt 49 035 Personen illegal die DDR verlassen.

Gegenüber diesem Zeitraum 1959, mit insgesamt 28 728 republikflüchtigen Personen, bedeutet das immer noch eine Steigerung um 20 307 Personen oder 70,69 %.

Ein Vergleich der Monate Oktober bis Dezember 1960 mit demselben Zeitraum 1959 sowie den für diese Zeit 1960 veröffentlichten »Westzahlen« ergibt folgende Übersicht:

[Monat]

1959

1960

»Westzahlen« 1960

Oktober

11 475

19 686

21 150

November

9 777

16 610

16 427

Dezember

7 476

12 739

14 587

gesamt

28 728

49 035

52 164

Die Gesamtzahl der von der HVDVP 1960 erfassten Republikfluchten beträgt somit 181 473 Personen. Das bedeutet gegenüber 1959 eine Steigerung um 61 243 Personen oder 51 %.

In den 1960 als Schwerpunkte in Erscheinung getretenen Berufsgruppen zeigte sich im Berichtszeitraum Oktober bis Dezember 1960 folgende Entwicklung:

[Berufsgruppen]

Fluchten Okt.–Dez. 1960

Fluchten 1960 insgesamt

1959 registrierte Fluchten

Ärzte einschließlich Tierärzte

321

1 062

752

Lehrer

430

1 708

946

Wissenschaftler

57

169

124

Ingenieure und Techniker

608

2 005

1 096

Handwerker

690

2 912

1 156

Besitzer von Privatbetrieben

103

483

365

Gewerbetreibende

526

2 241

1 462

Genossenschaftsbauern

1 295

5 957

844

Einzelbauern

89

1 133

867

Arbeiter und Angestellte

22 115

77 358

53 297

Nach »westlichen« Angaben flüchteten 1960 insgesamt 199 188 Personen aus der DDR. Das ergibt gegenüber den Meldungen der HVDVP eine Differenz von 17 715 Personen, die in dieser Höhe nicht der Wirklichkeit entsprechen dürfte. So wird z. B. in einer »Geschäftsstatistik über das Bundesnotaufnahmeverfahren« vom 9.12.1960 durch das »Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte« eingestanden, dass »zwischen der Summe der Antragsteller und der Summe der Aufgenommenen und Abgelehnten seit 1949 bis zum 30.11.60 eine Differenz von 212 826« Personen besteht, von denen »nur ein geringer Anteil der Anträge sich noch in Bearbeitung befinde.« Gleichzeitig wird in dieser »Statistik« darauf aufmerksam gemacht, »dass die in der Gesamtsumme entstandenen Doppelzählung von früher Abgelehnten und später Aufgenommenen … durch Abzug dieser Doppelzählung bereinigt worden« sei.

Offensichtlich beruht auch die Differenz von 17 715 Personen in der Mehrzahl auf »Doppelzählungen im Bundesnotaufnahmeverfahren« und weniger auf Mängel in der statistischen Erfassung der Deutschen Volkspolizei.

Im Berichtszeitrum wurden aufgrund der von den Sicherheitsorganen eingeleiteten Maßnahmen insgesamt 8 861 republikfluchtverdächtige Personen auf dem Wege nach Westberlin gestellt und ihre Flucht damit zunächst verhindert. An diesem Ergebnis hatten die einzelnen Organe wie folgt Anteil:

  • VP: 1 622 Personen,

  • Trapo: 4 991 Personen,

  • DGP: 1 129 Personen,

  • AZKW: 1 119 Personen.

Außerdem konnten – auch aufgrund von Hinweisen der Organe des MfS – in dieser Zeit durch die VP weitere 1 116 Personen zurückgehalten werden, die bereits Fluchtvorbereitungen getroffen hatten.

Damit wurden seit Mai 1960, dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der verstärkten Sicherungsmaßnahmen,1 insgesamt 24 221 Personen auf dem Wege nach Westberlin gestellt und 3 822 Personen aufgrund des Bekanntwerdens bereits getroffener Fluchvorbereitungen zurückgehalten. Die Gesamtzahl der seit Mai 1960 gestellten und zurückgehaltenen Personen erhöht sich damit auf 28 043 Personen.

