Resolution Hallenser Studenten gegen Prüfungsdurchführung
30. Juni 1965
Einzelinformation Nr. 587/65 über eine Resolution des 4. Studienjahres der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg gegen die Durchführung der Staatsexamensprüfung
In der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle–Wittenberg gibt es bereits seit längerer Zeit Diskussionen über die Neugestaltung des Medizinstudiums, in deren Ergebnis sich der überwiegende Teil des Lehrkörpers und der Studenten für die Durchführung der Studienreform ausgesprochen hat.
In diesem Zusammenhang wurde jedoch von den Lehrkräften und den Studenten wiederholt darauf hingewiesen, dass die Studienreform noch mit einer Reihe von Mängeln behaftet und noch nicht restlos durchdacht ist und dass teilweise die für die Durchführung notwendigen technisch-organisatorischen Voraussetzungen fehlen.
Besonders einzelne Lehrkräfte sprachen sich sehr skeptisch über die Durchführung der Studienreform aus, was den Studenten nicht verborgen blieb.
Da die Durchführung einzelner Maßnahmen der Studienreform nur auf administrativem Wege erfolgte, ohne vorherige gründliche Diskussion, verstärkten sich in der letzten Zeit wieder die negativen Diskussionen über diese Maßnahmen. Einen Höhepunkt erreichten die erneuten Diskussionen im Zusammenhang mit der administrativ erfolgten Anweisung über die Durchführung der Staatsexamenprüfungen.
Im Ergebnis dieser Diskussionen wurde am 28.6.1965 von den Studenten des 4. Studienjahres ein Schreiben an den Dekan und Lehrkörper der Medizinischen Fakultät verfasst und von fast allen Studenten (ca. 150) – unter Mitwirkung der FDJ-Studienjahresleitung und der Mitglieder der Partei des Studienjahres – unterzeichnet.
Dieses Schreiben hat folgenden Wortlaut:
»Betr.: Meinung der Studenten des 4. Studienjahres der Med[izinischen] Fakultät zu dem bevorstehenden Staatsexamen
Erst in dem augenblicklichen Stand der Vorbereitungen auf die Staatsexamina sind wir uns der Schwierigkeiten und Nachteile der bevorstehenden Prüfungen bewusst geworden.
Diese bestehen im Wesentlichen aus Folgendem:
- 1.
Die Integration aller klinischen Fächer ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, sodass jede Prüfung Stückwerk bleiben muss.
z. B. a) in Pharmakologie müssen Rezepte für uns nicht bekannte Krankheitsbilder geschrieben werden.
b) in Pathologie fehlen uns grundsätzliche klinische Kenntnisse.
- 2.
Das Lernen ist folglich weitgehend formal. Die Möglichkeit, Querverbindungen der Fächer zu erkennen, ist eingeschränkt. Die Teilung des Staatsexamens lässt jeweils nur einzelne ›Mosaiksteine‹ der Medizin erkennen. Die knappe Prüfungsvorbereitungszeit gestattet es noch nicht einmal, die Grundlagen der einzelnen Fächer zu erfassen.
- 3.
Die geteilten Staatsexamina gefährden die Ausbildung in den großen Kliniken, da ihre Vorbereitung die gesamte Zeit der Studenten in Anspruch nimmt. Auch darin sehen wir eine Gefahr für die Qualität unserer Ausbildung.
- 4.
Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist es unmöglich, in den zu prüfenden Fächern den Wissenstand des 6. Studienjahres zu haben. Das Niveau unseres Examens könnte einem Vergleich nicht standhalten.
Wir halten es für verantwortungslos, diese Reform trotz erkannter Fehler um jeden Preis durchzusetzen. Jetzt sind zwar nur wir die Leidtragenden, aber später werden es unsere Patienten sein.
Diese angeführten Missstände könnten in den nachfolgenden Studienjahren verbessert werden. In unserer Situation sehen wir als einzigen Ausweg, der die vorher angeführten Punkte berücksichtigt, die Weiterführung des Medizinstudiums nach dem alten, bewährten System solange, bis man einen durchdachten besseren Weg gefunden hat.
Schon einmal haben wir zu den Problemen der neuen Ausbildung unsere Meinung gesagt und mussten feststellen, dass sich keine wesentlichen Verbesserungen anschlossen.
Wenn unsere jetzigen Vorschläge nicht berücksichtigt werden, sind wir außerstande, wohlvorbereitet uns der Prüfung zu stellen und werden folglich nicht erscheinen.
Dieses Schreiben wurde im Auftrage des gesamten Studienjahres von der Studienjahresleitung formuliert.
Zur Bestätigung liegen die Unterschriften der Studenten vor.«
Nach den vorliegenden Informationen hat sich die Mehrzahl der Studenten aus dem Bestreben, positive Veränderungen zu erreichen, an der Abfassung und Unterzeichnung des Schreibens beteiligt. Die Versuche einzelner Studenten, besonders der Katholischen Studentengemeinde, eine besonders aggressive Note in die Diskussion zu tragen und dementsprechende Forderungen aufzustellen, fanden bei der Mehrzahl der Studenten keine Resonanz.
Durch die sofort seitens der Partei und FDJ eingeleiteten Maßnahmen hat ein Teil der Studenten zunächst die Drohung des Nichterscheinens zur Prüfung zurückgenommen, wobei jedoch die Ansichten über die im Schreiben genannten Mängel hinsichtlich der Durchführung der Staatsexamensprüfungen weiter vertreten werden.
Vom MfS wurden die entsprechenden Sicherungsmaßnahmen eingeleitet.