Unruhen bei Veranstaltungen in Dresden
22. Juli 1965
Einzelinformation Nr. 683/65 über Vorkommnisse bei Veranstaltungen auf der Freilichtbühne »Junge Garde« und anlässlich des Volksfestes »Pieschener Hafenfest« in Dresden
Die Freilichtbühne »Junge Garde« im Volkspark Dresden, auf der Filmveranstaltungen, Filmtanzabende, Spiel- und Quizrunden und ähnliche, die Jugend interessierende Veranstaltungen durchgeführt werden, ist seit 1964 in zunehmendem Maße zu einem Treffpunkt von jugendlichen Rowdys und Unruhestiftern geworden. Unter dem Einfluss derartiger Elemente, die meistens nur in kleinen Gruppen auftraten, wurden jedoch größere Kreise von Jugendlichen aufgewiegelt, sodass es wiederholt zur Störung von Veranstaltungen kam. Z. B. wurden beim internationalen Schlagerfestival im Juli 1964 von der Mehrzahl der anwesenden Jugendlichen durch pausenlose Zwischenrufe, Pfiffe und das Werfen von Knallkörpern den Veranstaltern Programmänderungen aufgezwungen. Verschiedene Schlagersänger und Sprecher mussten von der Bühne abtreten, während zwei sog. »Big-Beat-Combos« wesentlich über die vorgesehene Zeit spielten.
Zu ähnlichen Ausschreitungen, verbunden mit einem ständigen Anheizen der Stimmung durch Zwischenrufe einzelner Rowdys, kam es bei der Vorführung der Filme »Limonaden-Joe«1 und »Alaska-Füchse« ebenfalls im Juli 1964.
Zur Überwindung dieser Zustände sind bereits 1964 auf Initiative der Partei Maßnahmen eingeleitet werden, um solche begünstigenden Faktoren, wie den Ausschank alkoholischer Getränke, den über das Fassungsvermögen der Freilichtbühne hinausgehenden Verkauf von Eintrittskarten und die Durchführung von großen Tanzveranstaltungen, zu beseitigen.
Bei Beginn der diesjährigen Veranstaltungsreihe im April 1965 zeigte es sich jedoch, dass die eingeleiteten Maßnahmen nicht zu einer Veränderung der Situation geführt haben. Allein im Mai 1965 wurden drei Filmveranstaltungen von randalierenden Jugendlichen durch Zwischenrufe und Pfeifkonzerte sowie das Zünden von Imitationshandgranaten gestört.
Am 20.6.1965 fand in der Freilichtbühne ein Tanzabend, ein Vorprogramm und die Aufführung des amerikanischen Wild-West-Filmes »12.00 Uhr mittags«2 statt. Es spielte die Dresdner Combo »Syncopators«,3 die mit ausschließlich westlichen Schlagern in der »Big-Beat«-Art mit provokatorischen Ansagen die Stimmung anheizte. So wurden von dem Sprecher der Combo die Schlagertitel unter anderem wie folgt angekündigt: »Es folgt der Schlager mit dem schrecklichen Namen – Truppenübungsplatz Baumholder«, »Wir bringen jetzt den Wohlstandsmarsch Butter und Brot«, »Jetzt kommt der Schlager aus dem Land, wo die Rinder noch mit der Leber wachsen«4. Zu dieser Musik »tanzten« Hunderte Jugendliche auf der Bühne, während die übrigen auf den Rängen tobten. Jeder Zwischenruf und jede Handlung, wie die Explosionen großer und kleiner Knallkörper vor und auf der Bühne, wurden mit ohrenbetäubenden Pfeifkonzerten begrüßt. Aufgrund der starken Detonationen von Imitationskörpern erlitt eine ältere Frau Gehörstörungen. Andere Besucher verließen die Veranstaltung und erklärten, in Zukunft die Freilichtbühne zu meiden, da sie sich durch solche Ereignisse in ihrer Sicherheit bedroht fühlen.
