Private Reisen von DDR-Rentnern in die Bundesrepublik
6. Januar 1965
Bericht Nr. 11/65 über die Tätigkeit des Gegners gegen den Beschluss des Ministerrats der DDR über private Besuchsreisen von im Rentenalter stehenden Bürgern der DDR nach Westdeutschland und Westberlin und über damit im Zusammenhang bekannt gewordene Stimmungen und Erscheinungen
Die Durchführung des Beschlusses des Ministerrats der DDR über private Besuchsreisen von im Rentenalter stehenden Bürgern der DDR nach Westdeutschland und Westberlin1 erfolgt nach den bisher vorliegenden Informationen ohne nennenswerte größere Störungen.
In der Zeit vom 2.11. bis 31.12.1964 reisten insgesamt 647 933 Rentner zu Besuchsreisen nach Westdeutschland und Westberlin über die Grenzkontrollpunkte der DDR aus. Davon reisten 399 224 Rentner nach Westdeutschland und 248 709 nach Westberlin. Nach vorliegenden Angaben nutzten bisher von den ausgereisten 647 933 Rentnern nur 119 die Besuchsreisen für illegale Abwanderungen aus. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass sich diese Zahl bei den 1964 ausgereisten Rentnern noch auf 150 bis 170 Personen erhöht.
Die Feindzentralen2 in Westdeutschland und Westberlin sind, offensichtlich zentral gelenkt, bisher nicht offen erkennbar gegen diesen Beschluss tätig geworden.3
Nach den vorliegenden Informationen konzentrieren die Feindzentralen ihre Anstrengungen gegenwärtig darauf, die sich aus der Durchführung dieses Beschlusses ergebenden Möglichkeiten besonders für die politisch-ideologische Diversions- und Störtätigkeit unter den in Westdeutschland weilenden Rentnern selbst und über diese Rentner und die bestehenden verwandtschaftlichen Verbindungen auch unter der übrigen Bevölkerung in der DDR auszunutzen.
So wurde z. B. auf einer Tagung des »Ortskuratoriums Unteilbares Deutschland«4 in Ratzeburg beschlossen, in Gesprächen mit den Rentnern aus der DDR die Lebensverhältnisse in beiden deutschen Staaten gegenüberzustellen und zu versuchen, die bestehenden verwandtschaftlichen Beziehungen für eine verstärkte politisch-ideologische Diversionstätigkeit besonders unter der Bevölkerung im Gebiet der Staatsgrenze West der DDR zu nutzen. Allen Ortskuratorien entlang der Staatsgrenze zur DDR soll zu diesem Zweck eine dementsprechende zentrale Orientierung des »Kuratoriums Unteilbares Deutschland« übergeben werden.
Gleiche Ziele wurden auch mit Einladungen an Rentner aus der DDR zur Teilnahme an Veranstaltungen revanchistischer Organisationen wie z. B. des »Bundes der Vertriebenen«5 in Weiterstadt6/WD, der »Landsmannschaft Sachsen«7 in Bremen, der »Landsmannschaft Schlesien«8 in Batzig9/Bayern und des »Bundes heimattreuer Ost- und Westpreußen«10 in Westberlin sowie mit den im Rahmen der »Rentnerbetreuung« organisierten kirchlichen Veranstaltungen und Stadtrundfahrten mit anschließenden Veranstaltungen und Aussprachen verfolgt.
In Westberlin werden diese Stadtrundfahrten größere Strecken an der Staatsgrenze zur DDR entlang geführt und von den »Reiseführern« dazu benutzt, in besonders gehässiger und verleumderischer Art und Weise gegen die DDR und ihre Grenzsicherungsorgane zu hetzen und die Rentner aufzufordern, sich für die »Beseitigung der Mauer einzusetzen«.
