Reaktion der DDR-Bevölkerung auf den Bau der Mauer
15. August 1961
[Bericht] Nr. 427/61 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR und des demokratischen Berlin auf die Maßnahmen des Ministerrates
Nach zahlreichen und übereinstimmenden Hinweisen haben die Diskussionen über die Maßnahmen des Ministerrates einen sehr großen Umfang angenommen und werden von allen Bevölkerungskreisen geführt.
Dabei überwiegen eindeutig positive Stellungnahmen, die vor allem durch folgende Zustimmung und Genugtuung beinhaltende Argumente charakterisiert werden:
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Es sei höchste Zeit gewesen; die Maßnahmen hätten schon früher ergriffen werden müssen. (In einigen Fällen – u. a. wurde es Kampfgruppenmitgliedern zugerufen – wurde gefordert, Provokateuren gegenüber hart durchzugreifen.)
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Die Maßnahmen schieben endlich der R-Flucht einen Riegel vor und legen den Grenzgängern1 und Schiebern das Handw[erk]. (Letztere Meinung ist besonders stark im demokratisch[en] Berlin und in den Bezirken Potsdam, Frankfurt und z. [T.] auch Cottbus anzutreffen.)2
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Die Maßnahmen seien ein notwendiger Schlag gegen die Agententätigkeit und gegen die von Westberlin ausgehende Unterminierung der DDR.
Solche und ähnliche positive Diskussionen gab es vor allem dort, wo organisierte Aussprachen und Kurzversammlungen durchgeführt wurden. Bezeichnend für die gute Reaktion ist ferner die Tatsache, dass einmal in den am Sonntag arbeitenden Betrieben (Kraftwerk Klingenberg, BVG, BEWAG, Reichsbahn usw.) ein normaler und völlig reibungsloser Arbeitsablauf erfolgte und dass zum anderen auch am Montag und Dienstag die Arbeitsaufnahme in den Betrieben und Einrichtungen völlig ordnungsgemäß und ohne Schwierigkeiten geschah. Es gab weder Ansammlungen und Zusammenrottungen, noch andere provokatorische und feindliche Erscheinungen.
In verschiedenen Fällen war jedoch die grundsätzlich positive Haltung von gewissen Tendenzen des Abwartens und der Unsicherheit begleitet.
Für die abwartenden und unklaren Diskussionen sind folgende Meinungen charakteristisch:
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Wir wollen erst einmal sehen, wie die ergänzenden Verordnungen bezüglich des Besuches von Westberlin aussehen werden.
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Dieser Zustand kann Jahre dauern, da die Westmächte keine Zugeständnisse machen werden.
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Durch die Kündigung des innerdeutschen Handels werden Auswirkungen entstehen, die von der DDR und den sozialistischen Ländern nicht aufgefangen werden können.
Schwankungen treten vor allem in Kreisen des Mittelstandes und der LPG-Bauern auf.
Negative Diskussionen zeigen sich in den Bezirken der DDR überwiegend als Einzelstimmen, während sie im demokratischen Berlin einen etwas größeren, aber keineswegs übermäßigen Umfang aufweisen. Allgemein ist jedoch immer wieder festzustellen, dass bei negativen Diskussionen und Erscheinungen sowohl in der DDR als auch im demokratischen Berlin besonders Jugendliche hervortreten.
Die negativen Stimmen zeigen eine bestimmte Konzentration auf folgende »Argumente«, die oft mit den gegnerischen Hetzparolen identisch sind und mit denen versucht wird, die Maßnahmen der Regierung zu verfälschen, zu verzerren und zu überspitzen, z. B. durch
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Vergleiche mit der Situation vom 17.6.1953.
Besonders provokatorisch auftretende Einzelpersonen steigerten diese Hetze bis zu den Behauptungen,
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dass nun die »KZ-Lager« nicht ausreichen würden,
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dass sich eine »Ordnung mit Stacheldraht« nicht lange halten könne und
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dass sie in Anlehnung an die westliche Argumentation die Maßnahmen der DDR mit faschistischen Maßnahmen zu vergleichen suchen.
In Einzelfällen wurde versucht, mit Behauptungen über einen bestehenden Ausnahmezustand Verwirrung zu stiften.
Weitere negative Argumente, die jedoch nicht in einem sehr großen Umfange auftraten, sind:
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Die Maßnahmen der Regierung der DDR hätten die »Freiheit« wesentlich eingeschränkt.
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Forderung nach »freien Wahlen« (hauptsächlich von Jugendlichen, verschiedentlich aber auch von Gruppen von Arbeitern – z. B. Zementwerk Rummelsburg – gestellt).
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Die Maßnahmen der DDR vertieften die »Spaltung«, und die Regierung der DDR sei nicht an der Lösung der Deutschlandfrage interessiert.
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Die Bevölkerung der DDR dürfe sich die Maßnahmen nicht gefallen lassen.
