Zum Verlauf der Passierscheinerteilung an Westberliner, 6. Bericht
24. Dezember 1963
6. Bericht Nr. 798/63 über den Verlauf der Maßnahmen zur Passierscheinerteilung und über die Einreise Westberliner Bürger in das demokratische Berlin
Nachdem am 22.12.1963 mit 23 686 Westberliner Bürgern die bisher größte Besucherzahl erreicht worden war, reisten am Montag, dem 23.12.1963 insgesamt 4 227 Westberliner mit 558 Kfz mit Tagespassierscheinen1 in die Hauptstadt der DDR ein. Im Einzelnen passierten die KPP
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Bahnhof Friedrichstraße 508 Pers[onen],
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Chausseestraße 1 099 [Personen] mit 191 Kfz,
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Invalidenstraße 760 [Personen] mit 75 [Kfz],
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Sonnenallee 1 061 [Personen] mit 292 [Kfz],
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Oberbaumbrücke 799 [Personen].
(Damit besuchten bisher insgesamt 37 650 Westberliner mit Tagespassierscheinen die Hauptstadt der DDR.)
Die Ein- und Auseise wurde reibungslos abgewickelt und verlief ohne Zwischenfälle.
Wie an den vorangegangenen Tagen öffneten die Passierscheinstellen am 23.12. zwischen 12.30 und 13.00 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich wieder größere Menschenmengen vor den Passierscheinstellen angesammelt.
Die vom Westberliner Senat angewiesene Ausgabe verschiedenfarbiger und mit Ordnungszahlen versehener Kontrollkarten hat sich im Wesentlichen positiv auf den Arbeitsablauf in den Passierscheinstellen ausgewirkt. In Steglitz hielten sich die dort eingesetzten Kräfte des Senats bzw. der Westberliner Post und Polizei nicht an die getroffenen Festlegungen, sodass es zu einigen Schwierigkeiten bei der Abfertigung der dort Wartenden kam. Unter anderem mussten Westberliner Bürger, die noch keine Anträge erhalten hatten, in den für die bevorzugte Abfertigung vorgesehenen Klassenzimmern unnötig lange warten. Von Senatsangestellten wurde in diesem Zusammenhang geäußert, dass die Ausgabe der Kontrollkarten das angeblich gut eingespielte System durcheinandergebracht habe.
Die Ausgabe der Passierscheine verlief in allen Ausgabestellen im Wesentlichen reibungslos. Lediglich in der Passierscheinstelle Wedding kam es zu Stauungen, die durch die DDR-Angestellten bzw. durch von ihnen eingeleitete organisatorische Veränderungen im Ausgabesystem beseitigt wurden.
Behinderungen durch Westjournalisten bzw. durch Vertreter des Westberliner Rundfunks und Fernsehens traten nicht auf.
Am 23.12. wurden Passierscheinstellen vom US-Besatzerkommandant (in Zehlendorf) sowie von den Bezirksbürgermeistern in Wilmersdorf und Spandau besucht.
Im Verhalten der für die Ordnungs- und Sicherungsaufgaben verantwortlichen Westberliner Kräfte gab es gegenüber den Vortagen keine wesentlichen Veränderungen.
In Wilmersdorf entstand außerhalb der Passierscheinstelle ein gewisses Durcheinander, nachdem die Westberliner Polizei ihre Absperrmaßnahmen gelockert hatte. Es gibt auch weitere Anzeichen dafür, dass von Westberliner Seite aus eine gewisse Steuerung dahingehend erfolgt, ein weiteres Anwachsen der Besucherzahl abzubremsen. So gab z. B. in Neukölln die Westberliner Polizei der Bevölkerung die falsche Orientierung, dass keine neuen Anträge mehr ausgegeben würden. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass es in Neukölln zwischen der Schutz- und Kriminalpolizei widersprüchliche Anweisungen zur Bewältigung des Andrangs der Westberliner vor und in den Passierscheinstellen gab. In diesem Stadtbezirk gab es auch verhältnismäßig viel Unklarheiten darüber, wieviel Anträge Westberliner empfangen und ob sie öfters in die Hauptstadt der DDR einreisen können.
In Charlottenburg versuchte die Westberliner Polizei den normalen Ablauf zu stören, indem sie erklärte, es gäbe in den Schulräumen keine Westberliner mehr, die auf ihre Abfertigung warten. Durch die Kontrolle der Postangestellten2 der DDR in den Klassenräumen wurde jedoch festgestellt, dass es noch viele Wartende gab.
In Neukölln entstand durch die Tätigkeit der Westberliner Beamten ebenfalls eine solche Lage, dass zeitweise ein großer Andrang herrschte, zeitweise aber auch zwei bis drei DDR-Angestellte ohne Arbeit waren.
