Umsturz eines Kranes Liebknecht-/Ecke Spandauer Straße, Berlin
1. Juni 1968
Einzelinformation Nr. 597/68 über den Umsturz eines Kranes auf der Baustelle Liebknecht-/Ecke Spandauer Straße am 18. Mai 1968
Am 18.5.1968, gegen 13.00 Uhr, stürzte auf der Baustelle Liebknecht-/Ecke Spandauer Straße ein Kran Rapid Typ III/1 des VE Wohnungsbaukombinates Berlin-Lichtenberg um.
Dabei verunglückte der Betonierer Schellmann, Helmut, geboren am [Tag, Monat] 1923, verheiratet, Vater von drei Kindern, tödlich.
Der Kranfahrer [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1939, wohnhaft Berlin-Köpenick, [Straße, Nr.], wurde leicht verletzt.
Am Kran entstand ein Schaden von ca. 80 TM. Durch die VP wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt gemäß § 222 StGB (fahrlässige Tötung) eingeleitet.
Die vom MfS gemeinsam mit der VP durchgeführten Untersuchungen ergaben folgende Hinweise zum Sachverhalt: Am 18.5.1968 erfolgten auf der genannten Baustelle während einer Sonderschicht Betonierungsarbeiten am Fundament eines Gebäudes. Zum Transport des zu schüttenden Betons kam der auf dieser Baustelle befindliche Turmdrehkran Rapid Typ III/1 zum Einsatz. Zwischen der unmittelbaren Schüttstelle und dem Kran war ein Transportband eingeschaltet, um das vorgeschriebene Verhältnis zwischen aufgenommener Nutzlast und zulässiger Auslegerlänge des Krans zu wahren. Gegen 13.00 Uhr erhielt der Kranfahrer [Name 1] durch den verantwortlichen Meister [Name 2] die Weisung, den Transportbehälter infolge Schadens am Transportband unmittelbar zur Schüttstelle zu transportieren. Da dem Anbinder [Name 3] jedoch die sich daraus ergebende Verlängerung des Transportweges nicht bekannt war, füllte dieser den Transportbehälter des Kranes mit der gleichen Betonmenge wie bei kurzem Transportweg. Um die Schüttstelle zu erreichen, musste der Kranfahrer den Ausleger auf die maximale Weite von 25 m ausschwenken, was zur erheblichen Überlastung und zum Umsturz des Kranes führte.
Die Untersuchungen des havarierten Kranes durch die Technische Überwachung ergaben, dass die zulässige Sicherheitsgrenze für die Belastung um ca. 50 % überschritten wurde und die Überlastmomentensicherung, mit der der Kran ausgestattet war, nicht ansprach, was zum Umstürzen des Kranes führte. Die Ursachen des Versagens der Überlastmomentensicherung sind aufgrund des hohen Zerstörungsgrades und der sofortigen Demontage des umgestürzten Kranes, ohne die entsprechenden Teile vorher zu begutachten, nicht mehr exakt nachzuweisen.
Der Kranfahrer hätte voraussehen müssen, dass bei weiterem Ausfahren des Auslegers mit der bis zu diesem Zeitpunkt beförderten Nutzlast eine Überlastung eintreten würde; jedoch ist die Arbeit mit Anlagen dieser Art so ausgerichtet, dass man sich bei der Aufnahme einer Überlast auf das Auslösen der Sicherung verlässt.
Der Meister [Name 2], der die Veränderung des Transportweges anwies, hätte vor dem erneuten Füllen des Behälters den zuständigen Anbinder verständigen müssen, damit dieser den Behälter weniger belastete.
Die geführten Ermittlungen erbrachten jedoch keine Hinweise, die auf ein vorsätzliches oder bewusst fahrlässiges Handeln der genannten Personen schließen lassen.
Im Verlaufe der Untersuchungen wurden jedoch begünstigende Umstände für den Eintritt der geschilderten sowie eventuell weiterer Havarien festgestellt.
Der havarierte Kran arbeitete seit dem 3.4.1968 auf der Baustelle Liebknecht-/Ecke Spandauer Straße. Der für die Abnahme verantwortliche Meister der Abteilung Hauptmechanik gab zu diesem Zeitpunkt den Kran jedoch nur für die Arbeit im Stand frei, da die Gleisanlage nicht den bautechnischen Anforderungen entsprach.
Am 25.4.1968 erfolgte die Freigabe der Gleisanlage durch die Staatliche Bauaufsicht mit der Einschränkung, die vorhandene Kurve nicht mit Last zu durchfahren. Wie das Bautagebuch ausweist, erfolgte jedoch keine Abnahme des havarierten Krans für den Fahrbetrieb, weil der verantwortliche Ingenieur für Hebezeuge über die geschilderten Details nicht informiert war.
Seit der Inbetriebnahme des Kranes auf der jetzigen Baustelle wurden durch Reparaturbrigaden der Abteilung Hauptmechanik sieben Reparaturen vorgenommen, wovon lediglich zwei in das Maschinentagebuch eingetragen wurden, obwohl eine Weisung besteht, wonach aufgetretene Mängel am Kran in das Buch einzutragen sind.
Nach erfolgter Reparatur ist die Freigabe des Krans durch die Reparaturbrigade im Maschinentagebuch zu vermerken.
Am 17.5.1968 wurden Reparaturen an den Bremsen des Kranes vorgenommen, die nach der ASAO 908 (Arbeitsschutzbestimmung für Hebezeuge und Anschlagmittel vom 1.8.1954) als wichtige Teile anzusehen sind. Demzufolge hätte nach erfolgter Reparatur die Abnahme durch einen Beauftragten für Hebezeuge erfolgen müssen, was nicht geschah. Der Leiter der Werkstatt, [Name 4], sagt dazu aus, dass er die Reparatur von Bremsen für geringfügig hielt und deshalb keine besondere Überprüfung für notwendig erachtete. Der verantwortliche Ingenieur für Hebezeuge der Abteilung Hauptmechanik, [Name 5], gibt in diesem Zusammenhang an, dass er bis zum 1.5.1968 allein für die Überprüfung und Funktionstüchtigkeit aller im Bereich der Großbaustelle Berlin-Alexanderplatz eingesetzten Hebezeuge verantwortlich und damit nur in der Lage war, die wichtigsten Aufgaben zu lösen.
Bedingt durch diesen Zustand, ist die Abteilung Hauptmechanik oft gezwungen, Zugeständnisse in Bezug auf die Abnahme der Hebezeuge nach erfolgten Reparaturen zu machen, deren ordnungsgemäße Durchführung oft nicht kontrolliert werden kann. Zuständige Fachexperten sind deshalb der Meinung, dass die Gefahr weiterer Havarien mit Hebezeugen besteht.
Zusammenfassend ist einzuschätzen: Das erforderliche hohe Bautempo und der damit verbundene intensive Einsatz moderner Baumaschinen fordern objektiv eine verstärkte Durchsetzung bzw. Kontrolle der Einhaltung der ausreichend vorhandenen gesetzlichen Sicherheits- und Arbeitsschutzbestimmungen. Dem wurde und wird jedoch nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt.
Um weiteren Havarien vorzubeugen, wird vorgeschlagen, durch den verantwortlichen Staatsanwalt in Zusammenarbeit mit den Organen der Volkspolizei nach Abschluss der Untersuchungen eine detaillierte Auswertung des Unfallgeschehens im VE Wohnungsbaukombinat Berlin-Lichtenberg vorzunehmen.