Im Ergebnis der durchgeführten Ermittlungen konnten vom MfS am 9.7.1965 vier jugendliche Täter festgenommen werden. Es handelt sich um Personen im Alter von 23 bzw. 24 Jahren, die als Schlosser, Dreher und Kraftfahrer in Dresdner Betrieben tätig waren. Drei der Inhaftierten haben einen 2- bis 3-jährigen Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee abgeleistet. Der Rädelsführer dieser Rowdygruppe [Name 1, Vorname] war von 1962 bis 1965 Angehöriger einer Artillerieeinheit der Nationalen Volksarmee und ist mit dem Dienstgrad eines Unteroffiziers entlassen worden. Er hat sich während seiner Dienstzeit unter Verletzung der Dienstvorschriften der NVA mindestens sechs Imitationshandgranaten verschafft und diese in Kenntnis ihrer Explosionswirkung und Gefährlichkeit in seiner Wohnung aufbewahrt.
[Name 1] gibt an, dass er ursprünglich die Absicht hatte, diese Sprengkörper zu Silvester und während des Faschings zur Entzündung zu bringen. Als er jedoch bei seinen Besuchen in der Freilichtbühne »Junge Garde« feststellte, dass dort von Jugendlichen Blitzknaller und andere Imitationsmittel zur Störung der Veranstaltungen zur Entzündung gebracht wurden, will er sich entschlossen haben, dort seine Übungshandgranaten zu verwenden. Gemeinsam mit seinen »Freunden« zündete er dort bei drei Veranstaltungen, insbesondere bei der bereits genannten am 20.6.1965, die Explosionskörper. Dabei wurden von ihnen die Imitationshandgranaten in leere Sitzreihen, auf die Bühne und in die Bühnendekoration geworfen.
Im Ergebnis der bisher geführten Untersuchungen konnte außerdem festgestellt werden, dass der Beschuldigte [Name 2, Vorname] mit einer in seinem Besitz befindlichen Starterpistole bei mehreren Veranstaltungen in der Freilichtbühne jeweils 10 bis 15 Schuss abgegeben hat.
Weiterhin haben die Beschuldigten [Name 2] und [Name 3] bei den Veranstaltungen in der Freilichtbühne wiederholt folgende Losungen laut in die Zuschauermenge gerufen: »Willy5, gibt uns Waffen!« (damit war der Westberliner Bürgermeister Willy Brandt6 gemeint) und »Russen raus«.
(Über die genauen Umstände des Rufens dieser Losungen und die Reaktion der Anwesenden werden gegenwärtig noch Untersuchungen geführt.)
Die Täter geben als Motiv für ihre Handlungen an, dass sie Freude an der Knallerei und am Radau hätten und Teile der gebotenen Programme, die nicht ihrem Geschmack entsprachen, stören wollten. Gleichzeitig war es ihr Ziel, sich gegenüber anderen Jugendlichen hervorzutun und von ihnen für ihren »Mut« bewundert zu werden.
Hinsichtlich der bisher ermittelten Persönlichkeitsbilder der Beschuldigten konnte festgestellt werden, dass alle eine gute berufliche Arbeit leisten und an ihrer Weiterbildung interessiert sind. Außer dem Beschuldigten [Name 1] sind alle im FDGB und in der FDJ bzw. im DTSB organisiert, leisten jedoch keine aktive gesellschaftliche Tätigkeit. Der Beschuldigte [Name 2] übte von 1962 bis 1964 in seinem Betrieb – Maschinenfabrik [Vorname Name des Inhabers], Freital – die Funktion eines 1. Sekretärs der GO der FDJ aus.
Nach vorliegenden Feststellungen sind die genannten Zustände in der Freilichtbühne »Junge Garde« neben den bereits genannten noch durch folgende weitere Faktoren wesentlich begünstigt worden:
Bis 1963 war diese Freilichtbühne ein echtes kulturelles Zentrum. Es fanden dort regelmäßig neben Veranstaltungen der heiteren Muse, Konzert-, Liederabende und andere niveauvolle Darbietungen statt. Ab 1962/63 lehnten es die diese Veranstaltungen organisierenden Dresdner Kulturinstitute aus finanziellen Gründen ab, weiterhin derartige Programme für die Freilichtbühne zusammenzustellen. Es wurden als Ersatz dafür immer mehr Film- und Tanzveranstaltungen organisiert, die in der späteren Zeit Tausende von Jugendlichen anzogen und damit in immer stärkerem Maße auch einzelne Rowdys und andere negative Elemente. Dieser Konzentration von Jugendlichen steht die Tatsache gegenüber, dass die Kulturhäuser der Jugend im Stadtgebiet Dresden nicht ausgelastet sind.
