Situation in der Nationalen Volksarmee
8. April 1961
Bericht Nr. 192/61 über einige Schwächen innerhalb der Nationalen Volksarmee
Die nachfolgenden Hinweise sind zur besseren Einschätzung der Lage innerhalb der NVA und zur evtl. Auswertung für die zentrale Parteiaktivtagung der NVA gedacht.1
Es soll nur auf einige wesentliche Probleme aufmerksam gemacht werden, ohne Anspruch auf vollständige Einschätzung aller Seiten der Gesamtsituation in der NVA zu erheben.
Nach den dem MfS vorliegenden übereinstimmenden Hinweisen besteht eine der Hauptschwächen in der noch nicht den Erfordernissen entsprechenden politisch-ideologischen Erziehungsarbeit der NVA-Angehörigen. Diese Frage erhält insofern noch eine erhöhte Bedeutung, weil der Gegner seit einiger Zeit verstärkt versucht, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Angehörigen der NVA im feindlichen Sinne zu beeinflussen.
Die Forcierung der ideologischen Diversion wurde besonders deutlich festgestellt, seit Genosse Walter Ulbricht die aggressiven Ziele des westdeutschen Militarismus auf der internationalen Pressekonferenz entlarvte2 und seit dem Übertritt einer Reihe von Bundeswehrangehörigen in die DDR.3
Die feindlichen Beeinflussungsversuche zeigen sich z. B. schon in der erhöhten Anzahl spezieller Hetzsendungen gegen die NVA und andere bewaffnete Organe der DDR durch die westlichen Rundfunkstationen (besonders RIAS – SFB) und durch das Westfernsehen. So wurden im Jahre 1960 44 derartige umfangreiche Hetzsendungen gebracht, die meisten davon in der 2. Hälfte des Jahres, allein in der Zeit vom 1.1. bis 25.3.1961 waren es bereits 23 solcher Hetzsendungen.
Hinzu kommen die Herausgabe und Verschickung spezieller Hetzschriften gegen die NVA und das direkte Anschreiben von Offizieren, besonders auch Polit-Offizieren und Zivil-Angestellten der NVA mit dem Versuch einer Kontaktaufnahme.
Zur »Beweisführung« seiner Hetzargumente nutzt der Gegner dabei besonders die Fahnenfluchten von Malikowski und Wedmann und die Aburteilung des Verräters und Spions Smolka aus.4
Neben der Entstellung von Grundfragen der Politik der Partei und Regierung und der internationalen politischen Ereignisse, durch die er politisch-ideologische Unklarheiten in den Reihen der NVA hervorrufen und das Vertrauen in die Richtigkeit der Politik von Partei und Regierung untergraben will, benutzt er eine Reihe gegen die Geschlossenheit und Kampfkraft der NVA gerichteten Argumente, z. B.:
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Verbreitung der These, dass die Forderung nach Erhöhung der Einsatz- und Gefechtsbereitschaft in Widerspruch zu den von der Regierung der DDR vorgeschlagenen Abrüstungsmaßnahmen stünde.
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Propagierung angeblich ernsthafter Differenzen zwischen den Polit- und Operativ-Offizieren und Forderung nach einer Revidierung des ZK-Beschlusses vom 14.1.1958.5
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Beeinflussungsversuche, schwankende Offiziere zur Passivität, zur persönlichen Rückversicherung und schließlich zur Kontaktaufnahme mit dem Gegner oder zur Fahnenflucht zu verleiten.
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Untergrabung des Vertrauensverhältnisses zwischen der Bevölkerung der DDR und den bewaffneten Organe mit dem Ziel, Widersprüche zwischen ihnen zu erzeugen, die politisch-moralische Geschlossenheit zu gefährden und das Werben junger Menschen für den Dienst in den bewaffneten Kräften der DDR zu erschweren, u. a. mit der Losung »Der Frieden wird am Arbeitsplatz verteidigt«.
Wenn auch solche feindlichen Argumente in Diskussionen von Angehörigen der NVA nur in Einzelfällen auftreten und insgesamt eingeschätzt werden muss, dass die überwiegende Mehrzahl aller NVA-Angehörigen ehrlich und mit Überzeugung ihren Ehrendienst versieht und zur Politik von Partei und Regierung steht, gibt es doch eine ganze Reihe zum Teil ernsthafter Erscheinungen, auf die noch näher eingegangen wird. Diese haben ihre Ursachen zum Teil zwar auch in noch nicht genügender politischer Klarheit und werden offensichtlich durch das noch häufig anzutreffende Abhören westlicher Rundfunksender durch Angehörige der NVA mit hervorgerufen, werden aber auch in starkem Maße durch verschiedene Unzulänglichkeiten in der Behandlung der NVA-Angehörigen, im Verhältnis zwischen Offizieren und Mannschaften usw. begünstigt und könnten zum großen Teil durch eine bessere Arbeit mit den Menschen im Sinne der Staatsratserklärung vermieden werden.
Wie zahlreiche im wesentlichen übereinstimmende Hinweise, Beispiele und Untersuchungsergebnisse beweisen, besteht dabei die größte Schwäche in der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit, die oft vernachlässigt oder nur formal und nicht individuell auf der Grundlage des notwendigen Vertrauensverhältnisses durchgeführt wird.
Offensichtlich liegen die Hauptursachen dafür in der Unterschätzung dieser Aufgabe durch die Offiziere und Unteroffiziere, teilweise in den bei ihnen selbst noch vorhandenen Unklarheiten und Schwankungen, bzw. in einer gewissen Bequemlichkeit, Auseinandersetzungen zu führen und wirklich erzieherisch einzuwirken.
