Bevölkerungsreaktionen auf den KPdSU–Parteitag (1)
2. März 1981
Erste Hinweise über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zum XXVI. Parteitag der KPdSU [Bericht O/93a]
Hinweisen aus allen Bezirken der DDR und der Hauptstadt Berlin zufolge finden der Verlauf des XXVI. Parteitages der KPdSU und die veröffentlichten Dokumente in allen Kreisen der Bevölkerung der DDR große Resonanz. In breitem Umfang informiert sich die Bevölkerung der DDR über die Kommunikationsmittel der DDR, während zahlreiche politisch interessierte Bürger gleichzeitig die Veröffentlichungen der Dokumente verfolgen.1 In vielen Fällen ist das Studium der Materialien noch im Gange.
Obwohl vielfach die detaillierte Kenntnis der umfassenden Veröffentlichungen noch fehlt, hat sich die Mehrheit der interessierten Bürger einen ersten Überblick über den Inhalt verschafft, in erster Linie bezogen auf den vom Genossen Breschnew vorgetragenen Bericht.
In der Reaktion der Bevölkerung der DDR spiegelt sich überwiegend eine positive Haltung und Zustimmung zu den Ausführungen im Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU wider.
Im Mittelpunkt der zustimmenden Äußerungen stehen die Initiativen und neuen Vorschläge der SU zur Minderung der Kriegsgefahr, zur Zügelung des Wettrüstens sowie zur militärischen Entspannung und Abrüstung in Europa. Hervorgehoben wird der Friedenswille des Sowjetstaates, wobei die unterbreiteten Vorschläge als konstruktiv, durchaus realisierbar und als eine konsequente Fortsetzung der Friedenspolitik der SU bewertet werden.
Mehrfach wird betont, dass auf diese von der internationalen Öffentlichkeit stark beachteten Vorschläge die betroffenen imperialistischen Mächte zu antworten verpflichtet seien, insbesondere seitens der NATO-Staaten.
Weitere umfassende zustimmende Äußerungen zum Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU beinhalten Aussagen in der Hinsicht,
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es sei eine tiefgründige Analyse der weltpolitischen Lage erfolgt, wobei eine sachliche, konstruktive und optimistische Einschätzung der internationalen Situation besonders hervorzuheben sei;
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die auf Frieden, Abrüstung und Entspannung gerichtete Außenpolitik der KPdSU sei durchgängig in allen Passagen des Berichts spürbar und besonders zu begrüßen;
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es seien weitere Impulse für die Verhandlungen in Wien2 und Madrid3 sowie vielfältige Ansatzpunkte für den Dialog mit westlichen Politikern gegeben worden;
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die klare Perspektive für die weitere Vertiefung der Zusammenarbeit der sozialistischen Länder sei von großer Bedeutung, und der Befreiungskampf der Völker der Dritten Welt habe einen gebührenden Platz im Bericht erhalten;
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zur Entwicklung in der VR Polen sei der Standpunkt der KPdSU bekräftigt worden, und es sei zu begrüßen, dass die konterrevolutionären Machenschaften verurteilt wurden mit der klaren Aussage, ihnen werde eine Niederlage bereitet.4
In zahlreichen Meinungsäußerungen wird zustimmend hervorgehoben, der Parteitag der KPdSU habe bekräftigt, dass sich die SU im Bündnis mit den sozialistischen Staaten von imperialistischen Großmächten nicht erpressen lässt und alles unternehmen werde, dass sich das militärische Gleichgewicht nicht zugunsten der NATO verändern werde.
Mit Genugtuung wird erwähnt, Genosse Breschnew habe auf die Ausfälle des USA-Präsidenten Reagan, insbesondere im Hinblick auf die von diesem in Aussicht gestellte Erhöhung des Rüstungsetats zum Zwecke der atomaren Aufrüstung, sehr sachlich reagiert. Gleichzeitig erheben sich bei zahlreichen Bürgern Fragen, inwieweit diese Entwicklung Konsequenzen auf die Finanzhaushalte und auf die gesamte Wirtschaftslage der sozialistischen Länder haben werde.
Von Mitgliedern der SED und fortschrittlichen Bürgern wird die richtungsweisende Orientierung für die politisch-ideologische und parteierzieherische Tätigkeit der Partei und ihrer Mitglieder hervorgehoben.
Zustimmung findet die offene und konstruktive Auseinandersetzung mit in der UdSSR noch vorhandenen Mängeln und Schwächen. In den Darlegungen werde sichtbar, dass Mängel direkt angesprochen würden, gleichzeitig aber auch konstruktive Lösungswege dafür aufgezeigt würden.
Positiv wurde hervorgehoben, dass im Rechenschaftsbericht gute Erfahrungen der sozialistischen Bruderländer dargestellt wurden, wobei die Bereitschaft der KPdSU zu erkennen sei, diese im Interesse der eigenen Sache unter Beachtung der konkreten Entwicklungsbedingungen anzuwenden. In Einzelfällen wurde – darauf Bezug nehmend – erklärt, die Bruderländer sollten die bisweilen »überspitzt« ausgelegte Losung »Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen« neu überdenken.
Ebenfalls vereinzelt werden Bedenken geäußert, die im Rechenschaftsbericht der KPdSU enthaltenen kritischen Aussagen und Ansatzpunkte zur Entwicklung im eigenen Lande könnten den gegnerischen Massenmedien Stoff für eine zielgerichtete forcierte Hetze gegen die SU und die sozialistischen Staaten liefern. Andererseits wird aber betont, dies habe die Parteiführung der SU sicher in Rechnung gestellt, weil die Hetze dem Land im Grunde keinen Schaden zufügen könne.
