Einschätzung der Aktivitäten von Rudolf Bahro
August 1977
Information über Bahro, Rudolf, und seine gegen die DDR gerichteten feindlichen Aktivitäten [Bericht K 3/17]
Zum Persönlichkeitsbild:
Bahro, Rudolf, wurde am 18.11.1935 in Bad Flinsberg geboren. Er stammt aus einer Angestelltenfamilie. Nach dem Besuch der Volksschule, Zentralschule und Oberschule (Abiturabschluss) absolvierte er von 1954 bis 1959 ein Philosophiestudium an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Jahre 1954 wurde er Mitglied der SED. Anschließend arbeitete er als Redakteur einer Dorfzeitung der SED-Kreisleitung Seelow und später in der gleichen Funktion bei der Universitätszeitung in Greifswald. Von 1962 bis 1965 war er als politischer Mitarbeiter im Zentralvorstand des FDGB (Gewerkschaft Wissenschaft) tätig.
Von einer danach ausgeübten Funktion als stellvertretender Chefredakteur der Studentenzeitung »Forum« wurde er 1966 abgelöst, da er in der genannten Zeitschrift entgegen den Festlegungen der Partei die Veröffentlichung des Theaterstückes »Der Kipper Paul Bauch« – die in der DDR nicht zur Aufführung gelangte Erstfassung des Stückes »Die Kipper« – von Volker Braun, veranlasst hatte.1 Danach war Bahro in verschiedenen Betriebsteilen der VVB Gummi und Asbest als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig und ist seit 1975 als Abteilungsleiter für wissenschaftliche Arbeitsorganisationen im VE Gummikombinat Berlin, Werk IV, tätig.
Bahro hatte bereits 1956 anlässlich der konterrevolutionären Ereignisse in Ungarn2 an einer Wandzeitung der Humboldt-Universität zu Berlin einen gegen das ZK der SED gerichteten und mit seinem Namen unterzeichneten Artikel veröffentlicht. Nach dem 21.8.19683 suchte er die Botschaft der ČSSR in der DDR auf und erklärte dort, dass es für ihn als Kommunisten beschämend sei, dass sich die DDR an den Hilfsmaßnahmen vom 21.8.1968 beteiligt habe. (Intern äußerte er, damals überlegt zu haben, ob er weiter Mitglied der SED bleiben könne.)
Im Oktober 1975 reichte Bahro im Rahmen einer außerplanmäßigen Aspirantur an der Technischen Hochschule »Carl Schorlemmer«, Leuna-Merseburg, seine Dissertationsschrift zum Thema: »Voraussetzungen und Maßstäbe für die Gestaltung schöpferischer wissenschaftlicher Arbeit im industriellen Reproduktionsprozess der entwickelten sozialistischen Gesellschaft« ein.4 Aufgrund der in der Dissertationsschrift enthaltenen versteckten revisionistischen, gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung gerichteten Aussagen, wurde dieselbe abgelehnt und das Promotionsverfahren beendet.
Bahro besitzt nach vorliegenden Einschätzungen einen ausgeprägten individualistischen Charakter, leidet an maßloser Selbstüberschätzung sowie Einbildungskraft. Das spiegelt sich u. a. darin wider, dass er von der Unfehlbarkeit seiner politischen Haltung und der Richtigkeit seiner philosophischen Auffassungen fest überzeugt ist.
Ende 1974 stellte Bahro den 1. Entwurf zu einem Buch mit dem Arbeitstitel »Zur Kritik des real existierenden Sozialismus« fertig, der in den nachfolgenden Jahren von ihm noch weiter bearbeitet und ergänzt wurde.