Trotz dieser Erfolge waren es nach »westlichen Angaben« im Jahre 1960 etwa 70 % aller Personen, die die DDR illegal über Westberlin verließen. Diese Angaben dürften annähernd stimmen.

Zu den Methoden, die Kontrollmaßnahmen der Sicherheitsorgane der DDR nach Berlin zu umgehen, gehört auch die Ausnutzung des Urlauberreiseverkehrs über Berlin. Das Vorzeigen der Ferienschecks ermöglicht es den Personen nicht nur unkontrolliert weiterzureisen, sondern auch wichtige Sachen als Reisegepäck getarnt mitzunehmen. Im Bezirk Gera z. B. wurde bekannt, dass sich Personen, die illegal die DDR verließen, einen Urlaubsscheck nach Rheinsberg bei Berlin besorgten. Die Fahrtroute führte in diesem Falle über das demokratische Berlin mit der S-Bahn nach Potsdam, wobei diese Personen jeweils in Westberlin ausgestiegen sind.

Das unterstreicht, dass eine umfassende Absicherung nach Westberlin nicht möglich ist und die Bekämpfung der Republikflucht deshalb nicht den Sicherheitsorganen der DDR allein überlassen werden kann, sondern vor allem auch vorbeugende Maßnahmen von Seiten des örtlichen Staatsapparates sowie der Parteien und Massenorganisationen erfordert.

2. Eingeleitete Maßnahmen zur Bekämpfung der Republikflucht und deren Erfolge

Es wird darauf verzichtet, nochmals die im Bericht Nr. 724/60 vom 28.10.1960 bereits angeführten grundsätzlichen Maßnahmen näher zu erläutern, die von den verschiedenen Sicherheitsorganen zur Bekämpfung der Republikflucht 1960 eingeleitet wurden. Diese Maßnahmen werden auch weiterhin von diesen Organen beachtet und durchgeführt, wovon auch die Zahl der im IV. Quartal 1960 gestellten und zurückgehaltenen republikfluchtverdächtigen Personen zeugt.

Bei der Verwirklichtung dieser Maßnahmen wurden aber nicht nur Republikfluchten zunächst verhindert, sondern in einer Reihe von Fällen auch die Überbringung von Spionageangaben bzw. die illegale Ausfuhr größerer Geldbeträge unterbunden. So wurden z. B. im D-Zug Magdeburg–Berlin zwei Angestellte des VEB Fahlberg-List Magdeburg gestellt, die beabsichtigten, illegal die DDR zu verlassen und chemische Schlüsselformeln sowie andere Betriebsunterlagen mit sich führten.

Im D-Zug Karl-Marx-Stadt–Berlin gelang es einen Angehörigen der Deutschen Reichsbahn zu stellen, der auf dem Wege nach Westberlin war und Dienstpläne sowie handgeschriebene Zettel mit Westadressen bei sich führte.

Aus Dessau konnte ein Malermeister mit seiner Familie gestellt werden, der bei seiner Republikflucht gemeinsam mit seinem Sohn versuchte, 12 000 DM illegal auszuführen.

In den letzten Monaten des Jahres 1960 traten derartige Versuche, die DDR illegal mit größeren Bargeldbeträgen zu verlassen, besonders bei Angehörigen des Mittelstandes in Erscheinung. In einer Reihe von Fällen hatten vor allem Handwerker bereits schon vorher illegal Geld nach Westberlin verbracht und Konten angelegt. Diese Fluchtvorbereitungen und -ausführungen werden nicht nur unternommen, um nach der Flucht keine materielle Not zu erleiden, sondern sie dienen auch dem Bestreben, sich in Westdeutschland wieder selbstständig zu machen. Diese Absicht offenbart den Einfluss, den Westrundfunk und Westpresse auf diese Bevölkerungskreise mit ihrer Kampagne zur Organisierung der Republikflucht 1960 ausübten.

Verschiedene Berichte der letzten Zeit lassen erkennen, dass die Sicherheitsorgane einer Reihe von Kreisen und Bezirken nicht nur Anstrengungen unternehmen, durch umfangreiche gesetzlich-administrative Maßnahmen die Republikflucht einzuschränken, sondern außerdem gemeinsam mit den Parteien und Massenorganisationen und dem Staatsapparat auch versuchen, durch politisch-erzieherische Möglichkeiten vorbeugend die Republikflucht zu bekämpfen.