Bei diesen Fahrten entlang der Staatsgrenze wird besonders an den Stellen Station gemacht, wo in Westberlin sogenannte »Mahnkreuze« für tödlich verwundete Grenzverletzer errichtet oder auf Westberliner Gebiet befindliche »Fluchttunnelausgänge« als Demonstrationsobjekte erhalten und entsprechend gekennzeichnet sind, z. B. am Potsdamer Platz, am Spree-Kanal, in der Bernauer- und Bornholmer Straße. Die Schilderungen über gelungene und verhinderte Grenzdurchbrüche sind inhaltlich so angelegt, bei den Rentnern Missbilligungen über die Handlungsweise der Grenzsicherungskräfte der DDR hervorzurufen und die Morde an Grenzpolizisten durch Westberliner Terroristen zu rechtfertigen.
Auf die politisch-ideologische Beeinflussung der Rentner aus der DDR sowie ihre Korrumpierung und Diskriminierung sind auch die umfangreichen Maßnahmen der »Betreuung« gerichtet, die in Westdeutschland und Westberlin von solchen staatlichen Stellen sowie Organisationen und Vereinigungen erfolgen, die teilweise vor dem 13.8.1961 durch ideelle und materielle Förderung und Unterstützung weitgehend am organisierten Menschenhandel mitbeteiligt waren. So bemühen sich z. B. die an den Grenzübergangsstellen und auf den Bahnhöfen eingesetzten Kräfte der evangelischen und katholischen Missionen, in den Gesprächen mit den Rentnern über ihre Lebensverhältnisse in der DDR Stimmungen gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR zu entfachen. In Westberlin widmen sich dieser Aufgaben außerdem Angehörige des »Deutschen Frauenringes«.11 Diese Organisation arbeitet bei der Organisierung der »Osthilfe«, speziell beim Versand von Bettelpaketen in die DDR, eng mit dem »Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen« zusammen. Starkes Interesse an der Kontaktaufnahme mit Bürgern der DDR über die in Westberlin errichteten »Besucher- und Auskunftsdienste« haben auch das Westberliner »Landesamt für Verfassungsschutz«, der UfJ12 und der IWE13.
Die im Rahmen der »Rentnerbetreuung« angeordnete »ärztliche Betreuung« der Rentner aus der DDR, einschließlich der Ausgabe von Arzneimitteln, erfolgt in Westberlin u. a. durch solche, ebenfalls vor dem 13.8.1961 gegen die DDR feindlich tätige Organisationen wie
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den »Zentralausschuss für die Verteilung von Liebesgaben«,14 Fehrbelliner Platz 3,
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den »Berliner Landesverband der Vertriebenen e.V. – Haus der ostdeutschen Heimat«, Kreuzberg, Stresemannstraße 90–102,15
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die »Ärztegemeinschaft für Medikamentenhilfe«,16 Charlottenburg, Wilmersdorfer Straße 94,
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das »Hilfswerk der evangelischen Kirche«, Dahlem, Reichensteiner Weg 24 und
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den »Caritasverband für Berlin«, Schöneberg, Kolonnenstraße 38.
Wie Überprüfungen zeigen, herrscht im Haus des »Evangelischen Hilfswerks« in der Ehrenbergstraße 6 in Westberlin17 ein reger Verkehr von Rentnern aus der DDR, wobei die Versorgung »alter Bekannter« nach Rezepten erfolgt, die bereits aus der Zeit von vor 1961 dort vorliegen. »Alte Bekannte« dieser Stelle erhalten dort außerdem Kaffee angeboten und mit den Medikamenten auch »Liebesgaben« eingepackt. Erstmalig das »Hilfswerk« aufsuchende Personen erhalten dagegen nur Medikamente ausgehändigt. (Angehörige des »Evangelischen Hilfswerks« sind auch nach dem 13.8.1961 wieder mitbeteiligt am Schmuggel von Medikamenten in die Hauptstadt der DDR.)
