Explosion in der Sauerstoff-Fabrik der Leuna-Werke
18. April 1964
Einzelinformation Nr. 334/64 über eine Explosion in der Sauerstoff-Fabrik im VEB Leuna-Werk »Walter Ulbricht« am 1. April 1964
Am 1.4.1964, gegen 18.25 Uhr, ereignete sich im VEB Leuna-Werk »Walter Ulbricht« in der Sauerstoff-Fabrik am Sauerstoff-Verdampfer des Trennapparates 12 eine Explosion. Durch die eingeleiteten Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass bereits mehrfach derartige Behälter zerknallten. Infolge der Explosionsgefährdung werden diese Aggregate im Freien errichtet, damit keine Gebäudeschäden entstehen können. Durch die Explosion wurden ca. 20 Fensterscheiben eingedrückt. Dieses Aggregat kostet ca. 6 000 DM und ist ein Produkt des VEB Chema Rudisleben.
Havarien dieser Art haben ständigen Charakter. In der Havarie-Nomenklatur des Leuna-Werkes zählt es zu den kleineren Vorkommnissen, die keiner sofortigen Meldepflicht unterliegen. Havarien ohne Personenschaden oder eventuellen Produktionsstörungen dieser Art werden lt. Anweisung des Generaldirektors der VVB Mineralöle und organische Grundstoffe – Dr. Matschke1 – nicht an die Dispatcherorganisation des Volkswirtschaftsrates gemeldet.
Zum Zeitpunkt der Havarie weilte der Vorsitzende des Volkswirtschaftsraters Genosse Neumann2 in Klubhaus des Leuna-Werkes. Auf Einladung des Technischen Direktors Dr. Keune3 war ursprünglich auch vorgesehen, die Sauerstoff-Fabrik zu besichtigen. Diese Besichtigung fand jedoch nicht mehr statt. (Von den Mitarbeitern des MfS, die die Explosionsgefahr in der Sauerstoff-Fabrik kannten, waren entsprechende Vorkehrungen getroffen worden, um einen Besuch dieses Betriebsteiles durch den Genossen Neumann zu verhindern.)
Am 3.4.1964 besuchte der Genosse Siebold,4 Stellvertreter des Vorsitzenden des Volkswirtschaftsrates, das Leuna-Werk. Nach seiner Erklärung sei ihm anlässlich dieses Besuches von dem Technischen Direktor Dr. Keune folgende Mitteilung über die genannte Havarie am 1.4.1964 gemacht worden: »Am 1.4.1964 fand in der Sauerstoff-Fabrik eine Explosion mit sehr großem Schaden statt. Ich bin nur froh, dass der Genosse Minister Neumann trotz meiner Aufforderung diesen Betriebsteil aus Zeitmangel nicht mehr besucht hat.«
Dem MfS wurde dazu von Dr. Keune erklärt, Genosse Siebold dahingehend unterrichtet zu haben, dass am 1.4. ein kleiner Behälter explodiert sei, der Schaden jedoch gering wäre. (Diese Mitteilung über das Gespräch mit dem Genossen Siebold, wie sie dem MfS gegenüber von Dr. Keune gegeben wurde, entspricht auch dem wirklichen Sachverhalt.)
Nach weiteren Überprüfungen wurde die Mitteilung über die Havarie über die Dispatcheranlage des Leuna-Werkes ordnungsgemäß an die Mitarbeiterin [Name 1] der VVB gemeldet. Daraufhin setzte sich der stellvertretende Abteilungsleiter [Name 2] (VVB) mit dem Leuna-Werk – Dr. Höringklee5 – in Verbindung. Als er feststellte, dass es sich um eine »normale« Explosion ohne Produktionsstörung handelt, entschied er, den Volkswirtschaftsrat über dieses Vorkommnis nicht zu informieren. Erst nachdem am 7.4.1964 durch den Volkswirtschaftsrat HA Chemie bei ihm wegen des Vorkommnisses nachgefragt wurde, ordnete er an, ein Fernschreiben über den Sachverhalt an den Volkswirtschaftsrat zu senden.