Dies zeigt sich u. a. besonders in folgenden Erscheinungen, die als allgemein verbreitet einzuschätzen sind:
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Der Polit-Unterricht wird oft als einzige Methode der politisch-ideologischen Überzeugungsarbeit angesehen. Darüber hinaus wird er teilweise formal und wenig interessant gestaltet, geht zu wenig auf die aktuellen politischen Ereignisse und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen ein und wird nicht immer zu Auseinandersetzungen mit feindlichen Argumenten benutzt.
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Auch außerhalb des Polit-Unterrichtes gehen Offiziere ideologischen Auseinandersetzungen mit den Soldaten aus dem Wege und zum Teil verhalten sie sich auch untereinander versöhnlerisch. So wird z. B. nicht energisch und mit der notwendigen Aufklärung verbunden gegen das Abhören von Westsendern eingeschritten.
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Die Vorgesetzten und Polit-Offiziere kennen nur ungenügend die ihnen untergebenen Angehörigen der NVA, sind nicht oder nur wenig über ihre persönlichen Verhältnisse, ihre Herkunft, Erziehung, berufliche Entwicklung, Fähigkeiten, Neigungen usw. informiert. Dadurch sind sie oft nicht in der Lage, ein richtiges Vertrauensverhältnis herzustellen und individuell auf die verschiedensten Belange ihrer Untergebenen zu reagieren.
In vielen Fällen kümmern sich die Vorgesetzten nach Dienstschluss nicht mehr um ihre Untergebenen, sondern sind bemüht, pünktlich ihre Freizeit einzuhalten, sodass seitens der Soldaten von einer »17.00-Uhr-Bewegung« der Vorgesetzten gesprochen wird. Das gleiche trifft für die Sonn- und Feiertage zu, wo sich die Soldaten meist selbst überlassen sind, oft auch ohne für kulturelle oder sonstige Betreuung zu sorgen. Als anderes Extrem tritt in Erscheinung, dass die Soldaten nach Dienstschluss mit zu vielen Aufgaben betraut werden, wie verschiedene Zirkel, zahlreiche Versammlungen, NAW-Einsatz und viele andere gesellschaftliche Arbeiten mehr. Auch dabei wird wenig mit Überzeugung gearbeitet, sondern die Teilnahme an der gesellschaftlichen Arbeit »befohlen«, sodass ein großer Teil der Soldaten zwar teilnimmt, aber ohne die notwendige Lust und Einsicht.
Es sollen hier nur einige Beispiele von vielen angeführt werden, die deutlich zeigen, wie die politisch-ideologische Erziehungsarbeit gröblichst vernachlässigt wurde.
Oltn. [Name 1] vom Motorisierten Schützenrgt. 2 sprach sehr oft dem Alkohol zu und hatte laufend Beziehungen zu anderen Frauen, obwohl er verheiratet war. Dies war sowohl der (Btl.-), der Rgt.- und beiden Parteileitungen als auch dem gesamten Regiment bekannt. Am 7. Oktober 1960 wurde der Oltn. [Name 1] mit der Verdienstmedaille der NVA in Bronze ausgezeichnet. Nach dieser Auszeichnung, die heftige Diskussion mit sich brachte, wollte keiner den Oltn. [Name 1] für diese Auszeichnung eingereicht haben. Von der Leitung des Bataillons und auch von der Parteileitung diskutierte man dann so, dass man wohl die gesamte Einheit, nicht aber den Oltn. [Name 1] persönlich ausgezeichnet habe.
Am 14.1.1961 wurde der Oberwachtmeister [Name 2], Hauptfeldwebel in der 6. Batterie des Flak-Rgt. 5, unter Mitnahme einer Pistole Makarow, 40 Schuss Pistolenmunition, 5 632 DM Bargeld und 1 760 DM in Aufbaumarken fahnenflüchtig.
[Name 2] wurde von seinen Vorgesetzten ständig positiv eingeschätzt, 30-mal belobigt und als bester Hauptfeldwebel des Regiments bezeichnet. In Wirklichkeit führte er ein völlig unmoralisches Leben und unterhielt, obwohl er verheiratet war, ein intimes Verhältnis zur Frau eines entlarvten Spions und nahm laufend übermäßig Alkohol zu sich. Dadurch geriet er in finanzielle Schwierigkeiten. Um sich zusätzlich Geld zu verschaffen, unterschlug er in gewissenloser Weise Gehälter, sowie eine große Menge Verpflegungs- und Spargelder, die ihm mehrere Batterieangehörige anvertraut hatten. Er entstammte einer faschistischen Familie und wurde im faschistischen Sinne erzogen. [Name 2] bedauerte, dass der Faschismus zerschlagen wurde, denn er hätte dort gute Aussichten gehabt und wäre jetzt sicher schon ein hoher Offizier, da er einst bei einem »Führertreffen« als »Bester Pimpf Deutschlands« bezeichnet worden war. Er las faschistische Bücher. Bei der Erziehung der Batterie wandte er faschistische Methoden an. Die Angehörigen des Lehrganges für Neueinstellungen mussten auf einem Bein stehend ein Kinderlied singen. Bei der Sportübung »Liegestütz« hielt [Name 2] verschiedenen Genossen ein aufgeklapptes Taschenmesser unter den Bauch, damit sie den Körper richtig durchdrücken. Bei Schrankkontrollen zerschlug er vorgefundene Bierflaschen und unsaubere Tassen. In der 6. Batterie, in der er anschließend Dienst versah, setzte er seine faschistischen Erziehungsmethoden fort, wobei er vom Kommandeur und dem Polit-Stellvertreter noch ermuntert wurde. Die Angehörigen der Batterie wurden von ihm angebrüllt und viele bestraft. Sie verloren dadurch das Vertrauen zur Leitung und zu den Vorgesetzten.
