Sportruderbootunfall mit tödlichem Ausgang auf dem Müggelsee
12. April 1976
Information Nr. 275/76 über einen Sportbootunfall mit tödlichem Ausgang am 30. März 1976 auf dem Müggelsee
Am 30. März 1976, gegen 11.40 Uhr kam es im Verlaufe einer Trainingsfahrt zu einem Unfall des Renn-Ruderbootes »Achter mit Steuermann« des SC DHfK Leipzig, bei dem die Sportfreunde [»Sportfreund« 1], geboren am [Tag] 1957, wohnhaft gewesen: Kleinleipisch, [Adresse], [»Sportfreund« 2], geboren am [Tag] 1960, wohnhaft gewesen: Altenburg, [Adresse], [»Sportfreund« 3], geboren am [Tag] 1956, wohnhaft gewesen: Altenburg, [Adresse] (Leiche ist noch nicht geborgen, die Suchmaßnahmen dauern an) tödlich verunglückten. Das Boot war im Verlaufe einer längeren Trainingsfahrt auf dem Müggelsee infolge plötzlich einsetzender Windböen voll Wasser gelaufen. Aus diesem Grund verließ die Mannschaft das Boot und versuchte, schwimmend das Ufer zu erreichen. Die Sportler hatten zuvor das Boot gewendet, um sein Versinken zu verhindern.
Die durch das MfS im Zusammenwirken mit der DVP geführten Untersuchungen ergaben:
Seit dem 22. März 1976 befindet sich eine Trainingsgruppe der Sektion Rudern des SC DHfK Leipzig unter Leitung des Trainers [Name], geboren am [Tag] 1947, wohnhaft: Leipzig, [Adresse], im Trainingslager in Berlin-Grünau, Regattastr. 211. Am 30. März 1976, gegen 10.30 Uhr verließ das Boot in Begleitung des Trainers [Name], der in einem Motorboot mitfuhr, die Regattastrecke, um 20 km Trainingsstrecke zu absolvieren. Im Begleitboot des Trainers befand sich außerdem die Trainerassistentin [Name], geboren am [Tag] 1944, wohnhaft: Leipzig, [Adresse].
Nach Erreichen des Zieles, Einfahrt Müggelsee (Spreetunnel) gegen 11.00 Uhr, ersuchten die Sportler den Trainer, die Fahrt über den Müggelsee fortsetzen zu dürfen, um die »Große Umfahrt« von ca. 32 km Strecke zu rudern.
Der Trainer stimmte zu und begleitete das Boot auf der Weiterfahrt. Mit Kurs Müggelhorst sollte der Müggelsee überquert werden, um über den kleinen Müggelsee und den Gosener Kanal zum Trainingslager zurückzurudern. Nach Angaben der Sportler wurde nach etwa 1/3 der Strecke auf dem Müggelsee das Wetter schlechter, Wellen kamen von hinten rechts auf und schlugen gelegentlich in das Boot. Die Sportler haben hierin jedoch keine Gefahr gesehen. Etwa in der Mitte des Müggelsees ließ der Trainer das Boot anhalten und fragte nach dem Wasserstand im Boot. Durch Fingerzeig deutete die Mannschaft einen Wasserstand von 5 cm an und bekundete, trotzdem weiterfahren zu wollen. Obwohl zu diesem Zeitpunkt der Trainer erkannte, dass die Wellenbildung stärker wurde und auf den Wellen bereits einige Schaumkämme zu sehen waren, erlaubte er, dass die Trainingsgruppe die Fahrt fortsetzte, erteilte jedoch die Weisung, unter Land zu fahren. Da er glaubte, infolge Kraftstoffmangels mit dem Motorboot die »Große Umfahrt« nicht bis zur Regattastrecke beenden zu können, teilte er dieses der Trainingsgruppe mit, wendete das Begleitboot und fuhr die bisher zurückgelegte Strecke bis zur Tankstelle an der Regattastrecke zurück. Danach fuhr er über den Gosener Kanal und den kleinen Müggelsee der Trainingsgruppe entgegen.
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang noch der Umstand, dass [der Trainer], nachdem er sich von der Mannschaft entfernt hatte, mehrmals feststellte, dass die Mannschaft seine Weisung, unter Land zu rudern, befolgte. Deshalb hegte er auch keinen Zweifel daran, dass die Mannschaft wohlbehalten an Land gelangen würde.
Die Mannschaft bekundete, dass sich die Wettersituation erst schlagartig verschlechterte, nachdem der Trainer außer Sichtweite war. Während die Wellen beim Wenden des Trainers ca. 0,50 m hoch waren, wuchsen diese plötzlich auf 1,00 m bis 1,50 m Höhe an. Die Mannschaft, die das Volllaufen des Bootes nicht verhindern und letztlich die Situation nicht mehr beherrschen konnte, befand sich praktisch gegen 11.40 Uhr in hilfloser Lage.
Daraufhin versuchten vier der Sportler, schwimmend das Ufer zu erreichen, während sich die anderen zunächst noch am Boot festhielten und später schwimmend das Land zu erreichen versuchten. Unter Letztgenannten befinden sich die drei tödlich verunglückten Sportler.
Zu den Wetterverhältnissen gab die Zentrale Wetterdienststelle Potsdam für den 30. März 1976 im Bereich des Müggelsees bis 12.00 Uhr Windspitzen bis 10 m/s und ab 12.00 Uhr bis 15.09 Uhr bis 20 m/s an, wobei unterschiedliche Windrichtungen zu verzeichnen waren. Da das Wetter sich in wenigen Augenblicken verschlechterte, der Wind stärker und die Wellen wesentlich höher wurden, ist sicher, dass eine Windböe das Unglück herbeiführte.
