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Gruppenfahnenflucht nach Westberlin

3. Dezember 1971
Information Nr. 1157/71 über eine Gruppenfahnenflucht von zwei Angehörigen der NVA-Grenztruppen am 1. Dezember 1971 nach Westberlin

Am 1.12.1971, gegen 12.55 Uhr, wurden im Abschnitt des Grenzregiments 35 Berlin-Rummelsburg, Postenbereich Oberbaumbrücke, die dort mit dem Grenzschutzboot 673 zum Grenzdienst eingesetzten Angehörigen der Bootskompanie 1. Bootsführer und Obermaat [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1951, wohnhaft Grimma, [Straße, Nr.]; 2. Maschinist und Maat [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1951, wohnhaft Arendsee, [Straße, Nr.], vom genannten Grenzschutzboot aus unter Mitnahme zweier Magazine mit 60 Schuss Munition und unter Zurücklassung aller anderen an Bord befindlichen Bewaffnung und Ausrüstung nach Westberlin fahnenflüchtig, nachdem sie den ebenfalls zur Bootsbesatzung gehörenden Decksmann und Matrosen [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1952, wohnhaft Karl-Marx-Stadt,1 [Straße, Nr.], ergebnislos zur Teilnahme an der Fahnenflucht aufgefordert und unter Gewaltandrohung veranlasst hatten, das Boot am freundwärtigen Spreeufer zu verlassen.

Die bisherigen Untersuchungen durch das MfS ergaben:

[Name 1], [Name 2] und [Name 3] waren am 1.12.1971 von 5.00 bis 13.00 Uhr mit dem Grenzschutzboot 673 im Bereich Oberbaumbrücke eingesetzt mit dem Auftrag, Liegeposition zu beziehen und im Falle des Schiffsverkehrs die Schiffseinheiten zu begleiten. Ihr zu sichernder Bereich erstreckte sich von der Oberbaumbrücke bis zur ehemaligen Brommybrücke.2 Gegen 5.00 Uhr fuhren sie ihren Postenabschnitt ab und begaben sich gegen 5.15 Uhr zu dem in der Mitte des Abschnittes, ungefähr 300 m von der Oberbaumbrücke entfernt, am Spreeufer befindlichen Liegeplatz. Ab ca. 8.00 Uhr fuhren sie wie befohlen mehrere Schiffsbegleitungen, wonach sie jeweils zum Liegeplatz zurückkehrten.

Gegen 10.50 Uhr beobachtete die Bootsbesatzung am feindwärtigen Ufer ein Westberliner Polizeifahrzeug vom Typ Volkswagen mit dem Kennzeichen [Kennzeichen]. Um diese Beobachtung zum Führungspunkt zu melden, begab sich [Name 1] gegen 11.00 Uhr zu der am Spreeufer befindlichen Sprechstelle des Grenzmeldenetzes, kehrte aber umgehend zum Boot zurück und behauptete, dass das Telefon gestört sei.

Während des Dienstablaufes wechselte die Bootsbesatzung mehrfach ihre Posten zwischen der Kajüte und dem offenen hinteren Teil des Bootes, wobei [Name 1] und [Name 2] stets gemeinsam einen solchen Posten bezogen.

Gegen 12.40 Uhr schickten [Name 1] und [Name 2] den [Name 3] in die Kajüte mit der Begründung, dass er sich dort aufwärmen soll. Kurz danach kam [Name 2] in die Kajüte, ergriff im Vorübergehen die von [Name 3] in der Kajüte abgelegte Waffe und legte sie auf den Sitz des Bootsführers. [Name 3] glaubte, dass ihm die Waffe im Wege war und reagierte deshalb nicht auf diese Verhaltensweise. [Name 2] setzte sich auf den Fahrersitz, entsicherte seine Maschinenpistole, lud diese hörbar durch und richtete den Lauf auf [Name 3]. Danach griff er mit einer Hand zu der Maschinenpistole des [Name 3] und entfernte daraus das Magazin und forderte [Name 3] auf, mit nach Westberlin fahnenflüchtig zu werden oder das Boot zu verlassen.

Beides lehnte [Name 3], der offensichtlich erst jetzt die tatsächliche Situation begriff, ab. [Name 2] erklärte, dass [Name 3], falls er keine der beiden Möglichkeiten nutzt, gefesselt und in den Kielraum des Bootes gelegt würde, wobei er jedoch bedenken solle, dass das Boot beschossen werden und untergehen könnte. In dieser Situation rief [Name 2] nach [Name 1], welcher mit umgehängter Waffe und einer Fangleine in der Hand am Eingang zur Kajüte erschien und dort stehen blieb.