Ebenso typisch für das teilweise formale Verhältnis zwischen den Vorgesetzten und den Einheiten sind die folgenden Beispiele.
In der 4. Kompanie des motorisierten Schützenregiments 2 kannten von zehn befragten Soldaten drei nicht den Regimentskommandeur, fünf nicht den Polit-Stellvertreter und fast alle nicht andere hohe Vorgesetzte, obwohl ein Teil der Soldaten bereits im 2. Dienstjahr stand und die Kompanie als »beste Kompanie« eingeschätzt wurde. Auf die Frage, warum sie ihre Vorgesetzten nicht kennen, antworteten die Soldaten: »Wir haben sie höchstens mal beim Regimentsappell gesehen.«
Im gleichen Regiment führten einige Vorgesetzte nur dann Aussprachen mit den Soldaten, wenn sie als Diensthabende eingeteilt waren und somit keine Freizeit dazu benötigten.
Als es im Sommer 1960, bedingt durch die Trockenheit in der DDR, Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung mit Butter gab, wurden die Soldaten der Dienststelle der NVA in Weißenfels davon überzeugt, dass es notwendig ist, dreimal in der Woche anstatt Butter Margarine zur Verpflegung auszugeben. Dabei wurde betont, dass es sich nur um eine kurzfristige Maßnahme handeln würde. Ohne in der Folgezeit mit den Soldaten der genannten Dienststelle darüber zu sprechen, wurde dieser Zustand bis zur heutigen Zeit beibehalten. Die Folge davon war, dass es unter den Soldaten zu Verärgerungen bezüglich der Verpflegung in der NVA kam und dass darüber hinaus die Margarineportionen kiloweise in die Abfalleimer geworfen wurden.
Die Unterschätzung der Erziehungsarbeit und eines gesunden Verhältnisses zwischen den Vorgesetzten und den Angehörigen der von ihnen geleiteten Einheiten geht mit aller Deutlichkeit auch daraus hervor, dass im Jahre 1960 ca. ⅔ aller NVA-Angehörigen disziplinarisch bestraft wurden. Das bedeutet gleichzeitig, dass dieser offensichtliche Missbrauch von Disziplinarbestrafungen in den weitaus überwiegenden Fällen als einziges Erziehungsmittel angesehen wird. Dabei wurde in den verschiedensten Fällen festgestellt, dass diese einseitige Disziplinarpraxis durch:
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mangelnde Ursachenforschung bei Disziplinarverstößen,
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Nichtberücksichtigung der individuellen Umstände,
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das Bestreben der Vorgesetzten, ihre Autorität auf diese Weise zu heben,
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ungerechtfertigte und falsche Befehlsgebung, die bei Nichtausführung Bestrafung zur Folge hat,
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mangelnde vorbeugende Tätigkeit und ungenügende Auswertung von Disziplinarverstößen in den Einheiten
charakterisiert wird.
Auch in den Partei- und FDJ-Einheiten wird sich nicht genügend mit Disziplinarverstößen auseinandergesetzt, um von dieser Seite erzieherisch einwirken zu können.
Es liegen eine ganze Reihe Beispiele vor, wo Soldaten wegen falscher Disziplinarpraxis (u. a. auch Drohung mit dem Staatsanwalt) das Vertrauen zu den Vorgesetzten verloren und teilweise aus Angst vor Bestrafung fahnenflüchtig wurden.
In verschiedenen anderen Fällen versuchten Unteroffiziere und Offiziere die Überzeugungs- und Erziehungsarbeit mit Maßnahmen und Methoden zu ersetzen, die nicht unseren Prinzipien der Erziehung und Ausbildung der Armee-Angehörigen entsprechen.
So wurden z. B. in der 2. Batterie der 1. Abteilung des 3. Artillerieregiments in dem ehrlichen Bestreben, beste Batterie des Regiments zu werden, ohne Berücksichtigung möglicher Auswirkungen unter häufiger Drohung mit Ausgangssperre Methoden angewandt, von denen sich einige in keiner Weise von den »Barras«-Methoden der Vergangenheit unterscheiden.
Zwei Kanoniere dieser Einheit wurden wegen dieser als Schikane empfundenen Maßnahmen fahnenflüchtig. (Obwohl die Angaben dieser beiden Kanoniere auch von anderen Soldaten der 2. Batterie bestätigt wurden, wird dieser Sachverhalt vom Batteriechef, Hauptmann Jendrik, bestritten. Vom MfS werden zur Aufdeckung aller Umstände weitere Untersuchungen in dieser Angelegenheit geführt.)
Auch hier sollen nur einige dieser Vorkommnisse genannt werden.
