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Vorbereitungen Stefan Heyms für eine Anthologie im Bertelsmann-Verlag

15. Juni 1977
Information Nr. 406/77 über Aktivitäten Stefan Heyms zur Vorbereitung einer Anthologie von DDR-Literatur, die im Bertelsmann-Verlag München erscheinen soll

Dem MfS wurde intern zuverlässig bekannt, dass Stefan Heym unter dem Titel »Auskunft II« eine Anthologie über DDR-Literatur für den Bertelsmann-Verlag, München, vorbereitet, die im Frühjahr 1978 erscheinen und zwei Bände umfassen soll.1

Die geplante Anthologie soll an die von Stefan Heym Ende Juli/Anfang August 1974 in der Autoren-Edition des Bertelsmann-Verlages herausgegebene Anthologie »Auskunft – Neue Prosa aus der DDR«2 anknüpfen.

An dieser Anthologie – für 20,00 DM im Angebot in der BRD – waren in 36 Prosastücken 35 DDR-Schriftsteller beteiligt, unter ihnen Anna Seghers, Herman Kant, Ulrich Plenzdorf, Irmtraud Morgner, Peter Hacks, Franz Fühmann, Christa Wolf, Heiner Müller, Fritz Selbmann, Martin Stade, Klaus Schlesinger, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Günter de Bruyn, Volker Braun, Jurij Brezan, Rolf Schneider, Bernd Jentzsch, Stephan Hermlin, Karl-Heinz Jakobs, Reiner Kunze, Heinz Kamnitzer.

Heym, der die Autoren gewonnen und ihre Arbeiten für den Bertelsmann-Verlag zusammengestellt hatte, trat als Herausgeber auf, ohne sich mit einem eigenen Beitrag zu beteiligen.

Am 11.7.1974 war die Anthologie – Auskunft I – in der Zeitschrift »Stern« Nr. 29 wie folgt angekündigt worden:

»DDR-Literatur: Abschied von der Partei-Prosa. Nirgends außerhalb der Grenzen der DDR gibt es eine deutsche Literatur solchen Charakters … Heym hat für seine Sammlung die Elite der ostdeutschen Autoren gewonnen … Da zeigt sich, dass die öde Partei-Prosa des sozialistischen Realismus überwunden ist: stattdessen nehmen sich die Schriftsteller heute, laut Heym, den größtmöglichen Spielraum für Phantasie und Experiment.«3

Im Vorwort der Anthologie – Auskunft I – stellt Heym fest, dass er selbst von der Vielfalt der Handschriften und Formen der von ihm aufgeforderten Autoren überrascht worden sei. »Obwohl nicht belehrt wird, lernt der Leser doch mancherlei; der berüchtigte positive Held ist nicht mehr, aber das Positive klingt durch; jener sozialistische Realismus, der weder sozialistisch noch realistisch war, sondern ein Klischees erzeugender Klischeebegriff, scheint überwunden zu werden, und an seine Stelle tritt ein Realismus, der von Menschen im Sozialismus berichtet, Menschen mit ihren Widersprüchen … Die bei fast allen Autoren spürbare kritische Haltung … richtet sich nicht gegen den Sozialismus …«

Die einzelnen kurzen Beiträge der Autoren dieser Anthologie haben sehr unterschiedliche Aussagen, ihr Gesamteindruck ist jedoch trotz einiger politisch zweideutiger Beiträge positiv.

So schildert Stephan Hermlin in dem Beitrag »Die Kommandeuse«, wie durch die Ereignisse des 17.6.1953 eine ehemalige KZ-Aufseherin zeitweilig aus dem Gefängnis befreit wird und sich getreu ihrer Vergangenheit in die Reihen der faschistischen Provokateure einreiht.4 Christa Wolf schildert aus der subjektiven Sicht ihrer damaligen Empfindungen den Tag der Befreiung und hiervon ausgehende erste Denkanstöße. Bernd Jentzsch parodiert die geschraubten Formulierungen einer neu erlassenen Stadtordnung. Ulrich Plenzdorf stellt in Auszügen aus einem Szenarium dar, wie eine junge Lehrerin vor ihrer Klasse eingesteht, ihr sei es nicht gelungen, bei den Schülern Mut zu einer eigenen Meinung zu wecken, sie selbst habe das »bloße Nachbeten von Thesen und Heuchelei« verursacht, obwohl Zweifel an diesen Thesen, kritische Anfragen nötig gewesen seien. Reiner Kunze beschreibt auf nur zwei Seiten, dass überlaute Musik, verrückte Kleidung, Unordnung in den persönlichen Dingen Ausdruck des Strebens eines 15-jährigen Mädchens nach altersgemäßer Identität und Ausdruck persönlicher Freiheit seien.5

Heym unternimmt seit Anfang 1977 Initiativen für eine neue Anthologie »Auskunft II«, wobei er im April/Mai 1977 eine Reihe von Schriftstellern anschrieb und um ihre Mitarbeit bat. Nach eigenen vertraulichen Äußerungen hat er bisher ca. 60 Autoren zur Mitarbeit aufgefordert, darunter, Hermann Kant, Sarah Kirsch, Irmtraud Morgner, John Erpenbeck, Wolfgang Kohlhaase, Martin Stephan, Volker Braun, Christa Wolf, Gerhard Wolf, Dieter Schubert, Fritz-Rudolf Fries, Rolf Schneider, Günter Kunert, Jurek Becker, Günter de Bruyn, Heiner Müller, Klaus Poche, Peter Brasch, Hans Joachim Schädlich, Katja Lange, Wolfgang Müller, Benito Wogatzki. Heym wolle außerdem eine Reihe von Nachwuchsautoren ansprechen, um sie für »Auskunft II« zu gewinnen.