Durch die Bedrohung mit der Waffe sowie die Möglichkeit überwältigt und gefesselt zu werden, stieg [Name 3], ohne weitere Handlungen zu unternehmen, vom Boot ab, wobei ihm nachgerufen wurde, dass er nicht telefonieren könne, da sie das Telefon zerstört hätten.

Die durchgeführten Überprüfungen ergaben, dass tatsächlich das Kabel aus dem Handapparat herausgerissen worden war.

Nachdem [Name 3] das Boot verlassen hatte, starteten [Name 1] und [Name 2] den Motor und fuhren direkt in Richtung des etwa 80 Meter entfernt gelegenen feindwärtigen Ufers, wo sie absprangen und das Boot treiben ließen. Zu diesem Zeitpunkt wurde das Boot von einem Posten der Grenzübergangsstelle Oberbaumbrücke gesichtet.

Da jedoch das auf der Kajüte befindliche Blinklicht eingeschaltet war, glaubte er, dass das Boot eine Havarie hätte und unternahm keinerlei Handlungen, weil zwischen den Posten diese Zeichengebung im Falle eines solchen Vorkommnisses vereinbart worden war, um bei einem möglichen Überfahren der vordersten Sicherheitslinie nicht unbegründet das Feuer zu eröffnen.

[Name 3] selbst rief in Richtung des Postens an der Oberbaumbrücke, ohne jedoch von diesem gehört zu werden. Daraufhin warf er mit einem Ziegelstein gegen den Signalzaun der am Ufer befindlichen Grenzsicherungsanlage und rüttelte auch daran, ohne dass sich dieser auslöste. Die durchgeführten Überprüfungen ergaben, dass infolge starker Korrosion die Signaldrähte keine Kontakte auslösten.

[Name 3] machte sich in der Folgezeit durch Rufen an einem angrenzenden Betrieb bemerkbar, ließ von einer dort tätigen Arbeiterin den im Betrieb stationierten VP-Posten verständigen und informierte diesen über das Vorkommnis mit der Aufforderung, die Meldung weiterzuleiten.

Die nach der Bergung des treibenden Bootes vorgenommene Untersuchung ergab, dass sich die Waffen, die übrige Munition sowie das Funkgerät, einschließlich der dazugehörigen Unterlagen, an Bord befanden. Aus den Waffen der Fahnenflüchtigen, in denen die Magazine eingeführt waren, fehlten die Schlösser, sodass beide Waffen nicht beschussfähig waren. Die Schlösser wurden bisher nicht aufgefunden.

Nach der erfolgten Fahnenflucht wurde beobachtet, dass auf Westberliner Seite Kräfte der Schutzpolizei und des Zolls das Gelände am Spreeufer inspizierten, Fotoaufnahmen fertigten und Befragungen dort tätiger Speicherarbeiter durchführten.3

Zur Person der Fahnenflüchtigen:

[Name 1] entstammt einer Arbeiterfamilie, besuchte die Polytechnische Oberschule bis zur 10. Klasse, erlernte bis August 1969 im VEB Bau- und Montagekombinat Süd, Bereich Grimma, den Beruf eines Maurers und wurde am 4.11.1969 in die NVA einberufen. Entsprechend vorliegender Ermittlungen aus dem Wohngebiet wurde er von seinem in der SED organisierten und mehrfach als Aktivist ausgezeichneten Vater politisch positiv beeinflusst. Er gehörte der FDJ, dem FDGB sowie der GST an und nahm aktiv an der vormilitärischen Ausbildung teil.

Aufgrund seiner dreijährigen Dienstverpflichtung wurde [Name 1] nach der Einberufung zum Besuch einer Unteroffiziersschule delegiert und ab April 1970 in der Bootskompanie des Grenzregimentes 35 als Bootsführer eingesetzt. Bisher erhielt er für gute Leistungen zwei Belobigungen und wurde am 22.7.1971 für die Verhinderung eines Grenzdurchbruches mit dem Leistungsabzeichen der Grenztruppen ausgezeichnet.

Im Widerspruch dazu geht jedoch aus Beurteilungen während seiner Zugehörigkeit zu den NVA-Grenztruppen hervor, dass er nur über geringe politische Kenntnisse verfügte, sich wenig an der FDJ-Arbeit beteiligte, geringe Initiative bei der Erfüllung militärischer Aufgaben entwickelte und schlechte Führungseigenschaften besaß.