So finden z. B. im Kreis Lobenstein/Gera auf Anregung des MfS in Zeitabständen von vier Wochen Beratungen mit Angehörigen der Intelligenz über Fragen statt, die diese Kreise bewegen.

Dazu werden auch die Ehefrauen der Angehörigen der Intelligenz eingeladen. Diese Beratungen haben einen außerordentlich guten Zuspruch gefunden. Die Art und Weise der Durchführung hat bisher nicht den Eindruck aufkommen lassen, dass es sich bei diesen Aussprachen um eine einmalige Angelegenheit handelt. Das Ergebnis dieser politisch-erzieherischen Arbeit ist, dass im Kreis Lobenstein 1960 keine Ärzte republikflüchtig wurden und auch bei der sozialistischen Umgestaltung keine größere Anzahl Republikfluchten auftraten.

Im Kreis Jena/Gera wurde im Ergebnis einer Bürositzung der Partei zu Fragen der Republikflucht beschlossen, künftig differenzierte Aussprachen mit der Intelligenz durchzuführen sowie die Werkleiter der VEB in periodischen Zeitabständen darüber berichten zu lassen, was sie zur Verhinderung der Republikflucht in ihren Werken getan haben.

Im Kreis Lübben/Cottbus organisierten die Mitarbeiter des MfS in Verbindung mit den örtlichen Parteiorganisationen Aussprachen mit Handwerkern. Seit Durchführung dieser politisch-erzieherischen Aufgabe wurden keine Fluchten von Handwerkern mehr registriert.

Obwohl noch mehr ähnliche Beispiele angeführt werden könnten, dürften sie – vom Umfang her betrachtet – doch nur den Beginn einer breiten massenpolitischen Erziehungsarbeit zur Verhinderung von Republikfluchten darstellen.

3. Mängel in der Bekämpfung der Republikflucht

Die Erfolge in der Bekämpfung der Republikflucht könnten ungeachtet des bisher bereits erreichten noch weit größer sein, würden die dabei noch vorhandenen Mängel in der Tätigkeit der verschiedenen Sicherheitsorgane, besonders aber im Wirken des Örtlichen Staatsapparates, der Parteien und Massenorganisationen schnell überwunden.

So erbrachten z. B. Untersuchungen einiger Republikfluchten im Bezirk Halle erneut den Beweis, dass mit Personen, die bereits schon einmal auf dem Wege nach Westberlin gestellt wurden, keine Auseinandersetzungen stattfanden, sondern diese Personen sich selbst überlassen blieben und sich weiterhin mit Fluchtgedanken befassen konnten. In fast allen diesen Fällen hatten es die Volkspolizeikreisämter versäumt, die Betriebe und die gesellschaftlichen Organisationen im Wohngebiet der Geflüchteten davon zu unterrichten, dass diese Personen bereits schon einmal beabsichteten [sic!], die DDR illegal zu verlassen.

Dem Planungsingenieur [Name 1] aus dem VEB Komplette Chemieanlagen Halle z. B. wurde bereits im November 1960 der DPA abgenommen, als er auf einer Fahrt nach Westberlin mit 800 DM im Strumpf versteckt gestellt wurde. Der Betrieb wurde davon nicht unterrichtet. So war es möglich, dass [Name 1] durch den Betrieb einen Dienstreise-Auftrag nach Berlin erhielt, den er dazu benutzte, illegal die DDR zu verlassen.

Der Bergmaschinen-Ingenieur [Name 2], Absolvent im BKW »Einheit« Bitterfeld, wurde bereits am 25.10.1960 von der Trapo gestellt, als er versuchte, die DDR illegal zu verlassen.

Auch in diesem Falle wurde der Betrieb nicht benachrichtigt, sodass es [Name 2] gelang, im Dezember 1960 republikflüchtig zu werden.

Beispiele dieser Art könnten beliebig erweitert werden.

Ein grundsätzlicher Mangel in der Tätigkeit des MfS bei der Bekämpfung der Republikfluchten ist die unzureichende Absicherung der Teilnehmer der DDR an Tagungen oder Kongressen in Westdeutschland sowie die Aufklärung der Methoden des Wirkens westlicher Abwerbezentralen und ihrer Mittelsmänner auf diesen Tagungen und Kongressen sowie unmittelbar nach der DDR.

