Schließung von GÜST durch die VR Polen
4. Mai 1976
Hinweise auf die Durchsetzung einseitiger Maßnahmen der Organe der Volksrepublik Polen im Zusammenhang mit der Schließung von Grenzübergangsstellen für den pass- und visafreien Verkehr zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen [Bericht O/26b]
Dem Ministerium für Staatssicherheit vorliegende Informationen im Zusammenhang mit der am 17. April 1976 begonnenen Schließung der Grenzübergangsstellen Ahlbeck, Pomellen, Linken, Grambow-Gumience und Schwedt für den pass- und visafreien Verkehr zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen und der seit 22. April 1976 festzustellenden ständigen Ausweitung der den grenzüberschreitenden Verkehr beeinträchtigenden Maßnahmen beinhalten, dass von polnischer Seite zur Begründung ihrer einseitigen Maßnahmen angegeben wurde, vonseiten der DDR seien bezüglich der Maul- und Klauenseuche bzw. vesikulärer Schweinepest ungenügende Seuchenschutzmaßnahmen eingeleitet worden, wodurch die VR Polen gezwungen sei, Schutz- und Sicherungsmaßnahmen einzuleiten.
Seit dem 22. April 1976 ist festzustellen, dass die einseitigen Maßnahmen der Organe der Volksrepublik Polen an den einzelnen Grenzübergangsstellen mit unterschiedlicher Intensität durchgesetzt bzw. auf weitere Grenzübergangsstellen ausgeweitet wurden.
So wurde ab 22. April 1976 die Fahrgastschifffahrt auf der Strecke Frankfurt/O. – Eisenhüttenstadt – Szczecin durch polnische Organe unterbrochen.
Mit Wirkung vom 29. April 1976, 1.00 Uhr, wurden die Grenzübergangsstellen Frankfurt/O. – Stadtbrücke und Frankfurt/O. – Autobahn und ab 29. April 1976, 10.30 Uhr, die Grenzübergangsstelle Wilhelm-Pieck-Stadt Guben für den pass- und visafreien Reiseverkehr gesperrt. Die Schließung der Grenzübergangsstelle Wilhelm-Pieck-Stadt Guben wurde durch den diensthabenden Gruppenführer der polnischen Passkontrolleinheit übermittelt.
Demgegenüber ist festzustellen, dass der pass- und visafreie Verkehr zwischen der DDR und der VR Polen mit der Eisenbahn über die Grenzübergangsstelle Frankfurt/O. – Kunowice in der Ein- wie Ausreise bisher keinen Beschränkungen unterlag. (Ab 3. Mai 1976, 12.00 Uhr, sind von polnischer Seite vorbeugende Schutzmaßnahmen – Desinfektionen – eingeleitet worden.)
Gleichfalls mit Wirkung vom 29. April 1976 wurden die Fahrten des Fahrtgastschiffes MS »Spree« der Weißen Flotte Berlin, welches zweimal wöchentlich zwischen der Grenzübergangsstelle Gartz (Frankfurt/O.) und Szczecin verkehrte, unterbrochen.
Die unterschiedliche Durchsetzung der einseitigen Maßnahmen der Organe der Volksrepublik Polen wird u. a. an folgenden Fakten sichtbar:
Bis zum 30. April 1976 wurde an der Grenzübergangsstelle Grambow/Gumience allen Bürgern der DDR, die mit dem Zug E 315 (Berlin – Angermünde – Szczecin) in die VR Polen reisten, die Einreise gestattet, auch wenn sich unter ihnen Bürger aus dem Bezirk Neubrandenburg befanden. Mit Wirkung vom 1. Mai 1976, 0.01 Uhr, wurde dieser Zugverkehr des E 315 unterbrochen.
Andererseits wurde Bürgern der DDR, die mit dem Zug P 2123 (Pasewalk – Szczecin) an der gleichen Grenzübergangsstelle in die VR Polen reisen wollten, die Einreise bereits seit 17. April 1976 nicht gestattet.
Ausreisen von Bürgern der VR Polen nach der DDR über die gesperrten Grenzübergangsstellen wurde bis zum 29. April 1976 stattgegeben, wenn sie versicherten, nach Berlin oder in südliche Bezirke der DDR reisen zu wollen. Demgegenüber wurde Bürgern der DDR, unabhängig, aus welchen Bezirken der DDR sie kamen, die Einreise in die VR Polen über die gesperrten Grenzübergangsstellen zum pass- und visafreien Reiseverkehr grundsätzlich nicht gestattet.
Davon wurden auch Bürger der DDR betroffen, die wegen Sterbefällen, Hochzeitsfeiern bzw. zur Anreise zu Urlaubsplätzen über die gesperrten Grenzübergangsstellen in die VR Polen einreisen wollten.
