Reaktionen auf Westreisen von staatskritischen Künstlern
8. August 1977
Hinweise über Reaktionen progressiver Kulturschaffender zur Reisetätigkeit negativer Kunst- und Kulturschaffender in nichtsozialistische Staaten [Bericht K 3/15]
Nach dem MfS vorliegenden, zum Teil internen Hinweisen mehren sich in letzter Zeit die Reaktionen progressiver Kunst- und Kulturschaffender im Zusammenhang mit der Reisetätigkeit von als negativ bekannten Kunst- und Kulturschaffenden in nichtsozialistische Staaten. Durch diese Reisen derartiger Kräfte in kapitalistische Staaten und deren Auftreten werde ein falsches bzw. verzerrtes Bild über die DDR-Literatur verbreitet.
Da die Mehrzahl der zur DDR stehenden progressiven Schriftsteller jedoch keine Devisen besitze (die Werke dieser Kulturschaffenden werden in nichtsozialistischen Staaten nicht verlegt bzw. werden von den fortschrittlichen Kräften gar nicht zum Verlegen angeboten), seien sie hinsichtlich der Gewährung von entsprechenden Auslandsreisen in der Regel meist benachteiligt. (Günter Görlich, Harald Hauser, Peter Edel, Ruth Werner) Durch die bevorzugte Genehmigung von Reisen in nichtsozialistische Staaten und andere »Privilegien« werde die negative politische Grundposition und das gesamte Verhalten dieser Kräfte praktisch noch »begünstigt«. (Rainer Kerndl,1 Rudi Strahl, Eva und Erwin Strittmatter) Ähnliche Auffassungen wurden auch von den Schriftstellern Sakowski, Baierl und Kohlhaase geäußert.
Auch leitende Verlagsmitarbeiter geben in zunehmendem Maße ihrer Verwunderung Ausdruck, dass negative Kulturschaffende in einem derartigen Umfang Genehmigungen für Reisen in nichtsozialistische Staaten erhalten (z. B. Dr. Voigt – Aufbau Verlag, Jürgen Gruner – Verlag Volk und Welt).
In zum Teil kritischer Form wird von progressiven Kulturschaffenden angesprochen, dass z. B. ausschließlich solchen negativen Kräften wie Kunert, Plenzdorf, Christa und Gerhard Wolf »die Propagierung der Literaturpolitik der DDR in den USA übertragen sei«. (z. B. die Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Prof. Hans Koch, Prof. Horst Keßler, Hans-Jürgen Geisthardt,2 Gerhard Bengsch, Wolfgang Joho, Dr. Karl-Heinz Scheidt, Eva Strittmatter) Eine derartige Praxis verstärke nach Meinung progressiver Kulturschaffender den Eindruck, dass negativen Kulturschaffenden »Zugeständnisse« gemacht werden, anstatt sich prinzipiell mit ihnen auseinanderzusetzen. Für das Vorgehen dieser negativen Kräfte sei in diesem Zusammenhang typisch, sich mit entsprechenden Anliegen meistens unmittelbar an »höchste Partei- und Staatsorgane« zu wenden (insbesondere bei Reisen) und entsprechende Entscheidungen zu erwirken.
Im Zusammenhang mit der Reisetätigkeit negativer Kulturschaffender in nichtsozialistische Staaten wurde dem MfS darüber hinaus intern bekannt, dass der überwiegende Teil dieser Kräfte sich offensichtlich aus taktischen Erwägungen während des Auslandsaufenthaltes offener provokatorischer Handlungen und Äußerungen gegen die DDR enthielt. Ihnen und ihren westlichen Gesprächspartnern geht es vordergründig um die Kommunikation gleichgesinnter Kräfte, mit dem Ziel, ideologische Stützpunkte des Gegners in der DDR weiter zu inspirieren, auszurichten bzw. zu steuern. Einzelne Kräfte unterhielten während ihrer Reisen Kontakte zu feindlichen Personen im kapitalistischen Ausland. Dafür einige wesentliche Beispiele:
Hermlin, Stephan, reiste mehrmals besuchsweise auf Dauer-Visum nach Westberlin. Gegenwärtig ist Hermlin im Besitz eines bis 31.12.1977 gültigen Dauer-Visums für Westberlin zum Besuch von Ausstellungen und Museen. Intern ist bekannt, dass Hermlin diese Reisen zu Zusammenkünften mit dem langjährigen Verleger Biermanns in Westberlin, Wagenbach, und dessen Ehefrau benutzte.
Schneider, Rolf, reiste vom 22.4. bis 15.5.1977 zehnmal zu Theateraufführungen seiner Stücke nach Westberlin, vom 19.6. bis 21.6.1977 und vom 1.7. bis 3.8.1977 aufgrund von Einladungen des österreichischen Bundeskanzlers Kreisky und der Gesellschaft für Literatur Österreichs3 zu Lesungen bzw. einem Urlaubsaufenthalt nach Österreich.