So traten z. B. zur Tbc-Ärzte-Tagung Mitte Oktober 1960 in Freiburg/Breisgau acht Ärzte aus der DDR öffentlich mit der Erklärung auf, dass sie in Westdeutschland bleiben werden. Zuvor war während eines durch Lichtbilder veranschaulichten Vortrages eine entsprechende Aufforderung auf die Leinwand projiziert worden, die mit einem Angebot von 35 000 DM West verbunden war.

Beweis dafür sind ferner die zahlreichen Republikfluchten, besonders von Ingenieuren, die mittels PM 12 a erfolgten.2 Ein großer Teil dieser Personen erhielt die PM 12 a zum Besuch von Tagungen und Kongressen in Westdeutschland, von denen sie nicht zurückkehrten, weil ihnen dort »bessere Arbeitsmöglichkeiten« geboten worden seien.

Innerhalb der Partei zeigten sich Schwächen bei der Bekämpfung der Republikflucht darin, dass auf Aktivtagungen zwar über die Republikflucht gesprochen wurde, es jedoch zu keinen konkreten Festlegungen kam, wie die Erziehungsarbeit verbessert wurden muss (z. B. Kreise Halberstadt und Wernigerode), oder, dass, wie im Kreis Liebenwerda, aus falscher Vorsicht heraus überhaupt nicht offen zum Problem Republikflucht Stellung genommen wurde, obwohl die hohe Zahl der Republikfluchten in diesem Kreis dazu Anlass gegeben hätte.

4. Ursachen der Republikflucht und begünstigende Erscheinungen

Im Bericht Nr. 724/60 vom 28.10.1960 wurden bereits ausführlich die Ursachen und Anlässe aufgezeigt, die besonders bei Ärzten, Lehrern, Ingenieuren und Technikern, Handwerkern, Bauern und Gärtnern 1960 zur Republikflucht führten. Im Berichtszeitraum wurden dazu absolut neue oder abweichende Ursachen und Anlässe der Republikflucht aus diesen Kreisen nicht bekannt. Bei einer Vielzahl von Beispielen erfolgter bzw. durch klärendes Eingreifen des MfS verhinderter Fluchten wurde jedoch wiederum festgestellt, dass sich Angehörige des Staatsapparates, der Betriebsleitungen und andere verantwortliche Funktionäre im Umgang mit den Menschen Methoden bedienten, die nicht der Verhinderung sondern der Begünstigung der R-Flucht dienten. Dabei entbehrte – wie die Überprüfungen ergaben – das herzlose, bürokratische, administrative und teilweise sektiererische Verhalten dieser Funktionäre jeder politischen Notwendigkeit. In geradezu gröblichster Weise wurden dabei nicht nur die elementarsten Umgangsformen der menschlichen Beziehungen verletzt, sondern auch Weisungen und Empfehlungen der Partei missachtet oder falsch ausgelegt.

  • So wies z. B. der Vorsitzende des Rates des Kreises Pößneck an, dass die Mitarbeiter der Abteilung Volksbildung nicht an der Polytechnischen Kreiskonferenz teilzunehmen, sondern zur Kartoffelernte zu gehen hätten. Selbst als daraufhin die Bezirksleitung der Partei anordnete, dass alle Mitarbeiter an der Kreiskonferenz teilnehmen sollen, bestimmte der Vorsitzende, dass nur ein Schulleiter und ein Inspektor zur Konferenz gehen, alle anderen aber zur Kartoffelernte. Aus dem gleichen Grunde ließ er auch eine von der Abteilung Volksbildung einberufene Direktorenkonferenz absetzen.

  • Die Stimmung in der Abteilung Volksbildung beim Rat des Kreises Pößneck ist deshalb so, dass die Mitarbeiter erklären, »mir ist schon alles egal«.

  • In Morlingshausen/Arnstadt ließ der Gemeinderat zur Kartoffelernte den »Notstand« ausrufen. Jede Familie musste eine Person zur Kartoffelernte schicken; andernfalls war die Zahlung einer Geldstrafe von 500 DM angedroht.