Das in seiner gegenwärtigen Fassung vorliegende Buch unter dem Titel »Die Alternative« – Untertitel: »Zur Kritik des real existierenden Sozialismus« stellt eine gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR und den anderen Bruderstaaten gerichtete antisozialistische Plattform dar. Sie beruht auf einer Zusammenfassung modifizierter trotzkistischer, rechtsrevisionistischer, sozialdemokratischer und konvergenztheoretischer Auffassungen bis hin zu den sog. Theorien vom »Eurokommunismus«. Der Verfasser richtet seine Angriffe schwerpunktmäßig gegen die Partei der Arbeiterklasse, besonders gegen das Zentralkomitee und sein Politbüro, den sozialistischen Staat als Form der Diktatur des Proletariats, das Prinzip des demokratischen Zentralismus, die sozialistische Demokratie, die Sowjetunion und die KPdSU.
Ausgehend von der im Buch enthaltenen Grundthese, dass sich »die Partei und der sozialistische Staat ökonomisch und politisch im antagonistischen Widerspruch zu den Volksmassen befinde«, spricht sich Bahro für die Schaffung einer »kommunistischen Opposition« unter Einbeziehung gleichgesinnter Kräfte in anderen sozialistischen Ländern aus. Dabei erhofft sich Bahro die Unterstützung der Vertreter des sog. Eurokommunismus in einigen westeuropäischen kommunistischen Parteien.
Bahro versucht, unter Hinweis auf die Ereignisse in Ungarn (1956) und der ČSSR (1968) zu begründen, dass »die Parteiführungen in unseren Ländern samt ihrer Apparate der Hauptgegenstand der revolutionären Umgestaltungen« sein müssten. Wörtlich schreibt er dazu: »Alles in allem besteht in der Unkontrollierbarkeit des Politbüros und ihrer Apparate, in dieser institutionellen Identität von Staatsautorität, ökonomischer Verfügungsgewalt und ideologischem Ausschließlichkeitsanspruch der eigentliche Gegenstand der notwendigen Umgestaltungen.«5
Das Ziel dieses Buches besteht laut Bahro darin, »der kommunistischen Opposition in allen Ländern des realen Sozialismus ein theoretisches Fundament« zu bieten. Es sei für »alle an der ideologischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West interessierte Leser bestimmt«, besonders für Politologen, Soziologen, Historiker, Philosophen und Theologen. In der DDR wolle er vor allem die »halbloyale Parteiintelligenz« erreichen.
Beachtenswert ist, dass Bahro in der Phase der Aus- und Überarbeitung des Buches nur einzelne Personen von seinem Vorhaben bzw. dessen Inhalt informierte. (Intern wurde bekannt, dass u. a. die Schriftsteller Heym, Schlesinger, Plenzdorf, Stade, der Regisseur Dresen sowie die Lektorin Weist, Eleonore, eine Kopie des Buches besaßen.)
Sein ganzes Auftreten war bisher dadurch gekennzeichnet, nicht mit den Gesetzen in Konflikt zu geraten, sondern stets unterhalb der strafrechtlichen Relevanz zu bleiben. Auf seiner Arbeitsstelle verhält er sich zurückhaltend. In der Betriebsparteiorganisation – er ist gewählter Gruppenorganisator – tritt er als ein »kritisch denkender« Funktionär auf.