Vorwiegend vom Gruppenführer, Unteroffizier [Name 3], und vom Zugführer, Unteroffizier [Name 4], wurde häufig Ausgangssperre verhängt, wenn zum Beispiel bei der Ausbildung ein Soldat nicht ein Hindernis der Hindernisbahn überwinden konnte, wenn ein Soldat in der theoretischen Ausbildung eine Frage nicht beantworten konnte oder wenn eine Stube nicht so sauber war, wie es die Vorgesetzten verlangten. Außerdem beschimpften sie die Soldaten und beleidigten sie mit gemeinen Redensarten. Dem Kanonier [Name 5] wurde vom Hauptwachtmeister [Name 6] der Ausgang gestrichen, weil die Spitze eines Riemens am Tornister, der zum Befestigen der Zeltbahn dient, nicht wie vorgeschrieben in Marschrichtung zeigte. Vom Batteriechef, Hauptmann Jendrik, wurde dem Kanonier [Name 7] der Ausgang gestrichen, weil er bei einem 1000-Meter-Lauf nicht die vorgeschriebene Zeit erreichte. Dabei wurde ihm vorgeworfen, dass er wahrscheinlich die Ausbildung sabotieren will. Um die »innere Ordnung zu verbessern«, mussten die Soldaten bis spät nachts ihre Stuben säubern und es wurde für 23.00 Uhr nachts Stubendurchgang angesetzt. Als die Gruppe, der [Name 8] und [Name 7] angehörten, auffiel, wurde der gesamten Stube vom Zugführer für 14 Tage der Ausgang gestrichen. Auf den Einwand der Soldaten, dass es doch keine Kollektivbestrafung gäbe, wurde ihnen erwidert, dies sei keine Bestrafung, sondern »eine Erziehungsmaßnahme«.
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, dass von den Soldaten dieser Einheit allgemein kritisiert wird, dass die Batterie-Leitung ungenügende Verbindung zu den Soldaten hat und sich nur selten ein Offizier in den Stuben der Soldaten sehen lässt und selbst nur dann, um die Ordnung der Stuben zu kritisieren.
Die Gesamtheit der Schwächen und Mängel in der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit, in der Arbeit mit den Menschen, trägt zu einem nicht zu unterschätzenden Teil mit dazu bei, dass einige ernsthafte Erscheinungen innerhalb der NVA nicht in dem notwendigen Maße zurückgedrängt werden und so immer wieder Ansatzpunkte für eine gegnerische ideologische Beeinflussung schaffen.
Bei diesen ernsthaften Erscheinungen handelt es sich in der Hauptsache um ein Ansteigen der Fahnenfluchten, um eine relativ hohe Zahl von Selbstmorden, um mangelnde Wachsamkeit und Sorglosigkeit, beispielsweise im Umgang mit Verschlusssachen, oder um die Preisgabe militärischer Geheimnisse durch Schwatzhaftigkeit und Angeberei.
So flüchteten z. B. im Jahre 1960 insgesamt 69 NVA-Angehörige (15 Offiziere, 15 Uffz. und 39 Soldaten) und 67 Zivilangestellte der NVA und im I. Quartal 1961 wurden bereits auch wieder 25 NVA-Angehörige (1 Offz., 5 Uffz. und 19 Sold.) und zehn Zivilangestellte flüchtig. Dabei ist typisch, dass 71 % aller Fahnenflüchtigen der Arbeiterklasse entstammen, also keineswegs irgendwelche klassenmäßig bedingte Umstände vorlagen. Im Gegenteil lagen in der Mehrzahl solche Anlässe vor, die mithilfe des Kollektivs und der Vorgesetzten ohne weiteres hätten beseitigt werden können. Z. B. familiäre Schwierigkeiten, Angst vor Strafe, Unlust zum Dienst, Beeinflussung durch westliche Sender u. Ä. So gehörten auch 80 % der im Jahre 1960 fahnenflüchtig Gewordenen ein Jahr und länger der NVA an, 50 % waren Mitglieder der FDJ und ⅓ Mitglied der SED, ohne dass wirksame Erziehungsmaßnahmen oder helfende Unterstützung erfolgte.
Uffz. [Name 9] z. B. gehörte der NVA seit 10.10.1959 an, war Geschützführer im 29. MSR Prora, Ausbilder von Offiziersschülern und FDJ-Sekretär eines Zuges. Er hörte – wie auch die anderen Angehörigen seines Zuges – ständig Radio Luxemburg und nahm zu diesem Zweck sogar sein Kofferradio in den Waschraum und auf die Toilette mit. Des öfteren verfiel er auf der Unteroffiziersstube in »Rock and Roll6-Ekstase«. Als in der Batterie ein Forum gegen das Hören von Westsendern – besonders Radio Luxemburg – durchgeführt wurde, nahm kein einziger Angehöriger dieser Einheit positiv Stellung. Die Unteroffiziere nahmen den Politunterricht und Westschlager auf Tonband auf, ließen beides hinterher einige Male abspielen und machten sich darüber lustig. Der Leitung dieses Regiments waren diese Zustände bekannt, es erfolgte aber keinerlei politisch-erzieherische Einflussnahme. Uffz. Schröder war schließlich so ideologisch beeinflusst, dass er am 6.2.1961 fahnenflüchtig wurde.
Der bekannte Meister des Sports (Reiten) Ultn. Weidner, Helmut, ASK »Vorwärts«, Potsdam, der unsere Republik schon mehrfach erfolgreich im Ausland vertreten hat, bewohnte seit vier Jahren mit seiner Ehefrau und zwei Kindern eine menschenunwürdige Wohnung. In dieser war die Gasleitung undicht, sodass nicht geheizt werden durfte, Ratten ließen nachts die Kinder nicht schlafen, die Kanalisation war verstopft usw. Reparaturen wurden abgelehnt, weil das Haus 1965 (!) abgerissen wird. Nachdem er wiederholt beim Wohnungsamt vorstellig geworden war und seine Vorgesetzten um Unterstützung gebeten hatte, bot man ihm eine polizeilich gesperrte, nasse, mit Schimmel bedeckte Kellerwohnung an. Als er immer wieder vertröstet und mit seinen Schwierigkeiten allein gelassen wurde, machte sich eine Verärgerung in ihm breit, die ihn sogar zu der Äußerung veranlasst: »Ich bin Spitzensportler, wenn ich keine Wohnung erhalte, dann gehe ich dort hin, wohin Malikowski gegangen ist.« Dieser Ausspruch hätte bei ungenauer Kenntnis des Charakters und der momentanen Lage von Ultn. Weidner als Entschluss zur Fahnenflucht ausgelegt werden können. Durch Einschalten staatlicher Organe erhielt Ultn. Weidner eine Wohnung, womit die alleinige Ursache seiner Missstimmung beseitigt wurde. Der Leiter des ASK »Vorwärts« Potsdam hatte sich erst dann veranlasst gesehen, die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse des Ultn. Weidner persönlich in Augenschein zu nehmen, als sich bereits die staatlichen Stellen damit befassten.