  • An der Oberschule in Basdorf/Bernau hatten sich nach einem Aufruf nur wenige Schüler zum Landeinsatz gemeldet. Daraufhin wurden eines Tages ohne Vorankündigung Lkw bestellt und die Schüler geschlossen zum Einsatz gefahren, ohne dass sie sich vorher zweckentsprechend umkleiden konnten.

  • In Gartz/Angermünde bestand 1960 eine Stadtgärtnerei mit neun Beschäftigten. Diese Gärtnerei sollte ab Januar 1961 als GPG arbeiten. Um zu erreichen, dass alle Beschäftigten Mitglied der GPG werden, hatte der Bürgermeister acht Tage vor Weihnachten diesen neun Personen das Arbeitsverhältnis gekündigt, was jedoch von der Bezirksleitung der Partei noch rechtzeitig rückgängig gemacht werden konnte.

Neben diesen Beispielen des administrativen und sektiererischen Verhaltens von Mitarbeitern des Staatsapparates in grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen, wurde jedoch auch wieder eine Vielzahl von Beispielen bekannt, wo gegenüber persönlichen Schwierigkeiten und Gesuchen an den Staatsapparat in herzloser und bürokratischer Weise entschieden wurde.

Dazu im Folgenden einige charakteristische Beispiele aus der Vielzahl vorliegender Hinweise:

  • Vom Institut für Kulturpflanzenforschung in Gatersleben/Aschersleben/Halle verließ Dr. [Name 3] illegal die DDR. Wie die Ermittlungen ergaben, war die [Name 3] in der physikalisch-physiologischen Abteilung des Institutes tätig. Diese Abteilung sollte aufgelöst werden, da angeblich keine weiteren Fachkräfte vorhanden waren und alle Bemühungen, Fachkräfte zu erhalten, ergebnislos verlaufen seien. Der [Name 3] wurde deshalb geraten, sich an anderen Einrichtungen zu bewerben, was sie bei fünf Instituten versuchte, aber in allen Fällen aufgrund angeblicher Planstellenkürzungen abschlägigen Bescheid erhielt. Da sie in ihren Bemühungen keine Unterstützung erhielt, verließ sie die DDR.

  • Aus dem VEB Buchbindereimaschinenwerk Leipzig wurde der Leiter des Entwicklungs- und Konstruktionsbüros, Ing. Chlebus flüchtig. Die Überprüfung der Ursachen der Flucht ergab, dass Chlebus vor der Zusammenlegung der beiden Betriebe VEB Bubima und VEB Falz- und Heftmaschinen zum VEB Buchbindereimaschinenwerk Technischer Leiter des erstgenannten Betriebes war. Nach der Zusammenlegung wurde er Leiter des Konstruktions- und Entwicklungsbüros im Werk II und somit dem Chefkonstrukteur vom Werk I unterstellt. Außerdem wurde er funktionsmäßig dem Leiter des Konstruktions- und Entwicklungsbüros des Werkes I gleichgestellt, was für ihn eine Zurückstufung bedeutete. Bei der Festlegung der Unterschriftsberechtigung für das Betreten und Verlassen beider Werkteile wurde er nicht berücksichtigt, sondern erhielt die Genehmigung erst nach längeren Streitigkeiten. Über diese schlechte Arbeitsweise der zentralen Leitung des Werkes verärgert, verließ er die DDR.

  • Aus dem RAW Eberswalde/Frankfurt/O. wurde der Leiter der Investabteilung, Ing. Schilde republikflüchtig. Schilde hatte sich mit der Übernahme der Funktion als Leiter der Investabteilung nicht einverstanden erklärt. Ungeachtet seiner Einwände wurde ihm jedoch diese Funktion übertragen. Daraufhin verließ er illegal die DDR.

  • Der Kreiszahnarzt von Angermünde/Frankfurt/O. Dr. med. dent. Seidel äußerte, nur noch bis Februar zu warten ohne sich über seine Absichten näher auszulassen. Wie die Ermittlungen ergaben, sind Ursache dieser Äußerung die unzumutbaren Wohnverhältnisse des Dr. Seidel. Er bewohnt mit seiner 6-köpfigen Familie eine Wohnung, die derart vom Schwamm befallen ist, dass bereits eine Treppe zusammenbrach und die Dielen zerfallen. Bisher blieben aber alle seine Bemühungen um eine andere Wohnung ohne Erfolg, obwohl andererseits auch bekannt ist, dass Dr. Seidel sehr aktiv für die Gesellschaft tätig ist und bei der Einrichtung der Kinderzahnstation einige Spielsachen und Einrichtungsgegenstände von eigenem Geld kaufte, da die erforderlichen Mittel dazu vom Rat des Kreises nicht genehmigt wurden.