Seit einiger Zeit verstärkt Bahro seine Aktivitäten, das von ihm verfasste Buch zu veröffentlichen, um die von ihm langfristig angestrebte Publizität zu erreichen. Zu diesem Zwecke wurde das Manuskript seines Buches in die BRD ausgeschleust. Laut Mitteilung des Frankfurter »Börsenblattes« (BRD) ist das Buch für September 1977 unter dem Titel »Die Alternative«, Untertitel: »Zur Kritik des real existierenden Sozialismus« in der »Europäischen Verlagsanstalt GmbH«, Köln, angekündigt.6
Am 21.7.1977 und am 8.8.1977 fanden in der Wohnung des Bahro Gespräche mit dem in der DDR akkreditierten Korrespondenten des BRD-Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, Schwarz, und dem »Spiegel«-Redakteur Dr. Leick statt, in dessen Verlauf ein Interview mit Bahro gemacht wurde, das in der Ausgabe des »Spiegel« vom 22.8.1977 veröffentlicht werden soll.7
Auf Vermittlung des »Spiegel«-Korrespondenten Schwarz weilte am 19.8.1977 in der Wohnung des Bahro ein Fernsehteam des ZDF unter Leitung des in der DDR akkreditierten ZDF-Korrespondenten Dirk Sager, der ebenfalls ein Interview mit Bahro führte. Dieses Interview ist darauf angelegt, die Person des Bahro und sein Buch einem »breiten Publikum« vorzustellen. Am 20.8.1977 wurde – ebenfalls in der Wohnung des Bahro – ein Fernsehinterview durch ein Kamerateam der ARD unter Leitung des in der DDR akkreditierten ARD-Korrespondenten Lutz Lehmann aufgenommen. Die Interviews sollen in der Woche vom 22.8. bis 27.8.1977 im Rahmen der Sendungen »Kennzeichen D« (ZDF) und »Panorama« (ARD) ausgestrahlt werden.8 In diesen Interviews erläutert Bahro die wichtigsten Grundaussagen der in seinem Buch enthaltenen feindlichen Konzeption.
Außerdem bat er in den Gesprächen um die Vermittlung weiterer Kontakte zu führenden westlichen Nachrichtenagenturen und Publikationsorganen, besonders zu BBC und zum »Deutschlandfunk«.
Internen Hinweisen zufolge erarbeitete Bahro außerdem sechs Vorträge, die zur Erläuterung des Buches dienen. Diese Vorträge wurden auf Tonband gesprochen und sollen ebenfalls in das westliche Ausland geschleust worden sein.
Bahro äußerte wiederholt die Hoffnung, dass die Vorsitzenden der KP Spaniens, der IKP und der FKP sein Buch lesen und eine für ihn »positive Stellungnahme« abgeben. Er benötige die »Rückendeckung der Öffentlichkeit«, da er nach Veröffentlichung seiner Interviews mit der Festnahme durch das MfS und mit einer hohen Freiheitsstrafe rechne.
Auf der Grundlage der bisher erarbeiteten Beweise und der Veröffentlichungen in westlichen Medien zu Bahro kann,
- 1.
gegen ihn ein EV mit Haft gemäß § 106 StGB – staatsfeindliche Hetze – in Verbindung mit § 108 StGB erfolgen.9
Dabei ist zu berücksichtigen, dass
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eine Inhaftierung und Verurteilung Bahros in Verbindung mit der Veröffentlichung seines Buch-Manuskriptes und der durchgeführten Interviews zu einer Forcierung der feindlichen Angriffe gegen die DDR führen kann.
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Sollte Bahro nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens einen Antrag auf Übersiedlung in die BRD und Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen, kann, um den zu erwartenden feindlichen Angriffen wirksam zu entgegnen, ein kurzfristiger Abschluss der Ermittlungen und auf der Grundlage einer bedingten Strafaussetzung gemäß § 349 StGB10 Bahro in die BRD entlassen werden.
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- 2.
Erscheint die Einleitung eines EV gegenwärtig als nicht zweckmäßig, kann, auf der Grundlage der Veröffentlichungen in westlichen Medien,
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Frankfurter Börsenblatt / Vorankündigung des Buches: »Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus« und
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der dazu erfolgten Erläuterungen im »Spiegel« – Interview durch Bahro, das am 22.8. veröffentlicht werden soll, und der
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Ausstrahlung des Bahro-Interviews im ZDF (geplant für den 23.8.)
durch einen Beauftragten der Generalstaatsanwaltschaft Bahro eingehend auf die Einhaltung der Rechtsnormen hingewiesen werden.
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- 3.
Auf der gleichen Grundlage können durch die Partei entsprechende Maßnahmen zur Klärung der politischen Position des Bahro mit den sich daraus ableitenden Konsequenzen eingeleitet werden.