Wie die hohe Zahl der Republikfluchten bei Zivilangestellten beweist, ergibt sich auch hier die dringende Notwendigkeit, die politisch-ideologische Erziehungsarbeit mit diesen Personenkreisen, die in der Hauptsache durch Abhören von RIAS und anderen feindlichen Sendern beeinflusst wurden, zu verbessern, wobei besonders die Gewerkschaftsgruppen innerhalb der NVA eingeschaltet werden müssten.
Da auch die Zahl der Republikfluchten entlassener NVA-Angehöriger nach Ablauf ihrer Dienstzeit sehr hoch ist und meist einen umfangreichen Verrat militärischer Geheimnisse durch sie zur Folge hat, sollte geprüft werden, ob es möglich ist, dass die Kreiskommandos in Zusammenarbeit mit den Betrieben und LPG den entlassenen NVA-Angehörigen Kampfaufträge erteilen oder andere Formen zu finden, ihre erworbenen Fähigkeiten zur Aktivierung der gesellschaftlichen Arbeit in den Betrieben und LPG und zur Überwindung von Missständen sowie zur Schaffung guter Beispiele in der Produktion auszunutzen und einer Republikflucht entgegenzuwirken. Die Kontrolle der Erfüllung der Kampfaufträge könnte den Betriebsparteiorganisationen übertragen werden. Hierdurch würden die entlassenen NVA-Angehörigen stärker an ihre Produktionsstätten gebunden.
Als eine schädliche Tendenz zeichnet sich auch ab, dass NVA-Angehörige, die aus Kreisen der Landjugend geworben wurden, nach ihrer Entlassung nicht wieder Arbeit in der Landwirtschaft aufnehmen, sondern bestrebt sind, in der Industrie unterzukommen. Diese schädliche Fluktuation wird neben der mangelnden Orientierung schon während ihres Dienstes in der NVA, wieder in der Landwirtschaft zu arbeiten, indirekt auch dadurch begünstigt, dass auch nach der Entlassung aus der NVA die Arbeitsplatzvermittlung nicht konsequent nach diesem Gesichtspunkt durch die Dienststellen der NVA erfolgt.
Es wird vorgeschlagen, zu überprüfen, ob es nicht zweckmäßiger wäre, bereits bei der Werbung von Jugendlichen aus der Landwirtschaft in einer geeigneten Form bindend festzulegen, dass sie nach Beendigung ihres Ehrendienstes wieder in die Landwirtschaft zurückgehen. Dabei sollten diese Festlegungen die Perspektive dieser Jugendlichen berücksichtigen.
Ebenfalls ein Ausdruck ungenügender Erziehungsarbeit und des nicht immer den Anforderungen einer sozialistischen Armee entsprechenden Vertrauensverhältnisses zwischen Soldaten und Offizieren und innerhalb des Kollektivs, sind die zahlreichen Selbstmordversuche von NVA-Angehörigen. So muss die Tatsache, dass im Jahre 1960 25 Angehörige der NVA (davon 6 Offiziere, 9 Unteroffiziere und 10 Soldaten) und im I. Quartal 1961 bereits wieder acht Angehörige der NVA (2 Offiziere, 3 Unteroffiziere, 3 Soldaten) Selbstmord verübten, zu ernsthaften Überlegungen seitens der Leitungen der militärischen Einheiten führen, zumal es noch eine ganze Reihe versuchter Selbstmorde gab. Auch hier treffen die bereits bei den Fahnenfluchten angeführten Momente im Wesentlichen zu. So gehörten 44 % der SED und 36 % der FDJ an. 85 % entstammten der Arbeiterklasse und nur ein Angehöriger war weniger als ein Jahr bei der NVA. Auch die Anlässe stimmen mit denen der Fahnenfluchten überein, wobei in einigen Fällen besonders noch unmoralischer Lebenswandel und Liebeskummer hinzu kommt, also auch Ursachen, die bei guter und individueller Arbeit mit den NVA-Angehörigen durchaus hätten vermieden werden können. Die größte Schwäche der politisch-ideologischen Arbeit zeigt sich hier ganz deutlich darin, dass den Selbstmord verübenden NVA-Angehörigen offensichtlich nicht überzeugend ihre Rolle und Perspektive in unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung klar gemacht werden konnte, bzw. dass sie auch durch falsche Behandlung und ungenügende Hilfe das Vertrauen verloren.
Der ungenügende Kontakt zu den Soldaten in den Einheiten und die Unkenntnis ihrer persönlichen Verhältnisse und Sorgen kommt auch darin zum Ausdruck, dass bei einem Drittel aller Selbstmordfälle keine genaue Ursache ermittelt werden konnte.
Als typisches Beispiel sollen zwei Selbstmorde aus dem 3. Flak-Regiment angeführt werden, die sich innerhalb von drei Tagen ereigneten und als Ursache die schlechte politisch-ideologische Arbeit mit den Menschen in dieser Einheit aufzeigen.