  • Im Kreis Eberswalde/Frankfurt/O. herrscht unter den Ärzten große Unzufriedenheit über das Verhalten des Kreisarztes Dr. Mundt und es besteht die Gefahr, dass weitere R-Fluchten eintreten. Z. B. versuchte der Chefarzt der Inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses Eberswalde Dr. Joachimski seit ca. zwei Jahren einen Einzelvertrag zu erhalten. Dieser Vertrag ist vom fachlichen Standpunkt gerechtfertigt. Trotzdem führten die Absprachen mit Dr. Mundt nie zur Einigung. Erst im Dezember 1960 wurde – aufgrund einer erneuten Beschwerde an den jetzigen Vorsitzenden des Rates des Kreises – der Einzelvertrag mit Dr. J. abgeschlossen. Bei der feierlichen Überreichung des Einzelvertrages durch den Vorsitzenden des Rates des Kreises lehnte es der Kreisarzt Dr. Mundt ab, zugegen zu sein. Außerdem unterzeichnete er diesen Vertrag nicht, obwohl das seine Pflicht gewesen wäre. Dr. J. fühlt sich dadurch verletzt und in seiner Initiative gehemmt.

  • In ähnlicher Weise verhält sich der Kreisarzt Dr. Mundt auch anderen Ärzten gegenüber. So hat z. B. die Chefärztin der Kinderabteilung des Krankenhauses Eberswalde Dr. Heidenreich aufgrund dieser Auseinandersetzung ihr Arbeitsverhältnis gekündigt.

  • Durch den Genossen Breitfeld vom Rat des Kreises Eberswalde, Abteilung Gesundheitswesen, wurde mit einigen Ärzten bereits eine Aussprache durchgeführt. Dabei wurde dem einzigen Frauenarzt des Kreises Dr. [Name 4] durch den Genossen Breitfeld erklärt: »Uns ist bekannt, dass sie mit ihrer Ehefrau öfter nach Westberlin fahren. Wir möchten uns das verbieten.« [Name 4], der darauf zunächst nichts zu antworten wusste, war darüber sehr empört und erklärte, dass ihm die ganzen Verbote in der DDR lästig seien.

  • Im VEB Gaselan Fürstenwalde/Frankfurt/O. beschwerten sich die Arbeiter der Abteilung Galvanik schon längere Zeit über die schlechten Arbeitsbedingungen in dieser Abteilung. Durch eine unzureichende Ventilation sind die Arbeiter ständig den gesundheitsschädigenden Säuredämpfen ausgesetzt. Als es zu einer Aussprache darüber mit dem Sicherheitsinspektor Czernutzki kam, sagte dieser den Arbeitern: »Was wollt ihr denn, ihr habt hier doch eine Luft wie in einem Blumengarten.« Die Arbeiter waren darüber sehr empört und einige äußerten, ihr Arbeitsverhältnis zu kündigen.

Am stärksten kommt das herzlose Verhalten von Mitarbeitern des Staatsapparates gegenüber Wohnungssuchenden zum Ausdruck, ohne dabei Unterschiede zu treffen und besondere Härtefälle trotz vorhandener Schwierigkeiten schnell zu bereinigen.

  • So wohnt z. B. ein Arbeiter aus dem VEB Walzwerk Finow mit seiner Ehefrau und drei Kindern seit sieben Jahren in einer 1½-Zimmer-Wohnung. Seit vier Jahren liegt ein Antrag auf eine andere Wohnung beim Rat der Stadt Eberswalde vor. Obwohl mehrmals bereits Möglichkeiten bestanden hätten, wurde dieser Antrag nicht berücksichtigt. Daraufhin wandte sich der Arbeiter an den Staatsrat, von dem aus eine Aufforderung an den Rat der Stadt erging, dem Arbeiter eine entsprechende Wohnung zuzuweisen. Trotzdem hatte sich bis Ende Dezember 1960 noch nichts geändert.