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Diese Maßnahmen würden nicht von langer Dauer sein (teilweise mit der Begründung, dass sich die Westmächte das Vorgehen der Regierung der DDR nicht bieten lassen würden und die DDR aufgrund ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit solche Maßnahmen sowieso nicht aushalten könne).
Negative Diskussionen wurden ferner durch eine Reihe Unklarheiten und Unzufriedenheit ausgelöst, besonders über
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die Tatsache, dass keine Verwandten- und Bekanntenbesuche in Westberlin mehr möglich sind, während Westberliner Bürger ohne Schwierigkeiten das demokratische Berlin besuchen könnten. Die Maßnahme sei deshalb nicht konsequent genug,
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die Unmöglichkeit, illegal in Westberlin einzukaufen.
Unklarheiten traten zu einigen Fragen der Verkehrswege auf, besonders wie die Arbeitsstellen im demokratischen Berlin von Potsdam, Oranienburg, Falkensee u. a. Orten aus erreicht werden können. (Oft konnte von der Trapo den Reisenden keine genügende Auskunft darüber gegeben werden.)
Eine weitere Form der auf Unklarheiten beruhenden negativen Diskussionen ist die Befürchtung,
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dass die Maßnahmen der DDR die Kriegsgefahr erhöhen,
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dass mit Zusammenstößen und ernsten Auseinandersetzungen im demokratischen Berlin zu rechnen sei,
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dass insgesamt eine »Missstimmung« hervorgerufen würde und
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dass sich die »Missstimmung« noch weiter verstärken könne, wenn der innerdeutsche Handel eingestellt werde.
Verschiedene dieser Diskussionen sind mit Spekulationen einer »Mobilisierung« und »Einführung der Wehrpflicht«3 und mit Gerüchten verbunden. Im Kreis Neuhaus/Suhl kursierte z. B. das Gerücht, dass nun eine stärkere Absicherung der Staatsgrenze West der DDR erfolge und die Ortschaften an der Staatsgrenze evakuiert würden. Weitere in den Bezirken der DDR und im demokratischen Berlin auftretende Gerüchte haben meist zum Inhalt, dass aufgrund der Maßnahmen des Ministerrates mit einem Geldumtausch zu rechnen sei.
Die Reaktion speziell von Angehörigen der Intelligenz zu den Maßnahmen der Regierung der DDR lässt sich zwar noch nicht umfassend einschätzen, weil die abwartende Haltung dieser Kreise noch immer weit verbreitet ist, jedoch lassen die vorliegenden Äußerungen bereits erkennen, dass im Gegensatz zu Kreisen der medizinischen Intelligenz bei den Angehörigen der technischen Intelligenz in größerem Maße negative bzw. abwartende und unklare Stellungnahmen zu verzeichnen sind.
Diese unklaren und abwartenden Stellungnahmen sind zu einem großen Teil mit der Frage verbunden, inwieweit die Angehörigen der Intelligenz die Möglichkeit haben werden, nach Westberlin oder Westdeutschland zu Besuchen von Verwandten und zu wissenschaftlichen Kongressen zu reisen.
In den positiven Stellungnahmen der Intelligenz wird u. a. zum Ausdruck gebracht,
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dass keine Provokationen auftreten werden und die Lage sich in einigen Tagen wieder normalisieren wird, wenn die Ausgabe der Passierscheine in Kraft tritt,
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dass Westberliner das demokratische Berlin betreten können, sei eine kluge Maßnahme,
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dass die Maßnahmen schon früher hätten erfolgen müssen, dann wären der DDR viele Schwierigkeiten erspart geblieben.
Die negativen Diskussionen aus Kreisen der technischen Intelligenz – u. a. VEB Berlin-Projekt, ZLF Berlin-Treptow, Metallprojektierung Berlin sowie aus den verschiedensten Instituten der Deutschen Akademie der Wissenschaften, der Humboldt-Universität – haben Folgendes zum Inhalt:
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Die Regierung der DDR habe nur Angst, dass noch mehr Bürger die DDR verlassen.
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Ein Staat, der es nötig habe, seine Menschen mit Stacheldraht und Panzern in den Grenzen zu halten, sei eine fragwürdige Erscheinung – es wäre besser gewesen, mit diesen harten Maßnahmen bis zum Friedensvertrag zu warten.
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Es sind diktatorische, aus der Not heraus geborene Maßnahmen zur Abwehr der Republikflucht.
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Die Maßnahmen und die Bajonette sind nur gegen die friedliebenden Menschen der DDR gerichtet – wenn schon eine Ordnung erfolgt, dann sollten auch die Westberliner das demokratische Berlin nicht mehr betreten dürfen.
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Jetzt werden bei der Behandlung der Menschen in der DDR bestimmt andere Seiten aufgezogen, da niemand mehr die DDR verlassen könne.
In Westberlin wohnende Wissenschaftler und Ärzte von der Akademie der Wissenschaften und der Charité wollen kündigen, da ihnen die Lohnausgleichsstelle kein Westgeld mehr auszahlen würde.