Bevölkerungsreaktionen auf das Verbot des SU-Magazins »Sputnik«
30. November 1988
Hinweise zu einigen bedeutsamen Aspekten der Reaktion der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Mitteilung über die Streichung der Zeitschrift »Sputnik« von der Postzeitungsvertriebsliste der DDR [Bericht O/211]
Vorliegenden umfangreichen Hinweisen aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, zufolge löste die Mitteilung des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen über die Streichung der Zeitschrift »Sputnik« von der Postzeitungsvertriebsliste der DDR1 bereits unmittelbar nach Veröffentlichung in breiten, weit über den Abonnenten- bzw. Leserkreis der Zeitschrift hinausgehenden Schichten der Bevölkerung massive, sehr kritisch gehaltene Meinungsäußerungen aus, die trotz der zwischenzeitlich erfolgten Veröffentlichung des Kommentars »Gegen die Entstellung der historischen Wahrheit« in den Medien der DDR weiter anhalten.2
Beachtenswert dabei ist, dass es kaum Meinungs- bzw. Argumentationsunterschiede bei den sich äußernden Personen zwischen Mitgliedern der SED und Parteilosen gibt.
In der Mehrzahl der Meinungsäußerungen widerspiegelt sich nach wie vor Unverständnis bis hin zu prinzipieller Ablehnung mit dem Grundtenor, dass diese Entscheidung politisch falsch sei.
In diesem Sinne äußern sich besonders heftig, teilweise außerordentlich aggressiv, Angehörige der wissenschaftlich-technischen, medizinischen, künstlerischen und pädagogischen Intelligenz sowie Studenten an allen Universitäten und Hochschulen der DDR. Von einer Vielzahl z. T. langjähriger Mitglieder und Funktionäre der SED sowie befreundeter Parteien u. a. progressiv und gesellschaftlich engagierter Bürger, wird diese Entscheidung zum Anlass genommen, sich erneut kritisch zur Informationspolitik insgesamt zu äußern.
Personen, die die Entscheidung bezüglich des »Sputnik« als eine »längst fällige Maßnahme« bezeichnen, sind in der Minderheit, wobei aber auch sie heftig kritisieren, dass dieser Schritt ohne die erforderliche politisch-ideologische Vorbereitung der Bevölkerung getan wurde. Die Mitteilung darüber allein wäre keine Grundlage für die offensive Argumentation in den Gesprächen mit den Werktätigen gewesen. Der in den Massenmedien der DDR veröffentlichte Kommentar »Gegen die Entstellung der historischen Wahrheit« und die darin vorgenommene Auseinandersetzung mit der verzerrenden Darstellung der Geschichte der KPdSU und der KPD in der Zeitschrift »Sputnik« werden zwar als hilfreich angesehen für die politisch-ideologische Arbeit, jedoch hätte dieser Kommentar vor oder zeitgleich mit der Mitteilung des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen veröffentlicht werden müssen. Die Partei habe sich damit erneut in die Defensive begeben. Aus diesem Grunde hätten Darstellungen und Kommentare aus Sendebeiträgen westlicher Medien spürbaren Einfluss auf die Meinungsbildung der Bevölkerung. Es sei unverständlich, warum dem Gegner erneut das Feld für seine ideologischen Angriffe überlassen worden sei.
Nach vorliegenden Hinweisen dominiert in Meinungsäußerungen auch nach Veröffentlichung des Kommentars die ablehnende Haltung zu dieser Entscheidung.
Hauptargument der sich mit Unverständnis und Ablehnung äußernden Personen ist, damit werde die Bevölkerung der DDR politisch entmündigt. Eine solche Maßnahme sei Ausdruck mangelnden Vertrauens der Partei- und Staatsführung in die politische Reife und das Staatsbewusstsein der Bürger der DDR. Progressive Kräfte, besonders in wissenschaftlichen Bereichen tätige, vertreten die Auffassung, dass damit der denkbar ungeeignetste Weg der Auseinandersetzung mit falschen Geschichtsauffassungen gewählt worden sei. Eine solche Entscheidung sei nicht mehr zeitgemäß. Es gäbe in der DDR eine Vielzahl befähigter Historiker, die eine überzeugende Auseinandersetzung mit falschen Auffassungen hätte führen können.
Auch aus der Sicht der immer komplizierter werdenden Bedingungen für die weitere Gestaltung der internationalistischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten wird die Entscheidung als politisch unklug bewertet. Wiederholt wird in diesem Zusammenhang geäußert, dass die Partei- und Staatsführung der DDR damit erstmals eine Entscheidung getroffen habe, die in offener Konfrontation zur Politik der UdSSR stehe.
Das diene nicht der Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft und den brüderlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten.
Diese Entscheidung habe nach Meinung der sich in diesem Sinne äußernden Personen auch weitergehende negative Auswirkungen auf die Wirksamkeit der gesamten politisch-ideologischen Arbeit bis hin zur Hemmung von Initiative und Schöpferkraft in der täglichen fachlichen Arbeit. Mehrfach sehen die sich äußernden Personen auch einen Widerspruch zwischen dieser »Politik der Verbote« und der Forderung im Statut der SED nach offensiver ideologischer Auseinandersetzung.
Ältere Mitglieder der Partei verweisen auf eigene Lebenserfahrungen der ersten Nachkriegsjahrzehnte, in denen man sich angesichts der offenen Grenzen und vieler ungelöster gesellschaftlicher Probleme in weitaus stärkerem Maße als heute mit feindlichen oder falschen Positionen auseinandersetzen musste und stellen in diesem Zusammenhang die Frage, ob unsere Position so schwach sei, dass wir eine öffentliche Polemik über diese Probleme nicht führen können? In Sendebeiträgen westlicher Medien würden täglich Informationen verbreitet, die sich gegen die Entwicklung in der DDR richten, sodass man einzelne Artikel im »Sputnik« verkraften könne. Derartige Entscheidungen würde, ihren eigenen Lebenserfahrungen zufolge, der Gegner immer zum Anlass für verstärkte Hetze gegen uns nehmen.