Am 19.2.1961 verübte der Kanonier [Name 10], geboren am [Geburtsdatum fehlerhaft (1961)], Mitglied der FDJ, während der Wachausübung Selbstmord durch Erschießen mit seiner MPi.
Kanonier [Name 10] hatte am 18.2.1961 Stadtausgang, von welchem er 15 Minuten verspätet zurückkehrte. Er legte dem OvD eine Bescheinigung vor, aus der hervorging, dass die Straßenbahn wegen Stromabschaltung ausgefallen war. Am 19.2.1961 zeigte er diese Bescheinigung noch dem Hauptwachtmeister Freitag vor. Dieser verlangte, dass die Bescheinigung von der Straßenbahnverwaltung abgestempelt werden muss.
Im Stahlhelm des Kanonier [Name 10] wurde nach seinem Tode ein Zettel mit folgendem Text gefunden: »Liebe Wache! Dieses, was ich getan habe, tat ich wegen unserem Hauptwachtmeister. Ihr werdet inzwischen erfahren haben, dass ich diese Nacht 15 Minuten zu spät kam. Das nahm ich mir zu Herzen. Viele Grüße an meine Eltern, den allerbesten an meinen Freund [Vorname]. Viele Grüße an [weiblicher Name 11], Taucha.«
Der Hauptmann [Name 12], geboren am [Tag, Monat] 1931, Batteriechef im Flak-Rgt. [Nr.], Mitglied der SED, beging am 16.2.1961 Selbstmord durch Erhängen auf dem Boden seines Wohnhauses. Hauptmann [Name 12] führte einen unmoralischen Lebenswandel. Seit November 1960 unterhielt er – obwohl er verheiratet war – intime Beziehungen zu einer geschiedenen Frau. Er hatte deshalb ständige Auseinandersetzungen mit seiner Ehefrau. Die Parteileitung führte zwar mehrere Aussprachen mit ihm durch und auch die PKK des MB III lud ihn vor. Statt kameradschaftlich-erzieherischer Hilfe erfolgten jedoch nur disziplinarische Maßnahmen und die Androhung der Degradierung. Dadurch wurde Hptm. [Name 12] letzten Endes bei der Lösung seines persönlichen Konfliktes allein gelassen und weil er selbst keinen anderen Ausweg fand, machte er seinem Leben durch Selbstmord ein Ende.
Ernsthafte Schwächen im Verhalten der Angehörigen der NVA zeigen sich außerdem in der Wahrung militärischer Geheimnisse und dienstlicher Kenntnisse im Allgemeinen.
Obwohl durch das MfS wiederholt und in den vielfältigsten Formen auf die Bedeutung dieses Problems hingewiesen wurde, besonders auf der Grundlage festgestellter Schwächen und Missstände in den einzelnen militärischen Objekten oder im Verhalten einzelner NVA-Angehöriger, muss eingeschätzt werden, dass die Prinzipien der Wachsamkeit noch immer ungenügend eingehalten und in der Erziehungstätigkeit beachtet werden.
Dadurch besteht die Gefahr, dass der Gegner in den Besitz von für die Einschätzung der politisch-moralischen und militärischen Einsatzbereitschaft der NVA wichtigen Informationen gelangen oder auf der Basis der vielfach anzutreffenden Vertrauensseligkeit von Offizieren und Mannschaften der NVA Kontakte zur Beschaffung derartiger Informationen schaffen kann, was ihm teilweise auch gelungen ist.
Aus Untersuchungsmaterialien und anderen Informationen des MfS geht dabei hervor, dass besonders die weit verbreitete Schwatzhaftigkeit und teilweise anzutreffende Prahlsucht von Angehörigen der NVA gegenüber Zivilpersonen, vor allem Familienangehörigen, Bekannten und Zivilangestellten, zur Preisgabe wichtiger Informationen führt. Nicht selten liegt der Ausgangspunkt für ein derartiges Verhalten in übermäßigem Alkoholgenuss oder im Umgang mit zweifelhaften Frauen. Aber auch die Schwatzhaftigkeit unter den NVA-Angehörigen über bestimmte, das Aufgabengebiet des einzelnen Offiziers u. a. betreffende militärische Geheimnisse führt mit dazu, dass häufig breitere Kreise über ihr eigenes Arbeitsgebiet hinausgehend Einblick in andere Aufgabengebiete, interne Vorgänge und militärische Geheimnisse erhalten.
Dies trifft auch für den Umgang mit wichtigen dienstlichen Materialien zu, der vielfach nicht entsprechend den Befehlen erfolgt, z. B. der VS-Dienstvorschrift 10/9.7
In einer wichtigen Einheit der NVA, deren Aufgaben strengster Geheimhaltung unterliegen, war z. B. ein solcher Zustand zu verzeichnen, dass zu dem Panzerschrank des Kommandeurs alle Offiziere freien Zugang hatten und dort ungehindert Materialien entnehmen konnten.
Im Fiegergeschwader 9, Drewitz, bewahrte der Stellvertreter für fliegende Ausbildung, Oltn. Peters, ständig Flugplantabellen u. a. Unterlagen in seiner Wohnung auf. Dies trifft auch für einen großen Teil von Flugzeugführern dieser Einheit zu, die ebenfalls derartige Dienstunterlagen zeitweilig in ihren Wohnungen aufbewahrten.
Aus diesen Unterlagen waren u. a. die taktischen Nummern sämtlicher Flugzeuge des Geschwaders, die Indexe der Flugzeugführer, die Peiler, die Fern- und Nahfunkfeuer mit den Decknamen und Frequenzen ersichtlich.