Kirsch, Sarah, reiste am 29.4.1977 zur Beisetzung des verstorbenen Westberliner Schriftstellers Günter Bruno Fuchs nach Westberlin, vom 25.5. bis 27.5.1977 und 19.6. bis 26.6.1977 nach Hamburg zu Lesungen. Intern wurde bekannt, dass die Kirsch während ihrer Reise nach Hamburg im Mai 1977 in Westberlin mit Thomas Brasch4 nach vorheriger Vereinbarung zusammentraf. Im Juni 1977 hatte die Kirsch in Hamburg eine Zusammenkunft mit Biermann, in dessen Auftrag sie einen Brief an Havemann in die DDR überbrachte und Havemann persönlich übergab. Auf der Rückreise von Hamburg traf die Kirsch in Westberlin mit Manfred Krug5 zusammen.
Fühmann, Franz, reiste vom 6.1. bis 9.1.1977 in die BRD zu einer Jubiläumsveranstaltung des Suhrkamp-Verlages Frankfurt/M. und vom 17.4. bis 1.5.1977 nach Österreich zu Lesungen.
Mueller-Stahl, Armin, reiste vom 2.7. bis 13.7.1977 gemeinsam mit seiner Ehefrau zu seiner erkrankten Mutter nach Bad Pyrmont/BRD. Diese Reise benutzte Mueller-Stahl zu einem Zusammentreffen mit Biermann in dessen Wohnung in Hamburg.
Schlesinger, Klaus, Wegner, Bettina, reisten vom 26.5. bis 18.6.1977 (Schlesinger) bzw. vom 26.5. bis 12.6.1977 (Wegner) nach Frankreich zur Sammlung von Material für eine Kleist-Erzählung.
Braun, Volker, reiste vom 10.2. bis 18.2.1977 nach Mannheim/BRD zur Erstaufführung seines Theaterstückes »Tinka«,6 vom 19.4. bis 27.4.1977 nach Mannheim und Kassel zur Premiere dieses Stückes. Vom 4.6. bis 16.6.1977 weilte er in Freiburg/BRD und Zürich/Schweiz zu Lesungen und Materialsammlungen.
Brasch, Thomas, ist im Besitz eines unbefristeten Ausreisevisums und reiste im Februar, März und April 1977 wiederholt in die Hauptstadt der DDR ein. Brasch benutzte diese Einreisen, um mit Sarah Kirsch, Klaus Schlesinger und Heiner Müller zusammenzutreffen.
Ausgehend von der geschilderten Situation sollte die internationale Arbeit, insbesondere die Reisetätigkeit in nichtsozialistische Staaten, im kulturellen Bereich straffer organisiert werden. Konsequente Anwendung der existierenden staatlichen Normative und Richtlinien sind Voraussetzungen. Gegenwärtig publizieren die in das nichtsozialistische Ausland reisenden Schriftsteller in erster Linie ihre eigenen, ihre individualistischen Auffassungen widerspiegelnden literarischen Arbeiten (sogenannte Wolf-Literatur, Schneider-Literatur usw.). Sie repräsentieren nicht die sozialistische Nationalkultur der DDR. Diese müsste jedoch Maßstab für Reisen in nichtsozialistische Staaten sein. Reisen, die diesem Zweck nicht dienen (ausgenommen Reisen aus kommerziellen Gründen und Studienreisen) sollten nicht genehmigt werden. Mit Kulturschaffenden, die sich während ihrer Auslandsaufenthalte nicht entsprechend den an sie zu stellenden politischen Anforderungen verhalten, sollten prinzipielle politisch-ideologische Auseinandersetzungen geführt und weitere Ausreisen von ihrem Verhalten abhängig gemacht werden.
Ebenfalls sollte die generelle Auswahl der Kader, die im Ausland auftreten, grundsätzlich verbessert werden. Es sollten konkrete Konzeptionen für die Reisetätigkeit zur Repräsentation unserer sozialistischen Kultur im westlichen Ausland erarbeitet werden, in denen in erster Linie klassenbewusste, parteiverbundene, progressive Kulturschaffende zu berücksichtigen sind.
Beachtung verdienende mögliche Auswirkungen bzw. Zusammenhänge
Großzügige Genehmigung von Reisen wird bekannt, auch dadurch, dass solche Personen Verbindungen haben, z. B. zu Angehörigen der wissenschaftlichen, wissenschaftlich-technischen, medizinischen usw. Intelligenz. Es kann damit gerechnet werden, dass auch aus diesen und anderen Kreisen Wünsche bzw. Forderungen im Sinne der Genehmigung von Reisen in das kapitalistische Ausland geltend gemacht werden. (Auch hier mögliches »Argument«: Negative sind nicht die geeigneten Repräsentanten der DDR.)