Aktionstag für die Relegierten der Ossietzky-Schule
28. November 1988
Information Nr. 522/88 über kirchliche Veranstaltungen im Rahmen des sogenannten Aktionstages gegen die Relegierung von Schülern der EOS »Carl von Ossietzky« Berlin
Wie bereits in der Information des MfS Nr. Jahrgang 1988508/88 vom 22. November 1988 angekündigt, planten feindlich-negative Kräfte und kirchliche Basisgruppen am 27. November 1988 im Rahmen von kirchlichen Veranstaltungen einen »DDR-weiten Aktionstag« gegen die Relegierung von vier Schülern der EOS »Carl von Ossietzky« Berlin-Pankow.
Durch das MfS wurden daraufhin im engen Zusammenwirken mit den zuständigen staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen umfangreiche komplexe Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung des politischen Missbrauchs kirchlicher Veranstaltungen und provokatorisch-demonstrativer öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten eingeleitet.
Im Ergebnis dessen kam es nur vereinzelt zu Solidarisierungsbekundungen und themenbezogenen kirchlichen Veranstaltungen im Sinne des »Aktionstages«, so in der Hauptstadt der DDR, Berlin, in Dresden, Halle, Leipzig, Jena/Gera, Magdeburg, Potsdam und Wismar/Rostock.
Im Rahmen von »Fürbitten«, dem Abfassen von »Eingaben« bzw. »Protesterklärungen« – verbunden mit der Sammlung von Unterschriften –, wurde gegen die Relegierung der genannten Schüler »protestiert« und diesen Unterstützung und Beistand bekundet. In Beiträgen wurden ferner in Anlehnung an den bekannten »DDR-weiten Aufruf« (vgl. Anlage zur Information des MfS Nr. 508/88 vom 22. November 1988) Forderungen zur Veränderung des Bildungswesens in der DDR erhoben.
Es kam zu keinen, die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Vorkommnissen.
Beachtenswerte Hinweise zu einzelnen kirchlichen Veranstaltungen am 27. November 1988:
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An der vom sogenannten Arbeitskreis Erziehung und Bildung des »Friedenskreises« der Gethsemanegemeinde Berlin-Prenzlauer Berg organisierten Veranstaltung in der Gethsemanekirche (20.00 bis 21.30 Uhr) nahmen ca. 600 Personen – darunter ca. 150 Übersiedlungsersuchende – teil. Die Leitung dieser Veranstaltung hatte das Mitglied des o. g. »Friedenskreises«, Dankwart Kirchner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Klinikum Berlin-Buch.
In seiner Predigt brachte Superintendent Görig u. a. zum Ausdruck, Staat und Kirche seien in der DDR getrennt, aber die Bildung sei ein gesamtgesellschaftliches Problem.
Der hinlänglich bekannte Reinhard Schult (machte als erster den »DDR-weiten Aufruf« bekannt) informierte darüber, dass am 8. Dezember 1988 in der »Umweltbibliothek« (Zionskirche) ein sogenanntes Ideengespräch zum weiteren möglichen Vorgehen in dieser Angelegenheit stattfinden solle. Seitens des »Arbeitskreises Erziehung und Bildung« wurde mitgeteilt, man wolle am 28. November 1988 erstmalig und danach jeden 2. Mittwoch im Monat zusammenkommen, um »fundierte Eingaben« an den Pädagogischen Kongress im Jahre 1989 zu erarbeiten.
In der Kirche waren vorbereitete Unterschriftenlisten zur Solidarisierung mit den EOS-Schülern ausgelegt. Ca. 50 Anwesende unterzeichneten. Nach Veranstaltungsende entzündeten einzelne Personen in der Kirche Kerzen und stellten diese vor der Kirche (auf kircheneigenem Gelände) ab. Sie wurden von kirchlichen Mitarbeitern unmittelbar darauf gelöscht.
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In den Räumen der Zionskirchgemeinde Berlin-Prenzlauer Berg fand unter maßgeblicher Mitwirkung der bekannten Personen Reinhard Schult, Katharina Harich und Uwe Bastian von 18.00 bis ca. 19.15 Uhr eine Veranstaltung statt, an der ca. 200 Personen, darunter Kräfte des politischen Untergrundes, teilnahmen.