»Erreicht« worden sei mit dieser Maßnahme eine enorm gestiegene Popularität sowjetischer Presse- und Filmerzeugnisse überhaupt. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass DDR-Bürger ihre Kontakte in das NSW ausnutzen werden, um in den Besitz dieser Zeitschrift zu kommen. (Vorliegenden internen Hinweisen zufolge entwickeln DDR-Bürger bereits erste diesbezügliche Aktivitäten.)
Eine häufig wiederkehrende Auffassung ist, dass die DDR kein Recht habe, die Prozesse der Umgestaltung in der Sowjetunion zu bewerten. Die Darstellung und Beurteilung der sowjetischen Geschichte sei ausschließlich eine innere Angelegenheit der Sowjetunion. Die Maßnahme der DDR sei vielmehr Ausdruck der grundsätzlich zwiespältigen bzw. ablehnenden Haltung der Partei- und Staatsführung der DDR zur Politik der Umgestaltung in der UdSSR überhaupt. Offenbar würden ideologische Wirkungen auf die DDR-Bevölkerung befürchtet. Die zeitgleiche Überreichung der höchsten Auszeichnung der DDR, des Karl-Marx-Orden, an den als »Reformgegner« bekannten N. Ceausescu bekräftige diese Einschätzung.
Dazu wird von dem genannten Personenkreis argumentiert, auch heute noch habe die Thälmannsche Lehre von der Haltung zur Sowjetunion als Prüfstein eines jeden Kommunisten Gültigkeit. Die in der DDR propagierte deutsch-sowjetische Freundschaft beziehe sich aber offenbar auf ein selbst entworfenes und veraltetes Bild von der Sowjetunion.
Funktionäre und engagierte Mitglieder der DSF beklagen in diesem Zusammenhang, es werde immer komplizierter, den Beschluss des 13. Kongresses der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft3 nach der anschaulichen Vermittlung eines lebendigen Bildes des Lebens in der Sowjetunion umzusetzen. Es fehle an propagandistischem Zeitungs- und Filmmaterial.
Vorliegenden Hinweisen zufolge münden die ablehnenden Haltungen und damit verbundene Erwartungen hinsichtlich einer Korrektur dieser Entscheidung in erheblichem Umfang in folgende beachtenswerte Verhaltensweisen und Aktivitäten:
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Anbringen ablehnender Stellungnahmen an Wandzeitungen bzw. Aushängen selbstgefertigter Plakate und Handzettel an öffentlichkeitswirksamen Stellen (nach vorliegenden Hinweisen schwerpunktmäßig in Einrichtungen von Universitäten und Hochschulen, besonders in Studentenwohnheimen, aber auch in wissenschaftlichen Einrichtungen und Betrieben – durch den Minister für Hoch- und Fachschulwesen wurde der Vorsitzende des Ministerrates der DDR über Erscheinungen in diesen Bildungseinrichtungen informiert),
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Einzel- und Kollektiveingaben an zentrale Partei- und Staatsorgane sowie an den Zentralvorstand der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Briefe an Redaktionen,
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Sammlung von Unterschriften unter Protestschreiben bzw. ablehnende Stellungnahmen,
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zahlreiche angekündigte, z. T. bereits vollzogene Austritte aus der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (in Einzelfällen Brigaden in Betrieben),
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Einzelbeispiele von Austritten aus der SED unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entscheidung.
Hervorzuheben sind auch die wiederholten Bestrebungen einzelner Delegierter des X. Kongresses des Verbandes Bildender Künstler der DDR,4 die Verabschiedung einer Resolution durch den Kongress zu initiieren, in der gegen diese Entscheidung protestiert und ihre Rücknahme gefordert wird.
Während einer Aufführung der Oper »Der Barbier von Sevilla« an der Semperoper Dresden am 26. November 1988 wurde von dem Darsteller des Figaro (Jürgen Hartfiel – Schwiegersohn von Prof. Theo Adam) in einer Spielszene in Abweichung vom Operntext geäußert, den Grafen Almavia rasieren zu wollen. Dieser habe jetzt Zeit, da »er immer den Sputnik gelesen« habe.
Offensichtlich beeinflusst durch die seitens westlicher Massenmedien inszenierte Hetz- und Verleumdungskampagne gegen die DDR kam es darüber hinaus in der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie in Nordhausen/Erfurt zu
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einer provokatorisch-demonstrativen Handlung eines kirchlichen Mitarbeiters, der am 22. November 1988 am Fußgängertunnel Berlin-Alexanderplatz kurzfristig ein Plakat mit gegen diese Maßnahmen gerichtetem Inhalt entrollte,
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drei Vorkommnissen des Anbringens von Losungen mit den Texten: »Sputnik Pressefreiheit jetzt« (26. November 1988, Berlin-Mitte), »Der Sputnik lebt« (29. November 1988, S-Bahnzug Strecke Berlin-Friedrichstraße – Strausberg) sowie »Honey rück den Sputnik raus« (21. November 1988, Nordhausen/Erfurt),
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einem Vorkommnis des Verbreitens von Hetzblättern mit gegen diese Maßnahmen gerichteten Aussagen (insgesamt 39 Exemplare, aufgefunden am 21. November 1988 in Hausbriefkästen in Berlin-Marzahn bzw. in der Druckerei Neues Deutschland in Berlin-Friedrichshain).