Reaktionen in der DDR auf Bahros Präsenz in den Westmedien (2)
30. August 1977
Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR zu den Veröffentlichungen über Rudolf Bahro [Bericht K 3/19a]
Nach vorliegenden Informationen ist die Reaktion der Bevölkerung der DDR zu den Veröffentlichungen über Rudolf Bahro nach wie vor im Allgemeinen als gering einzuschätzen.
Kollektivgespräche in größerem Umfang wurden nicht bekannt. Einzelmeinungen lassen häufig erkennen, dass die sich äußernden Personen Sendungen des Westrundfunks und -fernsehens zum Sachverhalt Bahro vollinhaltlich verfolgt haben.
In Diskussionen unter Arbeitern werden die durch Westsender propagierten »Thesen« des Bahro häufig verurteilt bzw. abgelehnt. Es wird betont, Bahro würde Sachverhalte verdrehen oder erfinden und dabei so weit gehen, die Tätigkeit eines Arbeiters zu verleumden.
Arbeiter betonen, die von Bahro verlauteten Gedanken seien »Spinnerei«; Arbeiter wüssten damit nichts anzufangen, sähen nicht, was er eigentlich wolle und würden auch sein während der Interviews gezeigtes Verhalten ablehnen. Wenn sich jemand anmaße, sich mit Marx gleichzustellen bzw. sich als dessen Nachfolger zu betrachten, müsse man schlussfolgern, dass er entweder an »Größenwahnsinn« leide oder in seinem Kopf sonst irgendetwas nicht in Ordnung wäre.
Trotz Ablehnung der veröffentlichten »Gedanken« des Bahro wird jedoch teilweise von Arbeitern infrage gestellt, dass es sich bei ihm um einen Spion handele, wie es die Massenmedien in der DDR dargestellt hätten.
Bei Kenntnis der westlichen Meldungen könne man sich die Meinung bilden, dass Bahro eher wegen seiner oppositionellen Haltung, die er jetzt in die Öffentlichkeit trage, inhaftiert wurde, um weitere aufwieglerische Schritte abzufangen. Ein Spion dagegen hätte sicher vermieden, sich den Massenmedien der BRD zu stellen, um nicht auf sich aufmerksam zu machen.
In diesem Zusammenhang wurde vereinzelt die »Fragwürdigkeit« und »Zuverlässigkeit« der Informationspolitik der DDR diskutiert. Von negativ eingestellten Personen wurde erklärt, dass derjenige, der kein Westfernsehen sieht, »eben dumm sterben müsse«.
Unter Angehörigen der Intelligenz ist die Resonanz auf die Veröffentlichungen um Bahro ebenfalls als gering einzuschätzen, sie ist jedoch differenzierter, und teilweise ist das Bemühen um Verständnis der von Bahro veröffentlichten Ansichten zu erkennen. Während ein Teil der sich äußernden Angehörigen der Intelligenz die Meinung vertritt, Bahro verbreite Ansichten, die er nicht aufrechthalten könne, zumal er die letzten Jahre der Entwicklung in der DDR unberücksichtigt lasse, äußern andere, Bahro sei ein »subjektiv ehrlicher, aber politisch naiver Mensch«. Bei einem kleinen Teil Intellektueller wird Interesse festgestellt, das gesamte Machwerk des Bahro1 kennenzulernen, um sich ein »objektives Bild« über seinen »Standpunkt« machen zu können.
Angehörige der wissenschaftlichen Intelligenz (Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam-Babelsberg) vertraten die Meinung, dass die Kritik des Bahro genau in die feindliche Konzeption passe und der Gegner sich offensichtlich von einem mit den ökonomischen Problemen vertrauten Wirtschaftsfunktionär größere Massenwirksamkeit erhoffe als von Leuten wie Biermann, Kunze usw. Das Gefährliche an den »Thesen« des Bahro sei, dass sie mit »Funken von Wahrheit« gespickt seien. Dadurch gehe ihm mancher »auf den Leim« und akzeptiere auch alle anderen von Bahro aufgestellten Meinungen und Probleme.