Zu weiteren rowdyhaften und provokatorischen Ausschreitungen Jugendlicher kam es am 4.7.1965 während des traditionellen »Pieschener Hafenfestes« in Dresden-Nord.
Die Veranstalter dieses Volksfestes hatten auf der Elbe eine schwimmende Tanzfläche mit einem Fassungsvermögen von etwa 75 Tanzpaaren errichten lassen. Gleichzeitig war von ihnen die unter den Dresdner Jugendlichen beliebte Tanz-Combo »Tele-Stars«, die mit ihren Darbietungen ständig viele Jugendliche anzieht, für diesen Tanzabend verpflichtet worden. Die Folge war, dass ca. 3 000 Jugendliche anwesend waren und die kleine Tanzfläche bei Weitem nicht ausreichte. Sie musste bereits nach kurzer Zeit wegen Überlastung von freiwilligen Helfern der VP gesperrt werden. Es kam deshalb zu offenen Missfallensäußerungen, die noch verstärkt wurden, als ein Mitarbeiter der Abteilung Kultur des Stadtbezirks Dresden-Nord den Versuch unternahm, in den Tanzpausen Gedichte vorzutragen. Er wurde mit groben und beleidigenden Zwischenrufen sowie mit der Aufforderung »hängt ihn« bedroht.
Als in dieser Situation ein VP-Angehöriger und die Angehörigen der Sowjetarmee einem VP-Helfer, der von einem betrunkenen Jugendlichen tätlich angegriffen wurde, zu Hilfe kamen, wandten sich die aufgewiegelten Jugendlichen sofort gegen diese Personen. Mehrere Jugendliche riefen: »Russen raus«, »Schwein«, »habt hier nichts zu suchen«, »macht, dass ihr hier wegkommt aus der DDR, ihr fresst nur unser Brot!« Der VP-Angehörige wurde mit »lynchen und totschlagen« bedroht.
Dabei traten besonders die Jugendlichen [Name 4, Vorname] (22 Jahre), [Name 5, Vorname] (20 Jahre), vorbestraft wegen Einbruchdiebstahl, und [Name 6, Vorname] (18 Jahre), vorbestraft wegen Körperverletzung, in Erscheinung. Gegen diese drei Personen wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl erlassen.
Allgemein ist zu diesen im Bericht genannten Veranstaltungen festzustellen, dass bei der Programmgestaltung, der Auswahl der Örtlichkeiten und der Einflussnahme auf die Zusammensetzung und das Verhalten der Besucher den Bedingungen nicht Rechnung getragen wurde. Das trifft insbesondere für die gesellschaftlichen Organisationen zu, die für diese Veranstaltungen verantwortlich zeichneten bzw. die diese Veranstaltungen unterstützten.
Die bisherigen Untersuchungen zur Aufklärung dieser Vorkommnisse lassen erkennen, dass die Verantwortlichen für die Organisierung derartiger Veranstaltungen ihre Aufgaben rein formal erfüllten. Sie verpflichteten lediglich zugkräftige »Combos« und organisierten andere, die Jugend begeisternde Darbietungen, nahmen aber dabei keinen weiteren Einfluss auf ihren Inhalt und ignorierten auch völlig die sich aus diesen Darbietungen ergebende Reaktion der Jugendlichen.
Eine weitere ernste Erscheinung, die insbesondere die im Bericht genannten Vorkommnisse begünstigte, ist die Tatsache, dass bei derartigen Veranstaltungen immer ein bestimmter Anteil von FDJ-Mitgliedern, in gewissem Umfange auch von Mitgliedern der Partei, als Besucher anwesend ist. Bei keinem der untersuchten Ereignisse sind jedoch die anwesenden Mitglieder der Partei oder der FDJ gegen die in der Regel immer einzeln bzw. in kleinen Gruppen auftretenden Provokateure und Unruhestifter offen eingeschritten, um diese zu isolieren und ihren Einfluss auf die Masse der Jugendlichen einzuschränken.