Die zur Klärung der Gesamtumstände des Geschehens, insbesondere der konkreten Situation, in welcher der Trainer [Name] die später verunglückte Trainingsgruppe verließ, geführten Untersuchungen haben ergeben, dass [der Trainer] offenbar in völliger Verkennung der Wetterlage und einer möglicherweise daraus resultierenden Gefahrenlage den Entschluss fasste, sich von der Trainingsgruppe zu trennen. Obwohl zu diesem Zeitpunkt der Wind auffrischte, die Mannschaft auf Befragen angab, einen Wasserstand von ca. 5 cm im Boot zu haben und die Wellen vereinzelt Schaumkämme trugen, waren Trainer und Mannschaft unabhängig voneinander der Meinung, risikolos die Fahrt fortsetzen zu können. Die Weisung des Trainers, sofort den Kurs zu ändern und unter Land zu fahren, akzeptierte die Mannschaft als richtige Entscheidung. Übereinstimmend sind die Überlebenden der Meinung, dass [der Trainer] die Trainingsgruppe nicht verlassen hätte, wenn von ihm die Wettersituation als gefahrbringend eingeschätzt worden wäre.
Wenn auch die Angaben der Mannschaft und des Trainers prinzipiell übereinstimmen, gelang es bisher nicht zu klären, in welcher Entfernung sich das Ruderboot zum Ufer befand, als [der Trainer] wendete. Während er selbst angibt, das Boot bis etwa 200 m vor Land begleitet zu haben, tendieren die Angaben der Mannschaft zu größeren Entfernungen, teilweise bis zu etwa 700 bis 800 m vor Land. Möglich ist, dass dieser Widerspruch aus dem Schätzen der Entfernung bei Wellengang resultiert.
In Anbetracht der vorliegenden Untersuchungsergebnisse, insbesondere der Aussagen der überlebenden Sportler, des Trainers und seiner Assistentin, der Angaben der Zentralen Wetterdienststelle Potsdam und des positiven Persönlichkeitsbildes des Trainers wurde am 2. April 1976 durch die Generalstaatsanwaltschaft von Groß-Berlin entschieden, kein Ermittlungsverfahren gegen [den Trainer] einzuleiten.
Zur Verhinderung derartiger oder ähnlicher Vorkommnisse und zur generellen Erhöhung von Ordnung und Sicherheit im Trainings- und Wettkampfbetrieb auf dem Gebiet des Rudersports wird Folgendes vorgeschlagen:
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Es wäre zu prüfen, ob die gegenwärtig gültigen Bestimmungen der »Sportordnung des Deutschen Turn- und Sportbundes« vom 23. Mai 1973 und die Zusatz-Sonderbestimmungen des Deutschen Ruder-Sport-Verbandes der DDR zu dieser Sportordnung noch den gegenwärtigen Bedingungen entsprechen und insbesondere solchen Gefahrensituationen, wie im vorliegenden Fall, Rechnung tragen.
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Im Vorschriftenwerk sollte die besondere Verantwortung der Funktionäre, Trainer und Übungsleiter für Leben und Gesundheit der ihnen anvertrauten Sportler klarer fixiert werden. Erforderlich erscheint insbesondere, die Pflichten dieses Personenkreises im Training oder Wettkampf in Anwesenheit bzw. bei Abwesenheit des Trainers eindeutiger herauszuarbeiten, wobei insbesondere Wert auf Sportdisziplinen gelegt werden sollte, welche überwiegend unter freiem Himmel ausgeübt werden (alle Wassersportarten, Radsport, Wintersport, Fallschirmsport, Skisprung u. a.m.).
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Es erscheint darüber hinaus zweckmäßig, die Vorschriften entsprechend der verschiedenen Sportarten und Disziplinen zu modifizieren, wobei speziell für den Rudersport folgende Faktoren vordringlich beachtet werden sollten:
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die spezifischen Bedingungen, die sich aus örtlichen Besonderheiten von Gewässern für die Aktiven ergeben (z. B. Müggelsee, Schwielochsee),
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exakte, umfangreiche Einweisung in die besonderen Bedingungen von Gewässern bei Aktiven, die damit nicht vertraut sind (z. B. beim Training eines Leipziger Bootes in Berliner Gewässern),
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verschärfte Sicherheitsbestimmungen für die Monate Oktober bis März, welche durch plötzliche Wetterveränderungen Gefahren bringen können,
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die Notwendigkeit, Trainingsprogramme ohne ständige Anleitung durch den Trainer zu absolvieren, bedingt die Pflicht für den Trainer, die Sportler konkret in alle vorausschaubaren möglichen Gefahren einzuweisen,
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mindestens einmal im Jahr sollten Aktive und Trainer das Verhalten bei Gefahren üben und trainieren,
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vor jeder Saison sollten Trainer, Übungsleiter und Aktive an einer Schulung über Probleme der Wetterbeobachtung, individueller Auswertung von Wetterzeichen, Gefährlichkeit höherer Wellen, Wichtigkeit des Erkennens von Schaumkronen u. a.m. teilnehmen,
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die Wetterprognosen der Wetterdienststellen sind mehr in die unmittelbare Trainingsvorbereitung einzubeziehen.
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Die Ausrüstung der Begleitboote sollte verbessert werden. (Außer Reservekanister für Treibstoff müssten beim Befahren großer Seen Decken, Rettungsringe bzw. Schwimmwesten mitgeführt werden.)
Im Zusammenhang mit vorgenannten Empfehlungen wird in der Anlage die »Rahmenordnung der SV Dynamo vom 1. Juni 1975 zur Gewährleistung einer hohen Disziplin, Ordnung und Sicherheit in den Sportstätten der SV Dynamo und bei der Durchführung von Training, Wettkämpfen und anderen Veranstaltungen« beigefügt.