  • Der Bauwirtschaftler [Name 5] vom VEB Straßenbau Greifswald verließ mit seiner Ehefrau und zwei Kindern illegal die DDR, da er seit vier Jahren mit seiner Familie ein Zimmer bewohnte und trotz wiederholter Bemühungen keinen anderen Wohnraum erhielt.

Beispiele dieser Art könnten noch beliebig erweitert werden.

Im Zusammenhang mit dem Wohnungsproblem wird darauf hingewiesen, dass, den Berichten zufolge, darüber größere Unzufriedenheit unter der Intelligenz in der Farben- und Filmfabrik in Wolfen und unter der Intelligenz an der Bergakademie Freiberg besteht. In Wolfen kam es deswegen bereits schon zu mehreren R-Fluchten, während an der Bergakademie Freiberg ein Teil der Angehörigen der Intelligenz zu »kündigen« beabsichtigt.

5. Feindzentralen und Organisationen, die sich mit Abwerbung befassen und Methoden der Abwerbung

Im Berichtszeitraum konnte wiederum durch wirksame Maßnahmen des MfS in zahlreichen Fällen verhindert werden, dass Fachkräfte durch den Gegner abgeworben wurden. Dadurch, wie auch durch die Anzahl der Beispiele, wo die Gründe erst nach erfolgter Flucht aufgeklärt wurden, konnte erneut bewiesen werden, dass sich der Gegner 1960 in besonders starkem Maße mit der Abwerbung von Fachkräften befasste. Dabei traten vor allem wieder westdeutsche Konzerne und Wirtschaftsunternehmen bzw. von diesen gekaufte Mittelsmänner und Republikflüchtige in Erscheinung. Die Methoden waren die gleichen wie im Bericht 724/60 vom 28.10.[1960] bereits dargelegt. Lediglich in einem Falle konnte nachgewiesen werden, dass die Abwerbung durch einen im Auftrag handelnden Rückkehrer und in einem anderen Falle durch einen westdeutschen Ingenieur erfolgte, welcher sich zeitweilig beruflich in der DDR aufhielt.

Neu war ferner die Tatsache, dass auf dem Tbc-Ärztekongress in Freiburg/Breisgau erstmalig in aller Offenheit – mittels Lichtbildprojektion – Bürger der DDR aufgefordert wurden, in Westdeutschland zu bleiben. Mit dieser Aufforderung wurde ein Kredit in Höhe von 35 000 DM West als Lockmittel geboten.

Im Einzelnen wurden in der Berichtszeit folgende Bestrebungen von Konzernen, Wirtschaftsunternehmen und anderen Zentralen bekannt, Fachkräfte aus der DDR abzuwerben:

  • Im Auftrage der Firma Brown, Boveris [eigentl. Boveri] & CieAG/Mannheim 1 versucht z. B. der republikflüchtige Ing. [Name 6] brieflich den Betriebsleiter des VEB Kraftwerkes Finow, Köppen, abzuwerben. Als Anlage zu diesem Brief übersandte [Name 6] dem Köppen ein Stellenangebot der Firma Brown, Boveris [eigentl. Boveri] & Cie, Mannheim 1, aus dem ersichtlich ist, dass dieser Elektrokonzern für seine verschiedensten Zweigbetriebe 41 Ingenieure sucht.

  • Die Uhren- und Apparatefabrik Schlenker & Co., Schwenningen/Bad[en]-Württemberg, ließ durch den republikflüchtigen [Name 7] Arbeitskräfte in der DDR abwerben. [Name 7] kam zu diesem Zweck 1959 als Rückkehrer getarnt in die DDR und flüchtete 1960 mit zwei abgeworbenen Jugendlichen erneut nach Westdeutschland. In Westdeutschland setzte er sich sofort mit der Uhren- und Apparatefabrik Schlenker telefonisch in Verbindung. Daraufhin wurden er und die zwei Jugendlichen mit einem Auto von der Grenze abgeholt und in bereitgestellte Quartiere gebracht.