Wie intern bekannt wurde, sind in einzelnen Dienststellen der Westberliner Polizei die ungenügenden Vorbereitungsmaßnahmen des Senats kritisiert worden. Außerdem habe es unter einer Reihe von Polizeiangehörigen Verstimmung über den umfangreichen zusätzlichen Dienst gegeben.
In Spandau war erneut zu verzeichnen, dass Westberliner Postangestellte – unter Berufung auf angebliche Veröffentlichungen (Presse und Rundfunk in Westberlin) – versuchten, die Ausgabe der Anträge zu übernehmen.
Nach einer weiteren internen Information habe sich die Belegschaft des Verlagshauses des Springer-Konzerns in Westberlin verpflichten müssen, das Gebiet der Hauptstadt der DDR nicht zu betreten. Zuwiderhandelnden soll mit der fristlosen Entlassung gedroht werden.
Wie in den vergangenen Tagen wurde von Westberliner Seite auch am 23.12. versucht, genauere Angaben über ausgegebene Anträge und Passierscheine zu erhalten.
In diesem Zusammenhang wird auch auf Versuche Westberliner Kripo-Angehöriger hingewiesen (z. B. in Steglitz), Kuriere nach ihrer Herkunft, ihrer Dienststelle und nach ihren Personalien auszufragen.
Die bereits an den Vortagen festgestellten Anzeichen zur ideologischen Beeinflussung und zur Bestechung der Postangestellten der DDR traten am 21. und 23.12. verstärkt in Erscheinung. Es häuften sich z. B. die Fälle, wo den Postangestellten kleine Geschenke und Genussmittel angeboten wurden. Mitunter gleichen diese Bestrebungen regelrechten Tests, ohne direkt mit der Passierscheinausgabe in Zusammenhang zu stehen.
In Neukölln versuchten die eingesetzten Westberliner Ordnungs- und Sicherungskräfte sogenannte freundschaftliche Kontakte mit den DDR-Angestellten anzuknüpfen, wobei sie sehr vorsichtig vorgingen und sich auf die bisherige »gemeinsame« Arbeit beriefen. In Schöneberg wurde festgestellt, dass der Senat für den 24.12. die Überreichung von Geschenkpaketen an die Postangestellten der DDR vorbereitet hat. Es gibt auch einzelne Angebote von Westberlinern, sich mit den DDR-Angestellten im demokratischen Berlin3 zu treffen.
Aus mehreren vorliegenden internen Informationen geht hervor, dass Westberliner Bankinstitutionen in verstärktem Umfange DM/DNB4 handeln. Eine größere Anzahl Westberliner Bürger soll davon Gebrauch machen.
Die Haltung und Stimmung der Westberliner Bevölkerung zur Ausgabe von Passierscheinen sowie gegenüber den Postangestellten der DDR ist im Wesentlichen nach wie vor positiv. Die Westberliner Bevölkerung verhält sich innerhalb der Passierscheinstellen diszipliniert und folgt den Anweisungen und Hinweisen der DDR-Angestellten.
Es wurden weitere zahlreiche Beispiele bekannt, dass sich Westberliner Bürger bei den Postangestellten der DDR für die reibungslose und schnelle Abfertigung in den Ausgabestellen bedankten.
Vorkommnisse in Tempelhof und Reinickendorf lassen jedoch den Schluss zu, dass von Westberliner Seite verstärkt Versuche unternommen werden, Sympathie-Kundgebungen für die DDR zu unterbinden und sogenannte unkontrollierte Gespräche zu verhindern. So traten z. B. Westberliner Kripo-Angehörige in Erscheinung, wenn Westberliner Bürger mit den Postangestellten der DDR Gespräche führten. Die Absicht, solche Westberliner Bürger zu bespitzeln, wurde dabei offensichtlich.
In Steglitz brachten zahlreiche Westberliner Bürger ihren Unwillen über die Haltung von Angestellten der Bezirksverwaltung zum Ausdruck, als diese 150 Anträge abholten, ohne sich vorher anzustellen. Als kurz darauf ein Westberliner Polizeifahrzeug rücksichtslos in die von der Ausgabestelle Wartenden fuhr, kam es zu einem tumultähnlichen Zustand. Die Westberliner versuchten das Fahrzeug umzuwerfen, ließen jedoch von ihrem Vorhaben ab, als sie die im Fahrzeug sitzenden Postangestellten der DDR erkannten.
Aus einzelnen Stimmen aus dem Bezirk Wedding geht hervor, dass sich dort Wartende über die lange »Abfertigungszeit« abfällig geäußert haben. Unter anderem sei betont worden, dass man gegenüber dem dichtbesiedelten Arbeiterviertel Wedding hätte mehr Entgegenkommen zeigen müssen. Aber auch hier wurde die Behandlung der Anträge durch die Postangestellten der DDR als korrekt und höflich bezeichnet.
Auch am 23.12. wurde wieder eine Reihe von Beispielen bekannt, dass Westberliner vor Passierscheinstellen Antragsformulare zu unterschiedlichen Preisen zum Verkauf anbieten.