Obwohl in Westdeutschland und Westberlin alles vermieden wird, was die Mitwirkung von Agentenorganisationen bei der »Rentnerbetreuung« erkennbar werden lässt, wurde weiter festgestellt, dass z. B. in Köln die dortige »Vertriebenenkasse« im Rathaus und in Bayern die »Flüchtlingsbehörden« mit der Auszahlung des »Begrüßungsgeldes«18 beauftragt sind. In Westberlin sind in die Tätigkeit der »Besucher- und Auskunftsdienste« Beauftragte der Senatsverwaltung für Ordnung und Sicherheit einbezogen.
Die auf die Korrumpierung der Rentner aus der DDR abzielende Auszahlung des »Begrüßungsgeldes« erfolgt in Westberlin, in den westdeutschen Ländern, Städten und Gemeinden in unterschiedlicher Höhe. Die Sätze betragen 50,00 bis 150 DM und setzen sich zusammen aus Mitteln des »Bundes«, der Länder, Städte und Gemeinden.
In jedem Fall erfolgt die Auszahlung des Geldes jedoch gegen Unterschriftsleistung auf vorgedruckten Listen, Formblättern, Quittungen oder Karteikarten, auf denen die Personalien der Rentner sowie die der Gastgeber festgehalten werden.
Als weitere Maßnahmen zur Korrumpierung und politisch-ideologischen Beeinflussung der Rentner aus der DDR in Westdeutschland und Westberlin wurden bekannt:
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die kostenlose Ausgabe von Veranstaltungskarten,
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die Ausgabe von Reisepässen zum Besuch kapitalistischer Staaten19 sowie
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die Einrichtung von speziellen Läden oder Verkaufsabteilungen für Rentner aus der DDR in einer Reihe westdeutscher Städte, u. a. in Düsseldorf, München und Hof, wo Textilien und andere Gegenstände zu verbilligten Preisen verkauft werden.
An den Maßnahmen zur Korrumpierung und Diskriminierung der Rentner aus der DDR ist auch die »Deutsche Bundesbahn« beteiligt. Wie bekannt wurde, hat die Verwaltung der Bundesbahn angewiesen, die von Rentnern in der DDR gelösten Rückfahrkarten nicht zu entwerten und Rentnern, wenn sie sich mit Verkehrsmitteln der Bundesbahn in Westdeutschland verfahren, keine Fahrgeldnachlösung abzuverlangen. In mehreren Fällen wurden Rentner aufgefordert, sich in der DDR unter Berufung auf den § 24 des Deutschen Eisenbahn-, Personen-, Gepäck- und Expressguttarifs vom 1.1.1964 das Fahrgeld zurückerstatten zu lassen.20 Der gleiche Zweck wird auch mit der von der Bundesbahn angeordneten kostenlosen Ausgabe von Rückfahrkarten in Westdeutschland verfolgt. Diese Rückfahrkarten berechtigen zur Fahrt vom Besuchsort bis zum Übergang auf die Strecken der Reichsbahn. Sie sind nummeriert und sollen zugleich der Registrierung der Zahl zurückkehrender Rentner sowie der Fahrpreise dienen, die die Bundesbahn von der Deutschen Reichsbahn angeblich zu beanspruchen habe.21
Gutscheine der Bundesbahn zum Empfang solcher Rückfahrkarten wurden z. B. vom Landratsamt Fürth/Bayern an Rentner aus der DDR ausgegeben. Auf den Bahnhöfen Dortmund und Mainz wurden in einigen Fällen den Rentnern trotz Protests auch ihre gelösten Rückfahrkarten abgenommen, sodass sie ohne gültige Fahrausweise für die Strecken der DDR an den Grenzübergängen ankamen und lediglich im Besitz der von der Bundesbahn ausgestellten Fahrausweise waren.
Dem Rentner [Vorname Name 1] aus Dresden N 6, [Straße Nr.] z. B. wurde auf seinen Protest gegen den Entzug seiner in der DDR gelösten Rückfahrkarte von Angestellten der Bundesbahn geantwortet, ohne Fahrschein der Bundesbahn könne er die Rückreise nicht antreten.