  • Der in den Siebel-Werken, Donauwörth als Hauptentwicklungsleiter für Innenausstattung und Bestuhlung beschäftigte republikflüchtige [Name 8] warb den im VEB MAB Schkeuditz als Abteilungsleiter für Innenausrüstung tätig gewesenen Ing. Feierabend ab. Feierabend war von [Name 8] während eines Besuches in Frankfurt/M. aufgesucht worden und flüchtete kurze Zeit nach seiner Rückkehr in die DDR. Beide hatten bereits vor 1945 in den damaligen Siebel-Flugzeugwerken in Halle zusammen gearbeitet.

  • Wie die Untersuchungen über die Gründe der Republikflucht des Ing. [Name 9] aus dem VEB Spezialbau Leipzig ergaben, wurde [Name 9] während seiner Tätigkeit als Bauführer auf der Außenstelle Boitzenburg von einem westdeutschen Ingenieur aufgesucht, der ihm eine Stelle bei der Firma Heimsoth/Hildesheim anbot. Vier Wochen danach, am 17.10.1960, flüchtete er gemeinsam mit seiner Braut, die im gleichen Betrieb tätig war, nach Westdeutschland.

  • Der Labortechniker [Name 10] aus dem VEB Vakutronik Dresden wurde durch einen Republikflüchtigen für die Fa. Blaupunkt in Hildesheim abgeworben. Dabei wurde [Name 10] nach erfolgter Flucht sofort vom französischen Geheimdienst angesprochen und angehalten, brieflichen Kontakt zu seinem ehemaligen Arbeitskollegen in Dresden aufzunehmen. Es ist anzunehmen, dass [Name 10] weitere Abwerbungen vorbereiten soll.

  • Der republikflüchtige ehemalige Werkleiter des VEB Verbundnetz Ost, Dresden, Dipl. Ing. Getreuer, jetzt beschäftigt bei der Energieversorgung Schwaben, versuchte einen Ingenieur, der den G. in Westdeutschland besuchte, damit abzuwerben, dass er ihm sofort eine Stelle anbot. Er betonte, dass er noch für ca. 50 Ingenieure Arbeitsmöglichkeiten beschaffen könnte.

  • Wie Ermittlungen über republikflüchtige Besamungstechniker aus den Bezirken Erfurt und Frankfurt/O. ergaben, sind diese zum überwiegenden Teil bei Dr. [Name 11] in Neustadt an der Eidsch beschäftigt. Dieser [Name 11] hat dort eine eigene Besamungsstation, für die er Besamungstechniker aus der DDR abwirbt, da diese in der Ausbildung den Besamungstechnikern Westdeutschlands überlegen seien. Er hat die bei ihm beschäftigten republikflüchtigen Besamungstechniker aufgefordert, ihre ehemaligen Kollegen in der DDR anzuschreiben und zur Flucht aufzufordern. [Name 11] bezahlt diesen Kräften ein monatliches Gehalt von 600 DM West. Das ist mehr, als diese Kräfte gegenwärtig in der DDR verdienen.

  • Im VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« ergaben Untersuchungen über die Gründe der Republikflucht von Angehörigen der jungen Intelligenz, dass diese Kräfte jetzt bei Professor Dr. Asinger an der Technischen Hochschule Aachen tätig sind. In allen Fällen handelt es sich dabei um Angehörige der jungen Intelligenz, die noch bei Prof. Dr. Asinger promoviert haben. Asinger hatte vor seinem legalen Verzug nach Aachen seit 1958 einen Lehrstuhl an der Technischen Hochschule Dresden inne und war zuvor auch in den Leuna-Werken tätig gewesen. Da er außerdem einige geflüchtete Chemiker bei sich in Aachen beschäftigt, besteht der dringende Verdacht, dass er noch weitere Kräfte abwirbt.

  1. Zum nächsten Dokument Vorfälle mit westlichen Militärmissionen

    10. Februar 1961
    Bericht Nr. 62/61 über die feindliche Tätigkeit der westlichen Militärverbindungsmissionen (MVM) im Gebiet der DDR

  2. Zum vorherigen Dokument Streik in der Kettenfabrik Barchfeld

    2. Februar 1961
    Einzel-Information Nr. 55/61 über Arbeitsniederlegungen im VEB Kettenfabrik Barchfeld, Kreis Bad Salzungen/Suhl