Vor allem bei politisch interessierten Bürgern findet die Ansprache des Genossen Honecker an den KPdSU-Parteitag Beachtung und Zustimmung. Begrüßt wird die absolute Übereinstimmung der Standpunkte zu allen Fragen der internationalen Entwicklung, vor allem der Friedensbestrebungen und des festen Willens zur Abrüstung. Das Auftreten vor dem KPdSU-Parteitag sei ein erneuter Beweis der engen Freundschaft zwischen beiden Ländern sowie der Verbundenheit und konkret fassbaren Beziehungen.
Von progressiven Bürgern wurde in diesem Zusammenhang betont, Worte allein würden nicht nutzen, sondern es müsste Klarheit bestehen oder geschaffen werden, dass der revolutionäre Prozess materiell, politisch und ideologisch unterstützt werden müsse.
In geringem Umfang liegen skeptische, zum Teil auch negative bis feindliche Meinungsäußerungen aus den Bezirken der DDR vor, wobei letztere überwiegend aus dem MfS bekannten Personenkreisen mit feindlich-negativen Grundhaltungen zur DDR und zur sozialistischen Gesellschaftsordnung festgestellt wurden.
Aus den meisten Äußerungen ist zu entnehmen, dass sie aus Kommentaren westlicher Massenmedien stammen bzw. sich daran orientieren.
Skeptische Meinungen tendieren häufig in die Richtung, die Vorschläge und Friedensinitiativen der KPdSU wurden bei den betreffenden imperialistischen Mächten sowieso nicht auf Entgegenkommen stoßen und seien im Grunde zwecklos; die Aufrüstung ginge immer weiter; die wachsende Kriegsgefahr lasse sich nicht abwenden.
Andere Einzelmeinungen greifen die im Rechenschaftsbericht enthaltenen Passagen zu kritikwürdigen Entwicklungstendenzen auf, wobei solche Auffassungen vertreten werden, die SU sei nach 64-jährigem Bestehen und bei riesigen Bodenschätzen sowie Landwirtschaftsressourcen nicht in der Lage, der Gesamtbevölkerung ein gehobenes Lebensniveau zu bieten, sodass auch heute über Probleme der Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung auf höchster Ebene beraten werden müsse. Einzelne Äußerungen beinhalten in diesem Zusammenhang, die DDR müsse unter diesen Umständen auch darauf verzichten, sich in näherer Zukunft dem Lebensstandard westlicher Länder anzunähern. Die DDR sei mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert und schaffe es trotz exakt vorberechneter Planperioden und Produktionssteigerungen ebenfalls nicht, sie zu beseitigen.
Verhältnismäßig breite Meinungsäußerungen gibt es zum persönlichen Auftreten des Genossen Breschnew und sein »Durchhaltevermögen« während des anstrengenden Kongresses.
Während zahlreiche progressive Bürger große Anerkennung zum persönlichen Einsatz des Genossen Breschnew in Durchführung des KPdSU-Parteitages sowie zu seinem persönlichen Engagement für die Sache des Friedens zum Ausdruck bringen, gibt es auch Äußerungen dahingehend, Genosse Breschnew hinterlasse den optischen Eindruck eines sehr gealterten und akut Kranken. Offensichtlich in Auslegung an Kommentaren westlicher Medien wird betont, Genosse Breschnew habe lediglich den Anfang und Schluss des Rechenschaftsberichtes selbst verlesen, der große Zwischenteil sei von anderen Funktionären verlesen worden.
In diesem Zusammenhang wurde mehrfach zum Ausdruck gebracht, das hohe Alter der führenden Funktionäre der KPdSU insgesamt stimme sehr bedenklich. Es wird erwartet, dass der Parteitag der KPdSU bzw. ein befugtes Gremium unmittelbar danach Maßnahmen zur Verjüngung des Funktionärsbestandes einleitet, wobei sich dies auch auf die Person des Genossen Breschnew beziehen könnte. Häufig wird darauf verwiesen, dass auch nach Maßnahmen zur Verjüngung des Funktionärsapparates auf die Erfahrung der alten Genossen nicht verzichtet werden sollte, wobei die Erfahrung, Sachlichkeit und Konstruktivität des Genossen Breschnew z. B. unbedingt weiter genutzt werden müssten.
Andere Äußerungen beinhalten in Einzelmeinungen:
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der Rechenschaftsbericht hätte nichts Neues gebracht, alles sei bereits bekannt, und die Veranstaltung habe man sich »sparen« können;
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der Parteitag sei ein »großer Rummel«, eine »Agitationsschau großen Ausmaßes«, praktische Ergebnisse könne er jedoch nicht abrechnen;
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die KPdSU sei im eigentlichen Sinne keine Arbeiterpartei, da der Anteil der Mitglieder, die Arbeiter sind, immer weiter zurückgehe;
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auch der Parteitag der KPdSU habe die Sekretäre der Kommunistischen Parteien nicht »unter einen Hut« bringen können, denn die sogenannten Eurokommunisten hätten nur ihre »zweiten Garnituren« entsandt;5
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die Ergebnisse der Wirtschaftspolitik der KPdSU seien unbefriedigender als von manchem bisher angenommen; die Unterstützung wiederauflebender individueller Hauswirtschaften erbringe dafür den Beweis.