Der ehem. NVA-Angehörige [Name 13], der in einer Dienststelle der Luftstreitkräfte in Kamenz als Kompanieschreiber tätig war, konnte bei seiner Entlassung aus der NVA ungehindert und unbemerkt einen Plan mitnehmen, aus dem Größe, Anordnung und Bestimmung sämtlicher Gebäude und Anlagen dieser Dienststelle ersichtlich waren. Durch das MfS konnte die beabsichtigte Übergabe dieser Unterlagen an die imperialistischen Geheimdienste verhindert werden.
Aus einer Reihe vorliegender Beispiele ist ersichtlich, dass es auch grobe Verletzungen der Wachsamkeit durch unberechtigtes Fotografieren von Objekten, Ausrüstungsgegenständen usw. gibt.
So bewahrte, um ein Beispiel zu nennen, Hptm. [Name 14], Panzerlehrbataillon Zeithain, in der Wohnung seiner Mutter vier Fotoalben mit Aufnahmen von verschiedenen Objekten, Panzertransporten, Frühjahrs- und Herbstmanövern u. a. militärischen Handlungen auf, die in ihrer Gesamtheit Aufschluss über die gesamte Ausbildung, die Standorte der Truppenteile und ihrer Übungsplätze gaben. Die entsprechenden Filme wurden vom Privatfotografen entwickelt.
Der ernste Charakter dieser Verstöße gegen die Prinzipien der Wachsamkeit zeigt sich insbesondere aber auch im Umgang mit VS-Dokumenten entsprechend der VS-Dienstvorschrift 10/9. Allein im Jahre 1960 sind 422 VS-Verluste (27 GVS, 395 VVS) aufgetreten, von denen nur acht Dokumente wieder aufgefunden werden konnten.
Allein im MB III sind davon 274 VS-Verluste aufgetreten, im LSK/LV 64, im MB V 44 und im MfNV 32. Diese verlorenen Dokumente tragen in ihrem Inhalt vielfältigen Charakter und enthalten u. a. Richtlinien und Angaben über die Arbeit der Stäbe, Gliederung und Beschaffung, die Ausbildung an verschiedenenartigen Waffen, die chemische Abwehr, Funkunterlagen, Gesprächstabellen, Alarmkarten, topografische Karten, Luftbilder, Jahreskennziffern bis zum »Ausbildungsbefehl 1961« des MfNV.
Im MSR Rostock z. B. wurden vier GVS- und zwei VVS-Verluste festgestellt (Anordnungen über Funk, Alarmkarte, Luftbilder, Gliederung und Beschaffung), wobei zu den Ursachen u. a. ermittelt wurde, dass der VS-Stellenleiter fremden Personen Zutritt zur VS-Stelle gewährte, dort mit ihnen dem Alkohol zusprach und dabei u. a. auch über die Methoden des Chiffrierwesens, Angaben machte.
Die vorliegenden Untersuchungsergebnisse über dieses Beispiel und über den Verlust der VS-Dokumente insgesamt lassen übereinstimmend erkennen, dass noch häufig die Bedeutung des Umganges mit VS-Dokumenten und die sich daraus ergebende Einhaltung der VS-Dienstvorschrift 10/9 unterschätzt wird, von den Dienstvorgesetzten wenig Anstrengungen zur Erhöhung der Verantwortlichkeit der Mitarbeiter der VS-Stellen unternommen werden, mangelhafte Kontrollen durch die Vorgesetzten und VS-Kontrollkommissionen erfolgen, festgestellte Mängel in der Registrierung, Aufbewahrung und im Nachweis nicht sofort beseitigt und bei Verlusten keine gründliche Untersuchungen geführt werden.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass zum besseren Erkennen und Beseitigen von Schwächen und Missständen auch einige Veränderungen auf dem Gebiet der Anleitung, Überprüfung und Kontrolle seitens zentraler Stellen der NVA erfolgen müssten.
So weist das Kontrollsystem innerhalb der NVA noch erhebliche Mängel auf und trägt oft den Charakter von Stippvisiten. Hierdurch werden wohl Mängel festgestellt und registriert, es ist aber aufgrund der kurzen Zeit den Kontrollierenden nicht möglich, die Ursachen der Mängel zu ergründen und selbst Maßnahmen zu ihrer Beseitigung zu treffen und eine wirkliche Anleitung zu geben. Dadurch können oft Einheiten nicht richtig eingeschätzt werden und es entsteht ein falsches Bild sowohl über den Ausbildungsstand als auch über den politisch-ideologischen Zustand der Einheiten.
»Anlage« zur Information Nr. 192/61
[Brief der Hauptabteilung I vom 11. April 1961]
Hauptabteilung I | Berlin, den 11.4.1961
An die | Abteilung Information des MfS | Berlin8
Betr.: Bericht über einige Schwächen innerhalb der NVA Nr. 192/61
Bezug: Telefonische Rücksprache mit dem stellv. Leiter, Genossen Major Irmler
Da der vorliegende Bericht zur besseren Einschätzung der Lage in der NVA und evtl. Verwendung auf der Aktivtagung am 13. und 14.4.1961 kommen soll, kann ich diesem nicht voll inhaltlich meine Zustimmung geben.
Nach meiner Meinung muss man davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrheit aller Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der NVA eine absolut positive Haltung zur Durchführung der Beschlüsse der Partei und auf dieser Grundlage gegebenen Befehle einnimmt sowie große Initiative bei der Erfüllung der Aufgaben zur Erhöhung der Gefechtsbereitschaft entwickelt. Bei der Durcharbeitung des Berichtes entsteht der Eindruck, dass darin eine Anzahl von Verallgemeinerungen aus vereinzelten negativen Beispielen getroffen werden, die nicht der wirklichen Lage der NVA entsprechen.