Er orientiert die Autoren auf geschlossene, in der BRD noch nicht veröffentlichte Prosastücke in einer Länge bis zu 15 Manuskriptseiten. Als thematische Vorgabe wurde durch Heym »DDR im weitesten Sinne« angegeben. Den angeschriebenen Schriftstellern teilte er mit, der Bertelsmann-Verlag biete ein Honorar von 40,00 DM pro Druckseite. Die Zusammenstellung der Anthologie will Heym im September 1977 abschließen.

Unterstützt wird Heym bei der Vorbereitung der neuen Anthologie durch den Chefredakteur des Buchverlages »Der Morgen« Heinfried Henniger, welcher ihn u. a. bei der Auswahl der Autoren berät.

Wie bereits 1974 informierte Stefan Heym den Stellvertreter des Ministers für Kultur und Leiter der HV Verlage und Buchhandel, Genossen Höpcke, über sein Vorhaben. Genosse Höpcke habe die Mitteilung, die ihm Heym während eines Zusammentreffens anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse 1977 gemacht hat, zur Kenntnis genommen und darum gebeten, das Manuskript der Anthologie rechtzeitig vorzulegen.

Vom MfS wurden entsprechende Maßnahmen eingeleitet, um die Aktivitäten von Heym zur Herausgabe der Anthologie »Auskunft II« weiter zu verfolgen. Durch die zuständigen Organe sollten die offiziellen Möglichkeiten genutzt werden, um die von Heym zur Beteiligung an der Anthologie aufgeforderten und als positiv bekannten Schriftsteller dahingehend zu beeinflussen, dass sie solche Beiträge vorlegen, die die DDR-Literatur würdig repräsentieren.

Außerdem wird vorgeschlagen, bei Vorliegen weitere Kenntnisse über das Gesamtvorhaben und in Abhängigkeit vom Charakter der Beiträge zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen der Herausgabe der Anthologie zugestimmt werden kann. Dabei sollte gleichzeitig beachtet werden, dass die urheberrechtlichen Bestimmungen für Veröffentlichungen in Verlagen anderer Länder eingehalten werden.

[Alternative Variante der letzten Seite der Information]6

Mit dem Ziel zu verhindern, dass sich Heym mit dieser Anthologie eine Basis unter bestimmten Schriftstellern des Berliner Verbandes schaffen, diese in der BRD und anderen Ländern gezielt hochspielen und in seinem Sinne zersetzend beeinflussen kann, werden vom MfS folgende Maßnahmen vorgeschlagen:

  • Durch den stellvertretenden Minister für Kultur und Leiter der HV Verlage und Buchhandel, Genossen Höpcke, der durch Heym Kenntnis von diesem Vorhaben erhielt, ist eine Entscheidung herbeizuführen, ob und unter welchen Bedingungen einer Herausgabe der Anthologie im Bertelsmann-Verlag München zugestimmt werden kann.

  • Heym ist durch Genossen Höpcke entsprechend der bereits getroffenen Vereinbarung aufzufordern, das Manuskript rechtzeitig vorzulegen.

  • Der Schriftstellerverband der DDR sollte veranlasst werden, die von Heym zur Beteiligung an der Anthologie aufgeforderten und als positiv bekannten Schriftsteller dahingehend zu beeinflussen, dass sie von Heym Kenntnis über den Gesamtinhalt des Manuskriptes fordern. Ihre Beteiligung an der geplanten Anthologie sollte von einer politisch klaren Aussage des Gesamtmanuskriptes im Sinne der DDR abhängig gemacht werden.

  • Nach Prüfung des Manuskriptes ist über dessen Veröffentlichung in der BRD eine endgültige Entscheidung herbeizuführen.

  • Bei notwendigen Veränderungen ist seitens des stellv. Ministers für Kultur und Leiters der HV Verlage und Buchhandel, Genossen Höpcke, mit Heym ein klärendes Gespräch zu führen.

  • Heym sollte darauf hingewiesen und aufgefordert werden, die urheberrechtlichen Bestimmungen für Veröffentlichungen in Verlagen anderer Länder einzuhalten.

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    21. Juni 1977
    Information Nr. 408/77 über Aktivitäten des Manfred Krug im Zusammenhang mit seiner Übersiedlung in die BRD

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    14. Juni 1977
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