Mehrere betroffene ehemalige Schüler der EOS »Carl von Ossietzky« (Maßnahmen zur eindeutigen Identifizierung sind eingeleitet) gaben eine Selbstdarstellung der Ereignisse. Die Harich sprach zu »pädagogischen Aspekten« der Volksbildung in der DDR, während Schult politisch negative Ausführungen zu Recht und Freiheit machte. Bastian bezeichnete die Relegierung der Schüler, das »Verbot« des Magazins »SPUTNIK« und die Absetzung von sowjetischen Filmen vom laufenden Programm als »typische Symptome für Unmündigkeit« in der DDR.
Im Verlaufe der Veranstaltung wurden die bekannten Informationsmaterialien zu den Ereignissen an der EOS »Carl von Ossietzky« verbreitet.
An beiden vorgenannten Veranstaltungen nahm eine Reihe westlicher akkreditierter Korrespondenten teil, so Vertreter der ARD, des ZDF, von epd und REUTER. Film- und Tonaufnahmen während der Veranstaltungen wurden nicht gefertigt. In ersten Meldungen berichteten westliche Hörmedien ab Mittag des 28. November 1988 über die genannten Veranstaltungen.
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Im Anschluss an einen Vormittagsgottesdienst kam es in der Samariterkirche Berlin-Friedrichshain zu einer Diskussion über die Relegierung der EOS-Schüler (Teilnehmer: ca. 20 Personen). Superintendentin Laudin und der hinlänglich bekannte Pfarrer Eppelmann gingen auf Probleme des Bildungswesens in der DDR ein und orientierten ebenfalls auf den Pädagogischen Kongress im Jahre 1989 und notwendige Aktivitäten in dessen Vorfeld. Eppelmann informierte darüber, dass der sich zzt. in England aufhaltende Philipp Lengsfeld (Sohn der Wollenberger) angeblich dem ZDF der BRD ein Interview gegeben habe, in dem er entgegen anderen Verlautbarungen erklärt haben solle, nichts dagegen zu haben, dass die Kirche sich für seine Person einsetze.
(Dieses Interview solle in der nächsten Sendung von »Kennzeichen D« publiziert werden.)
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Ebenfalls nach dem Vormittagsgottesdienst führte die Pastorin Misselwitz in der Kirche Berlin Alt-Pankow ein Diskussionsforum mit ca. 50 Personen (Schüler und deren Eltern, Studenten) durch.
Sie erklärte in diesem Zusammenhang, das ganze Problem an der EOS »Carl von Ossietzky« sei dadurch so brisant geworden, weil angeblich ein Sohn des Mitgliedes des Politbüros des ZK der SED, Genossen Egon Krenz, als Schüler dieser Schule »alles weiter getragen« habe.
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In der Christuskirche Dresden-Strehlen fand ein Fürbittgottesdienst mit ca. 350 überwiegend jugendlichen Personen statt. Organisatoren waren Mitglieder der in der kirchlichen Arbeit integrierten negativen Gruppierung »Wolfspelz«.
In dieser Veranstaltung wurde der »DDR-weite Aufruf« verlesen und dazu aufgefordert, sich mit »Fürbitten« für die betroffenen Schüler einzusetzen.
Mitglieder der vorgenannten Gruppierung gaben den Inhalt eines angeblich durch die sogenannte Arbeitsgruppe Frieden der drei Dresdener Kirchenbezirke erarbeiteten und an die Volkskammer der DDR gerichteten »Protestbriefes« in dieser Angelegenheit bekannt. Die Anwesenden wurden aufgefordert, Briefe analogen Inhalts zu fertigen und ebenfalls an die Volkskammer sowie an andere Institutionen in der DDR zu verschicken.
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An der in der Christusgemeinde Halle organisierten Veranstaltung beteiligten sich ca. 40 Personen, darunter die hinlänglich bekannten Personen Katrin und Frank Eigenfeld sowie Pfarrer Michael Bohley.
Nach der Darstellung der Ereignisse an der EOS »Carl von Ossietzky« wurde der Inhalt eines noch nicht ausformulierten »Protestbriefes« an das Ministerium für Volksbildung der DDR bekannt gegeben (enthält massive Angriffe gegen die Bildungspolitik). In der Folge wurden dazu später bereits Unterschriften gesammelt. Diese Unterschriftensammlung soll während eines sogenannten Nachtgebetes am 2. Dezember 1988 in der Evangelischen Stadtmission in Halle fortgeführt werden.
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Aufrufe zu »Protestschreiben« an das Ministerium für Volksbildung der DDR und andere Stellen wurden ferner bekannt aus den Bereichen St.-Gotthardt-Kirche Brandenburg (unter Berufung auf Artikel 27 der Verfassung der DDR),1 Junge Gemeinde und Evangelische Studentengemeinde Jena sowie der Neuen Kirche Wismar.2
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