So wird zum Beispiel die Feststellung getroffen, dass die Offiziere im Allgemeinen außerhalb des Politunterrichtes ideologischen Auseinandersetzungen mit den Soldaten aus dem Wege gehen und nicht energisch gegen das Abhören von westlichen Rundfunkstationen einschreiten. Eine solche absolute Feststellung ist nicht richtig und muss unbedingt einschränkend behandelt werden, da es natürlich einige Offiziere gibt, die sich so verhalten. Gleichfalls ist die im Bericht getroffene Feststellung, dass die Vorgesetzten und Politoffiziere nur ungenügend ihre Untergebenen kennen und dadurch nicht in der Lage sind, ein richtiges Vertrauensverhältnis zu ihnen herzustellen, nicht voll zutreffen. Auch hier kann es nur Ausnahmefälle geben.
Natürlich kann man bei einer Reihe von besonderen Vorkommnissen, wie zum Beispiel Selbstmorden oder Fahnenfluchten oftmals feststellen, dass den jeweiligen Vorgesetzten nicht immer die persönlichen Verhältnisse der Betreffenden, Schwierigkeiten usw. bekannt waren oder dass sie ihren Untergebenen aktiv helfen, diese zu überwinden.
Im Bericht wird angeführt, dass die Angehörigen der NVA in ihrer Freizeit mit zu vielen Aufgaben, wie die Durchführung von Zirkeln, Versammlungen, NAW-Einsätzen u. a. belastet werden. Bei uns liegen derartige Informationen bzw. Stimmungsbilder dazu nicht vor. Wir sind im Gegenteil, ausgehend von der Einschätzung der hohen Anzahl von besonderen Vorkommnissen und Disziplinarvergehen zu einer solchen Meinung gekommen, dass die Freizeitgestaltung der NVA-Angehörigen sowohl im Umfang wie auch im Inhalt bedeutend zu verbessern wäre. Das wird auch im Prinzip im Kommuniqué des Politbüros zu den Fragen zur Verbesserung der Arbeit unter der Jugend gefordert.9
Das im Bericht angeführte Beispiel aus der 4. Kompanie des Schützenregimentes 12, bei welchem aufgezeigt wird, dass die Soldaten ihre Vorgesetzten nicht kennen, ist uns nicht bekannt. Da bei uns keine Informationen darüber vorliegen, dass dieses eine allgemeine Erscheinung in der NVA ist, wäre es erforderlich, dieses Beispiel bevor es zur Auswertung weitergeleitet wird, zu überprüfen. Zu dem angeführten Beispiel aus der Dienststelle Weißenfels, betreffs der Stimmungen zur Ausgabe von Margarine in der Kaltverpflegung ist folgendes zu sagen:
Solche Stimmungen traten im Sommer des vergangenen Jahres in mehreren Einheiten der NVA auf, weil im Zusammenhang mit einigen Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung mit Butter in allen bewaffneten Kräften durch entsprechende Weisungen der Minister Änderungen in den Proportionen der zur Ausgabe kommenden Butter, Margarine und anderer Fette vorgenommen wurden.
Man kann aber nicht mehr sagen, dass es heute noch solche Diskussionen in den Einheiten der bewaffneten Kräfte gibt, außer vereinzelt auftretenden Meinungsäußerungen dazu.
Nach Rücksprache mit dem zuständigen Mitarbeiter der Einheit in Weißenfels ergibt sich, dass uns nichts darüber bekannt ist, dass Margarine kiloweise in den Abfall geworfen wird.
Auch das Beispiel, was die zweite Batterie der 1. Abteilung des 3. Art.-Rgt. betrifft, kann nicht als typisch vorhandene Schwäche in der Armee betrachtet werden. Diese Einheit steht in der Bestenbewegung und kämpft um den Titel »Beste Batterie«. Im Bestreben diesen Titel zu erringen, wurden von dem Hauptwachtmeister [Name 6] (Innendienstleiter) offensichtlich einige überspitzte Methoden neben vieler positiver Arbeit angewandt.
So trifft es zwar zu, dass dort Soldaten in zwei Fällen bis gegen 23.00 Uhr mit Revierreinigen beschäftigt wurden. Die Angaben betreffs der Bestrafung des Kanonier [Name 5], weil er angeblich den Riemen an seinem Marschgepäck nicht vorschriftsmäßig anbrachte, ist bisher durch den Innendienstleiter, der diese Strafe ausgesprochen haben soll, nicht bestätigt worden, da er noch nicht danach gefragt wurde. Selbst bei Bestätigung einer solchen Handlungsweise des Innendienstleiters können aus diesem Beispiel keine typischen Verallgemeinerungen getroffen werden.
Im gesamten Rahmen der 1. Abteilung des 3. Art.-Rgt. spielt gerade diese 2. Batterie eine positive Rolle. Auch der Kommandeur dieser Batterie, Hauptmann Jendrich, leistet nach der Einschätzung unseres Mitarbeiters eine positive Arbeit und gehört zu jenen Offizieren die auch weit über die normale Dienstzeit arbeiten.
Um diesem Bericht wirklich objektiven Inhalt zu geben, schlage ich vor, ihn vor der Weiterleitung nochmals gründlich zu überarbeiten und wirklich nur auf das zu beschränken, was für die Einschätzung der Lage als typisch bezeichnet werden kann.
Leiter der Hauptabteilung I | (Kleinjung) Generalmajor | i.V. [Unterschrift]