Bericht des Korrespondenten der Wiener »Volksstimme«
18. September 1968
Einzelinformation Nr. 1052/68 über den Bericht des Korrespondenten der »Volksstimme« (KPÖ), Seliger, über sein Gespräch mit Mitarbeitern der Auslandsabteilung des ZK der SED
Durch eine zuverlässige Quelle wurde dem MfS bekannt, in welcher Weise der Korrespondent der »Volksstimme« (Zentralorgan der KP Österreichs), Kurt Seliger,1 seine Redaktion über ein Gespräch mit den Genossen Mehlitz und Gehricke von der Auslandsabteilung des ZK der SED am 13.9.1968 im Gästehaus des ZK der SED informierte.
Seliger teilte mit, er habe auftragsgemäß während dieses Gesprächs zum Ausdruck gebracht, dass die KP Österreichs bei ihren Beschlüssen zur Lage in der ČSSR2 bleiben wird, dass sie die Ergebnisse der Verhandlungen zwischen Vertretern der KSČ;3 und der KPdSU in Moskau4 als den Beginn einer Lösung der Probleme betrachtet und weiter den schnellsten Abzug der »Besatzungstruppen« aus der ČSSR fordern wird.
Im Rahmen dieser Beschlüsse werde sich seine (Seligers) Berichterstattung bewegen. Außerdem habe er erklärt, man könne von der »Volksstimme« nicht erwarten, dass sie die Haltung der SED zur »Besetzung der ČSSR« zustimmend wiedergibt.
Im Verlaufe der Diskussion habe er zu mehreren Fragen seine private Meinung vertreten und darauf hingewiesen, dass diese nicht als eine offizielle Interpretation der Beschlüsse und Standpunkte der KP Österreichs aufzufassen sei.
Zu dem Hinweis, dass in der SED der Eindruck vorherrsche, die KP Österreichs wolle die Beziehungen zur SED verschlechtern, habe Seliger erklärt, dass seitens der KP Österreichs nichts geschehen werde, was zu einer Verschlechterung der Beziehungen führen könnte. Die KP Österreichs sei – nach seiner persönlichen Auffassung – nicht daran interessiert, Öl ins Feuer zu gießen. Sie werde aber ihren Standpunkt in der Frage der »Besetzung der ČSSR« nicht ändern.
In der Diskussion habe die Position Ernst Fischers5 sowie der ND-Artikel von Herbell6 »Ernst Fischer – am Ende der Illusion« vom 13.9.19687 einen breiten Raum eingenommen. Seliger habe zum Ausdruck gebracht, dass das ND in diesem Artikel auch gegen Auffassungen Fischers polemisiert hat, die den Standpunkt der gesamten Partei darstellen, und dass dies offenbar ganz bewusst geschehen sei. Diese Vermutung sei ihm von den Genossen Mehlitz und Gehricke bestätigt worden. Sie hätten gemeint, dass es doch auch für die KP Österreichs besser wäre, wenn Ernst Fischer und nicht die gesamte Partei offen angegriffen werde.
Aus den wiederholten Feststellungen dieser Genossen, dass Fischer Mitglied des ZK der KP Österreichs ist, habe Seliger den Eindruck gewonnen, dass die SED mit ihrer Kampagne gegen Fischer seinen Ausschluss aus dem ZK erreichen wolle. Er habe erklärt, dass mit einem Ausschluss Fischers nicht zu rechnen sei.
Im weiteren Verlauf der Diskussion seien Fragen der sozialistischen Demokratie, der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, des Streikrechts, der Existenz mehrerer Parteien im sozialistischen Staat, der Wirtschafts- und Kulturpolitik usw. behandelt worden, wobei die Genossen des ZK der SED die aus der DDR-Presse bekannten Standpunkte vertreten und besonders darauf hingewiesen hätten, dass die KP Österreichs und andere Parteien ihre Haltung ändern müssten.
Seliger habe auf eine Stellungnahme des Parteivorsitzenden Muhri8 verwiesen, wonach sich die KP Österreichs mit dem »Demokratisierungsprozess« in der ČSSR eng verbunden fühlt, weil er weitgehend ihren auf dem 18. Parteitag der KPÖ formulierten Vorstellungen von einer sozialistischen Demokratie entspricht. Eine Änderung der Haltung der KPÖ sei deshalb unwahrscheinlich.
Im Interesse der Sicherheit der Quelle darf die Information nicht publizistisch ausgewertet werden.