In den Abendstunden des 29. April 1976 informierte der Leiter der polnischen Zollstelle Gubin darüber, dass auf Anweisung der vorgesetzten veterinärmedizinischen Dienststelle die Einfuhr von Fleisch- und Wurstwaren aus der DDR nach der VR Polen nicht mehr gestattet sei. Durch die polnischen Zollorgane wurden in der Folge an den für den pass- und visafreien Reiseverkehr gesperrten Grenzübergangsstellen alle Fleisch- und Wurstwaren sowie Erzeugnisse aus tierischen Fetten, einschließlich Konserven, ohne Beschlagnahmeprotokoll eingezogen, in Müllcontainer (Grenzübergangsstelle Slubice – Frankfurt/O.) oder teilweise demonstrativ aus Reisezügen auf Bahnsteige geworfen und – wie z. B. an der Grenzübergangsstelle Zasieki – Forst – anschließend in der Lokomotive des D-Zuges 499 verbrannt. Hiervon sind insbesondere in der DDR arbeitende polnische Werktätige betroffen, die bei der Einreise in die VR Polen verstärkten Kontrollen unterzogen werden. Unter den polnischen Bürgern führten diese Maßnahmen zu heftigen Protesten.
Mit Wirkung vom 1. Mai 1976 wurden die Maßnahmen der polnischen Organe dahingehend erweitert, dass sich an allen Grenzübergangsstellen (Straßenverkehr) zwischen der DDR und der VR Polen auch die im internationalen Transitverkehr nach der VR Polen einreisenden Personen Seuchenschutzmaßnahmen (Desinfektionen in Form des Betretens von Seuchenschutzmatten, Händewaschen) unterziehen müssen und grundsätzlich jegliche Einfuhr von Fleisch- und Wurstwaren (einschließlich Wegverzehr) untersagt wird. Alle Ein- und Transitreisenden werden veranlasst, die von ihnen mitgeführten Fleisch- und Wurstwaren an den Grenzübergangsstellen in bereitstehende Behältnisse zu werfen.
Am 30. April 1976 wurden erste Hinweise darauf bekannt, dass durch polnische Passkontrollorgane an den gesperrten Grenzübergangsstellen dazu übergegangen wurde, von den polnischen Bürgern, die in Betrieben der DDR beschäftigt sind, Bescheinigungen bzw. den Nachweis über ihr Arbeitsverhältnis in der DDR als Voraussetzung für das Gestatten der Ausreise aus der VR Polen und der Wiedereinreise in die VR Polen abzuverlangen.
Im Zusammenhang mit diesen einseitigen Maßnahmen der Organe der VR Polen, die Erschwernisse bei der zügigen und reibungslosen Abfertigung des Reiseverkehrs zur Folge haben und zu politisch negativen Auswirkungen führen, wurden durch polnische Bürger, darunter auch durch Angehörige der polnischen Grenzkontrollorgane, Meinungsäußerungen bekannt, aus denen zu schlussfolgern ist, dass diese Maßnahmen mit bestimmten innenpolitischen Problemen im Zusammenhang stehen könnten.
Dem MfS bisher vorliegende Informationen beinhalten, dass besonders im Zusammenhang mit bestimmten Schwierigkeiten in Versorgungsfragen Unzufriedenheit zur Politik der Partei- und Staatsführung der VR Polen zum Ausdruck kommt. So sei z. B. die Versorgungslage bei Lebensmitteln, besonders bei Fleisch- und Wurstwaren sowie Kartoffeln, sehr angespannt.
Unzufriedenheit soll es auch zu den kürzlich erfolgten zweimaligen Preiserhöhungen bei Inlandfahrten der Polnischen Staatsbahn geben. Weiter wurde bekannt, dass weitere Preiserhöhungen bevorstehen sollen.1
Im Zusammenhang mit den einseitig durch die VR Polen eingeleiteten Maßnahmen traten unter den verschiedensten Bevölkerungsschichten der VR Polen vereinzelt Unklarheiten und Gerüchte auf, die im Wesentlichen beinhalten:
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Die Schließung der Grenzübergangsstellen erfolge wegen eines angeblich in Kürze stattfindenden Umtausches der Ausweise polnischer Bürger bzw. der polnischen Währung.
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Die Maßnahmen der Grenzschließung seien notwendig, da Preisänderungen im größeren Umfang, vor allem bei Lebensmitteln, bevorstehen würden.
Weitere Feststellungen ergaben, dass sich im Zusammenhang mit den einseitigen Reisesperrmaßnahmen durch die Organe der VR Polen die Kontakte auf unterer Ebene merklich verschlechterten. So wurde z. B. festgestellt, dass die Angehörigen der polnischen Grenzkontrollkräfte gegenüber den Grenzkontrollkräften der DDR sehr zurückhaltend reagieren und jegliche Gespräche vermeiden.