Häufig wird von Angestellten der Bundesbahn auch den Rentnern gegenüber »argumentiert«, dass die Behörden der DDR das Geld für die Hin- und Rückfahrt »einstecken« und der Bundesbahn überlassen würden, diese Reisenden kostenlos zu befördern. Diese Verfahrensweise der Bundesbahn trägt nicht nur dazu bei, Unruhe und Unsicherheit bei den Rentnern hervorzurufen, die in der DDR ordnungsgemäß ihre Rückfahrkarte gelöst haben, sondern gibt auch den Diskussionen über die Notwendigkeit des Lösens der Rückfahrkarten in der DDR erneuten Auftrieb. Verstärkt tritt ferner in Erscheinung, dass die Rentner aus der DDR auf westdeutschen Bahnhöfen über die Lautsprecheranlagen aufgefordert werden, Geld der Deutschen Notenbank in den Wechselstuben gegen DM-West einzutauschen.
In einer Reihe von Fällen wurde bisher auch von staatlichen Stellen und Wirtschaftsunternehmen der Versuch unternommen, noch rüstige und arbeitsfähige Rentner abzuwerben. Die Rentnerin [Name 2, Vorname] aus Nossentiner Hütte, [Kreis] Waren, [Bezirk] Neubrandenburg, z. B. sollte auf dem Landratsamt Gütersloh einen Schein unterschreiben, der besagte, dass sie die Absicht habe, in Westdeutschland zu bleiben. Der Rentner [Name 3, Vorname] aus Ueckermünde, [Bezirk] Neubrandenburg, wurde von Arbeitern einer Westberliner Baufirma angesprochen, in Westberlin zu verbleiben und bei ihrer Firma Arbeit aufzunehmen. Ihm wurden ein Monatsverdienst von 900 DM sowie eine zusätzliche Rente in Aussicht gestellt. Die Rentnerin [Vorname Name 4] aus Greiz-Zeulenroda wurde in Konradsreuth/Hof von einem Vertreter der dortigen Firma [Name 5] mehrmals aufgefordert, in Westdeutschland zu bleiben. Der Firmenvertreter bot ihr eine 2-Zimmerwohnung und einen Arbeitsplatz als Näherin mit einem Stundenlohn von 2,60 DM an. Der Rentner [Name 6, Vorname] aus Pirna, [Bezirk] Dresden, wurde bei der Abholung des »Begrüßungsgeldes« im Rathaus Augsburg von zwei Beamten in einem Nebenzimmer über sein Einkommen in der DDR befragt. Ihm wurde dabei in Westdeutschland eine Rente in Höhe von 500 DM in Aussicht gestellt. (Weitere Beispiele derartiger Abwerbeversuche liegen vor.)
Die geschilderte intensive politisch-ideologische Beeinflussung und Korrumpierung findet teilweise auch schon Ausdruck in den Diskussionen der Rentner und der übrigen Bevölkerung über den Empfang des »Begrüßungsgeldes«, über den angeordneten Kauf der Rückfahrkarten, über die Möglichkeit der Westreisen überhaupt sowie im Verhalten der Rentner.
Wie festgestellt wurde, nimmt der größte Teil der nach Westdeutschland und Westberlin reisenden Rentner der DDR das »Begrüßungsgeld« und die »zusätzlichen Unterstützungen« teils aus eigenem Entschluss und teils auch auf Drängen ihrer Verwandten entgegen. Eine klare Distanzierung von diesen Korrumpierungsmaßnahmen der Feindzentralen22 erfolgte nach vorliegenden Hinweisen bisher nur in Einzelfällen.
Zur Rechtfertigung der Entgegennahme dieser Gelder in Westdeutschland und Westberlin werden von den Rentnern im Wesentlichen folgende Argumente angeführt:
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durch die Bezahlung der Hin- und Rückfahrkarten ergebe sich die Notwendigkeit, Geld in den »Kontaktstellen« zu holen,
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durch die Entgegennahme des Geldes könne man den Bonner Staat und seine Rüstungspolitik »schädigen«,
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das Geld werde gebraucht, sonst liefen sie als Bettler in Westdeutschland und Westberlin herum,
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mit dem Geld könnten sie ihre Verwandten unterstützen, die nicht in der Lage seien, sie wochenlang kostenlos zu beherbergen,
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es wäre Dummheit, das Geld, das man ihnen schenke, nicht anzunehmen, zumal dafür keine Gegenleistung verlangt werde,
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mit dem Geld könne man sich selbst etwas kaufen, was in der DDR selten zu haben sei. (Gekauft wurden meist Südfrüchte, Strick- und Schuhwaren.)
Das Nichterkennen der vom Gegner mit der Ausgabe dieser Gelder bezweckten Korrumpierung und der Widerhall der politisch-ideologischen Beeinflussung kommt aber besonders in den Stellungnahmen zum Ausdruck, in denen diese Maßnahmen als »großzügig und sozial«, als »echter Akt der Hilfe«, »großes Opfer« und als »Beweis besonderer Fürsorge« des Bonner Staates für die Rentner gewertet werden, wobei die Diskussionen – auch von Nichtrentnern – nicht selten auf einen Vergleich mit den Leistungen der DDR an die Rentner hinauslaufen. Diese Gegenüberstellung bezieht sich nach vorliegenden Berichten vor allem auf die Höhe der Rentenzahlung in der DDR und den angeordneten Kauf der Hin- und Rückfahrkarten für die Besuchsreisen nach Westdeutschland und Westberlin. Der Einfluss der politisch-ideologischen Diversion des Gegners zeigt sich dabei im Wesentlichen in den Argumenten,
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dass die Renten in der DDR im Vergleich zu Westdeutschland »zu niedrig« seien und die »Belastung des Kaufs der Hin- und Rückfahrkarten nicht von allen Rentnern getragen werden könne«,
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der angeordnete Kauf der Hin- und Rückfahrkarten »gegen Kontrollratsbestimmungen verstoße« und
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der Verkauf der Hin- und Rückfahrkarten »eine Geldschneiderei« seitens der DDR darstelle.
Besonders bemerkenswert ist dabei die Feststellung, dass derartige Diskussionen verstärkt von Bürgern der DDR geführt werden, die nicht im Rentenalter stehen. Von den Rentnern selbst wird gegen die Notwendigkeit des Kaufs der Hin- und Rückfahrkarten vielfach mit solchen Argumenten Stellung genommen:
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die Verwandten wollen die Rückfahrkarten gern bezahlen oder
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die Verwandten und Kinder würden sie mit dem Auto von der Grenze abholen.
Einflüsse der politisch-ideologischen Diversion des Gegners gegen den Beschluss des Ministerrates über private Besuchsreisen von im Rentenalter stehenden Bürgern der DDR nach Westdeutschland und Westberlin kommen auch noch in anderen Diskussionen der übrigen Bevölkerung der DDR zu diesem Beschluss zum Ausdruck. So wird immer noch verstärkt argumentiert:
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die Rentnerreisen seien »kein Verdienst der Regierung der DDR, sondern eine längst zu erfüllende Forderung der Menschlichkeit«,
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der Beschluss sei nur gefasst worden, in der Hoffnung, dass viele Rentner im Westen bleiben,
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der Beschluss stelle eine »unterschiedliche Wertschätzung der Bürger der DDR« und eine »Benachteiligung der arbeitenden Bevölkerung« dar,
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junge Bürger lasse man nicht fahren, aus Angst, sie könnten nicht zurückkommen.
In letzter Zeit mehren sich auch Stellungnahmen, in denen die Hoffnung auf eine weitere »Lockerung des Reiseverkehrs und eine Ausdehnung dieses Beschlusses auf einen größeren Personenkreis« zum Ausdruck gebracht wird.
Im Zusammenhang mit der bisherigen Durchführung dieses Ministerratsbeschlusses sind auch folgende Erscheinungen noch erwähnenswert:
In fast allen Bezirken wurden nach Verkündung dieses Beschlusses und im Ergebnis der Besuchsreisen in zahlreichen Fällen Anträge von im Rentenalter stehenden Bürgern der DDR auf legale Übersiedlung nach Westdeutschland und Westberlin mit der Begründung zurückgezogen, eine vierwöchige Besuchsreise jährlich genüge ihnen zum Besuch ihrer Verwandten oder Kinder.
In mehreren Bezirken kündigten im Arbeitsverhältnis stehende Invalidenrentner ihre Beschäftigung, um die Möglichkeit einer Besuchsreise nach Westdeutschland zu erhalten. In allen Fällen ist beabsichtigt, diese Arbeitsverhältnisse nach ihrer Rückkehr wiederaufzunehmen.
Die bisher vorliegenden Meinungsäußerungen von Personen im Rentenalter, die bereits von Besuchsreisen aus Westdeutschland und Westberlin zurückkehrten, haben fast ausschließlich Vergleiche der Lebensverhältnisse, des Lebensstandards und der sozialen Leistungen in beiden deutschen Staaten zum Inhalt. Nicht selten zeigt sich in diesen Meinungen eine Desillusion über die gesellschaftlichen Verhältnisse und über den tatsächlichen Lebensstandard in Westdeutschland und Westberlin, besonders im Zusammenhang mit den Beziehungen der Menschen untereinander, den Wohnverhältnissen, Mieten und Preisen für Grundnahrungs- und Verkehrsmittel.
Charakteristische Argumente dafür sind Folgende:
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die Verhältnisse in Westdeutschland und Westberlin könnten ihnen nicht zusagen, »weil sich dort jeder selbst der Nächste sei«,
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in Westdeutschland und Westberlin leben sie wohl in Prunk, aber mit den sozialen Leistungen der DDR können sie nicht mit,
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zu Hause in der DDR fühlten sie sich »am wohlsten«,
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in Westberlin hätten sie bemerkt, dass dort »ein falsches Bild von der DDR verbreitet werde« und die »Menschen zum Hass gegen die DDR erzogen werden«,
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in Westdeutschland sei ihnen »bewusst geworden, dass es sich bei uns besser lebt, weil die Preise für Nahrungsmittel, Verkehrsmittel und Mieten viel billiger« seien,
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sie seien vorzeitig zurückgekommen, um den Verwandten in Westdeutschland nicht unnötig zur Last zu fallen, da im Allgemeinen jeder seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten habe (der »Wohnraum ihrer Verwandten sei zu beengt« oder sie hätten es abgelehnt, sie zu empfangen.)
Weitere Argumente beziehen sich auf das »widerliche Wohlstands- und Geldstreben«, das »hektische und unsichere Leben« und die »Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr«. Im Verhältnis zu solchen für die DDR positiven Stellungnahmen sind die Meinungsäußerungen, in denen die Verhältnisse in Westdeutschland verherrlicht oder die Korrumpierungsmaßnahmen positiv für Westdeutschland bewertet werden, gering.
Die mündlich erteilte Anordnung des Ministers des Innern, im Rentenalter stehenden Verwandten 1. Grades von Angehörigen der Deutschen Volkspolizei u. a. Sicherheitsorgane Reisegenehmigungen abzulehnen sowie die unterschiedliche Handhabung dieser Anordnung stieß im erwähnten Zeitraum in allen Bezirken bei den Betroffenen auf Unverständnis und löste Unzufriedenheit aus. Wiederholt trat in Erscheinung, dass VP-Angehörige nach erfolgter Ablehnung von Reisegenehmigungen Entpflichtungsgesuche einreichten oder androhten, um auf diese Weise – teils aus eigenem Entschluss, teils auf Drängen der Betroffenen – den Verwandten den Besuch in Westdeutschland oder Westberlin zu ermöglichen. Besonders häufig waren solche Fälle im Bezirk Neubrandenburg und in den Bezirken Thüringens.
Wenn keine verbindliche schriftliche Anordnung seitens des MdI erfolgt, ist damit zu rechnen, dass auch 1965 wieder derartige Erscheinungen auftreten.