Angehörige der Intelligenz aus verschiedenen Forschungsinstituten vertraten die Meinung, die z. T. »konfusen Ideen« des Bahro würden unter Wirtschaftswissenschaftlern keine nennenswerte Resonanz finden, da sie als »unwissenschaftlich« erkannt würden. Dem Gegner würde es nicht gelingen, mit Bahro »einen zweiten Ota Sik2 zu modellieren«. Gleichzeitig wurde geäußert, es sei möglich, dass Bahro Interesse bei jungen Intellektuellen (Absolventen von Hoch- und Fachschulen bzw. Studenten) wecke, insbesondere mit der von ihm geübten Kritik gegenüber der »Parteibürokratie«. Mit Bahro habe der Gegner eine Zielgruppe – Wirtschaftsfunktionäre und junge Intellektuelle – in der DDR erreicht, die man mit Künstlern wie Biermann und Krug weder ansprechen noch in Bewegung bringen konnte. Zum Teil bestehe bei diesen Kadern nicht die Sachkenntnis darüber, dass die »Ideen« des Bahro nicht neu seien, sondern bereits bei solchen Dissidenten wie Miloran, Dzilas und Perkinson3 zu lesen gewesen seien. In seiner Diktion hätte Bahro viele Begriffe übernommen, die von Carillo4 und anderen »Eurokommunisten« stammen.
Teilweise wird von Angehörigen der Intelligenz, aber auch mehrfach von Arbeitern, hervorgehoben, die von Bahro kritisierten Missstände in der Wirtschaft der DDR seien real. In den Betrieben herrsche zum Teil eine »Lotterwirtschaft«, Material werde vergeudet und Arbeitszeit nicht ausgenutzt. In einigen Betrieben würden »Klamotten« produziert, von denen von vornherein feststehe, dass sie nicht benötigt und unnütz liegen bleiben würden. Bahro habe Probleme aufgeworfen, die Ausdruck des »überall herrschenden Unbehagens in der DDR« seien. Dies beziehe sich vor allem auf die teilweise bestehende »Unfähigkeit und Verantwortungslosigkeit mittlerer Kader und die daraus resultierende Dämpfung des Interesses an der Arbeit«. An den z. T. bestehenden »Schlampereien« in den Betrieben seien nicht die Arbeiter schuld, sondern die Funktionäre. Endlich habe einer »den Mut gefunden«, die »wahren Verhältnisse der Wirtschaftstätigkeit in der DDR offen zu kritisieren«. Bahro habe diese Tatsache nur »zu wissenschaftlich dargelegt«, deshalb fühle sich der Arbeiter nicht so richtig angesprochen.
Ein Laborleiter eines größeren Werkes in der Hauptstadt meinte, Bahro habe »beachtenswerte Gedanken« geäußert, die unbedingt auch »an höherer Stelle« ausgewertet werden müssten. Es stimme, dass Funktionäre der mittleren Ebene in der Wirtschaft nicht auf höchsten gesellschaftlichen Nutzen hinarbeiten, sondern eine »persönliche Absicherungstaktik« anwenden würden. Damit gestalte sich jedoch die Wirtschaft in der DDR zunehmend starr und unbeweglich, und effektive Vorschläge würden nicht von unten nach oben geleitet.
In einigen Fällen – besonders unter Arbeitern – wurde die Frage aufgeworfen, wieso Bahro jahrelang unbehelligt und unerkannt dieses Buch habe schreiben und damit noch über das BRD-Fernsehen in die Öffentlichkeit treten können, ohne dass er rechtzeitig erkannt und unschädlich gemacht worden sei. Während der Diskussion darüber, was nun mit Bahro weiter geschehen werde, wurde geäußert, wie lange es die DDR noch durchstehen könne, »alle 14 Tage« jemanden auszuweisen bzw. zu inhaftieren. Dabei müsse inkauf genommen werden, dass auch einige westeuropäische kommunistische Parteien – insbesondere die Vertreter des »Eurokommunismus« – gegenüber der DDR mit Kritik antworten würden.