Wegen Nichterfüllung funktioneller Pflichten wurde er im Mai 1971 mit einem Verweis bestraft.

Während der Untersuchung der Fahnenflucht wurde bekannt, dass [Name 1] fortgesetzt Feindsender abhörte und sich im Besitz verschiedenartiger Erzeugnisse westlicher Herkunft befand.

Daraus muss abgeleitet werden, dass [Name 1] offensichtlich der politisch-ideologischen Diversion4 unterlag.

Der ebenfalls einer Arbeiterfamilie entstammende [Name 2], dessen Vater 1964 verstarb, wurde von seiner Mutter in sozial geordneten Verhältnissen erzogen.

Nach Absolvierung der zehnklassigen Polytechnischen Oberschule erlernte er bis August 1970 im WBK Magdeburg den Beruf eines Elektromonteurs. Er wurde als politisch positiv beurteilt, gehörte der FDJ, dem FDGB und der GST an. Als Sekretär einer FDJ-Grundorganisation wurde [Name 2] 1968 mit der »Gottfried-Herder-Medaille«5 ausgezeichnet und später in die SED aufgenommen.

Am 2.11.1970 wurde er nach vorheriger Verpflichtung als Soldat auf Zeit zu einer dreijährigen Dienstzeit zu den NVA-Grenztruppen einberufen, besuchte eine Unteroffiziersschule und kam seit April 1971 im Grenzregiment 35 als Maschinist zum Einsatz. Für gute Leistungen wurde er dreimal belobigt. Er erfüllte die ihm übertragenen Aufgaben ordnungsgemäß und zeigte nach außen eine politisch positive Haltung.

Wegen Verlust des Parteidokumentes wurde er 1970 mit einer Rüge bestraft.

Auch [Name 2] unterlag offensichtlich dem zersetzenden Einfluss der politisch-ideologischen Diversion.

In seinem Elternhaus wurden regelmäßig Sendungen westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen empfangen.

In der Dienstdurchführung des [Name 2] zeigte sich in den letzten Wochen eine merkliche Verschlechterung, deren Ursachen bisher noch nicht herausgearbeitet werden konnten.

Am 22.11.1971 verursachte [Name 2] mit einem Grenzschutzboot eine Havarie, wofür er mit einem Verweis bestraft wurde.

Die bisherigen Untersuchungen lassen erkennen, dass das Gelingen der Fahnenflucht u. a. durch folgende Umstände begünstigt wurde:

Die Festlegung, dass das Setzen des Blinklichtes auf Grenzschutzbooten selbst bei Überschreiten der vordersten Sicherungslinie als Havarie zu bewerten ist und die anderen im jeweiligen Grenzabschnitt eingesetzten Sicherungskräfte an der Einleitung aktiver Sicherungsmaßnahmen hindert, leistet der Durchführung feindlicher Handlungen Vorschub.

Die Untersuchungen zur Fahnenflucht in der Bootskompanie erbrachten Hinweise dafür, dass es unter dem Personalbestand wegen Unzulänglichkeiten in der Führungstätigkeit der Kompanieleitung Missstimmung gibt, die politisch-ideologische Arbeit besonders mit den Maaten vernachlässigt wurde sowie keine parteilichen Auseinandersetzungen mit Erscheinungen der politisch-ideologischen Diversion, der Vernachlässigung der revolutionären Wachsamkeit, der Verletzung der militärischen Disziplin und Ordnung geführt wurden, was sich negativ auf den politisch-moralischen Zustand und die Einsatzbereitschaft des Personalbestandes auswirkte.

Obwohl bekannt war, dass [Name 1] und [Name 2] in der letzten Zeit mehrfach einen schlechten Dienst durchführten und ihre Aufgaben nur ungenügend erfüllten, wurden sie gemeinsam zum Grenzdienst eingesetzt. Die bekannten negativen Fakten fanden in der Postenvorplanung keine Berücksichtigung.

Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen dieser Fahnenflucht werden fortgeführt.

  1. Zum nächsten Dokument Eingeschleuste Hetzschriften (V)

    9. Dezember 1971
    Information Nr. 1183/71 über eingeschleuste Hetzschriften

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    1. Dezember 1971
    Information Nr. 1145/71 über die Situation im Bereich Edelmetall des VEB Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerk