Haltung junger Mediziner zu Grundfragen der SED-Politik
30. November 1988
Hinweise zu einigen beachtenswerten politisch-ideologischen Haltungen unter jungen Ärzten zu Grundfragen der Politik der SED [Bericht O/210]
Nach dem MfS vorliegenden internen Hinweisen aus Weiterbildungsveranstaltungen in den Bezirken auf dem Gebiet des Marxismus-Leninismus – Teilnehmer sind junge Mediziner und Doktoranden aus medizinischen Bereichen des staatlichen Gesundheitswesens – wurden nachfolgende Hinweise über politisch-ideologische Haltungen dieses Personenkreises zu Grundfragen der Politik der SED bekannt:
Zu Fragen des Friedenskampfes:
Für alle damit im Zusammenhang stehenden Probleme und die entsprechenden Initiativen der Sowjetunion besteht großes Interesse. Das bezieht sich auch auf Diskussionen zu solchen Fragen. In den letzten Monaten ist festzustellen, dass diese Personenkreise großes Engagement bei der Aneignung von Kenntnissen zur internationalen Entwicklung sowie beim Erkennen der Kompliziertheit des Zusammenwirkens verschiedener Kräfte im Friedenskampf an den Tag legen. Dabei bewegt auch die Frage, warum nicht schon früher solche Erfolge im Friedenskampf möglich waren.
Die Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion und die Politik des XI. Parteitages der SED1 auf diesem Gebiet wirken überzeugend. Der Wandel der Ansichten seitens dieses Personenkreises zu diesen Problemen trat deutlich in den letzten 1½ Jahren ein, vorher gab es erhebliche Skepsis. Die Initiativen von Gorbatschow und Erich Honecker werden anerkannt und dabei das flexible Verhalten der Sowjetunion zu den Vorschlägen der NATO, die Kompromissbereitschaft und das Vorangehen in Abrüstungsfragen im Vergleich zu früher hervorgehoben. Der Begriff »Neues Denken« wird daraus abgeleitet, dass es in der Gegenwart keine andere vernünftige Alternative gibt, als zu verhandeln, Vertrauen zu schaffen und Feindbilder abzubauen. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Meinungen über die Aggressivität des Imperialismus in Auswirkung des Einflusses realistischer Kräfte in der herrschenden Klasse der imperialistischen Hauptländer sowie vieler konkreter Kontakteinflüsse vor allem aus der BRD sehr vielfältig sind. Die weltpolitische Stellung des Imperialismus in der Gegenwart wird durch den Personkreis jedoch nicht hinreichend erkannt, und die Dialektik von Aggressivität des Imperialismus und seine Reformfähigkeit zu wenig realistisch eingeschätzt. Der Imperialismus der Gegenwart wird von einem Teil der Personen als nicht mehr aggressiv betrachtet.
Dieses sehr differenzierte und teilweise unrealistische Bild – so wird eingeschätzt – entsteht aus unzureichend fundierten Kenntnissen, weil sich die jungen Ärzte wenig mit Darlegungen zu diesen Problemen in den Pressemedien (»ND«, »Einheit«, »Horizont« usw.) befassen. So wird die Wechselwirkung von Imperialismus als sterbender Kapitalismus und die Reformnotwendigkeit des imperialistischen Systems nicht gesehen. Alleiniger Maßstab für die Einschätzung des Imperialismus ist für viele Seminarteilnehmer der hohe Stand der Entwicklung der Produktivkräfte. Soziale Fragen werden verdrängt oder als »Zweckpropaganda« angesehen, was z. B. für Informationen über die Massenarbeitslosigkeit, die »Neue Armut« usw. zutrifft.
Zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen:
Die Notwendigkeit der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik wird allgemein richtig verstanden. Bei konkreten sozialpolitischen Maßnahmen kommt es zu differenzierten und auch kritischen Diskussionen. Problemdiskussionen beziehen sich meistens auf aktuelle Versorgungsprobleme und auf eigene soziale Erfahrungen im täglichen Leben (z. B. Lücken im Warenangebot, längere Wartezeiten, Spekulationen mit Wohnraumvermittlung, ungerechtfertigte Bereicherung einzelner Personen, Probleme der Reisetätigkeit, die »tausend kleinen Dinge des täglichen Bedarfs« usw. ). Dadurch wird die strategisch richtig erkannte Aufgabenstellung, die kaum in Zweifel gestellt wird, negativ belastet.
Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Problemen der Wirtschafts- und Sozialpolitik der DDR wurden u. a. folgende Fragen aufgeworfen bzw. Ansichten vertreten:
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Können wir uns die Politik der stabilen Preise leisten (Grundnahrungsmittel, Mieten, Tarife)? Stimmt diese überhaupt noch, wenn man beispielsweise an die hohen Saisonpreise für Obst und Gemüse in diesem Jahr denkt?
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Wird gegen das Wertgesetz verstoßen, wenn wir die gesellschaftlichen Fonds so enorm ansteigen lassen?
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Wann werden wir die BRD in der Arbeitsproduktivität überholen? Erfolge in der Wirtschaftspolitik werden – im Vergleich zu kapitalistischen Ländern – angezweifelt.
In der Beurteilung des gegenwärtig Erreichten in der DDR gibt es kritische Bemerkungen, dass die DDR in der Anwendung der Elektronik allgemein zurückliege. Das widerspiegele auch der Stand der Medizintechnik und die schlechte Ausrüstung der Kreiskrankenhäuser.
Unzufriedenheit herrscht auch über den Stand der materiell-technischen Sicherstellung der medizinischen Versorgung. Negative Tendenzen in der Entwicklung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung (Übergewichtigkeit, Alkoholmissbrauch) würden zunehmen, und die Ärzte reichten zur Veränderung nicht aus.
Kritisiert wird das nicht selten unzureichende Angebot an gesundheitsfördernden Lebensmitteln gegenüber dem überreichlichen Angebot an alkoholischen Getränken.
Bezüglich der Wissenschaftsentwicklung wird eine zu geringe Flexibilität und Dynamik in der DDR beklagt, und starre Organisation in der Wissenschaft und in der Volksbildung werden als Ursache für den Rückstand zum Weltniveau in vielen Bereichen verantwortlich gemacht.
Zum Prozess gesellschaftlicher Entwicklungen in der DDR wird die Auffassung vertreten, dass sozialpolitische Maßnahmen allein kaum zu höheren Leistungen motivieren. Mehrfach wurde die Frage aufgeworfen, was denn überhaupt in unserer Gesellschaft zu höheren Leistungen führe.
Die Berlin-Initiative veranlasst ebenfalls zu kritischen Betrachtungen.2 In diesem Zusammenhang wurden generell Zweifel an der Verwirklichung des Wohnungsbauprogramms bis 1990 erhoben, gerade in Verbindung mit der besonderen Situation Berlins und dem damit verbundenen Abzug der Baukapazitäten der Bezirke. Falsche Erwartungen bestehen dahingehend, wonach es 1990 dann keine Wohnungsanträge mehr geben dürfte.
Weiterhin gibt es Diskussionen zur Wirtschaftsführung und auch zur Zusammenarbeit im RGW. Kritik an der Konsumgüterproduktion und Ersatzteilbeschaffung gibt es unter dem Aspekt, dass zu viel exportiert werde und dadurch zu wenig für den Binnenmarkt vorhanden sei.
Zu den Werten und Vorzügen des Sozialismus:
Diskussionen über Werte, Vorzüge und Triebkräfte des Sozialismus finden in den Lehrveranstaltungen reges Interesse. Sie werden jedoch oft zu abstrakt geführt und verlaufen recht widersprüchlich.
Zu diesem Problem überwiegen mehr negative Meinungsäußerungen, und es wird deutlich, dass Werte und Vorzüge des Sozialismus nicht mehr im täglichen Leben so ins Bewusstsein dringen, wie das notwendig wäre. Einerseits werden die Vorzüge als selbstverständlich angesehen, andererseits verdrängt zunehmendes »Konsumdenken« soziale und moralische Werte.
In diesem Zusammenhang – so wird diskutiert – werde das Leistungsprinzip nicht entsprechend seiner potenziellen Möglichkeiten durchgesetzt (Hinweise auf die Lohnpolitik, die Stellung der Handwerker und anderer »privilegierter Schichten« u. ä.). Werte, Vorzüge und Triebkräfte des Sozialismus werden auch bei Ärzten vor allem am Handeln der Menschen gemessen. Auf diesem Gebiet würden jedoch noch große Widersprüche bestehen, die sich in den Diskussionen widerspiegeln. Die Ideale des Sozialismus, wie sie in der Schule gelehrt wurden, seien durch Verhaltensweisen, die sich auf bürgerliches Denken stützen, verdrängt. Die Orientierung auf das Materielle, ein angenehmes Leben und darauf, die »Vorzüge des Kapitalismus« zu nutzen, stehe bei vielen Menschen im Vordergrund. Beweis dafür sei u. a. die hohe und wachsende Kriminalität und die stark verbreitete schlechte Arbeitsdisziplin. In der Öffentlichkeit würden diese Dinge nicht so deutlich und in der vollen Tragweite dargelegt.
Wir hätten allen Grund, uns mit den Schwierigkeiten des sozialistischen Alltags auseinanderzusetzen, wie das in der Sowjetunion geschehe. Sozialistische Lebensweise ist im Programm der SED deklariertes Ziel. Wir seien in der DDR jedoch noch ein großes Stück von dieser richtigen Orientierung entfernt.
In den Diskussionen werden immer wieder vorhandene Probleme und Konflikte verabsolutiert, wodurch dann in den Seminaren kein reales »Selbstbildnis« der sozialistischen Gesellschaft in der DDR zu erreichen ist.
Nichterkennen der Kompliziertheit der Lage in der Klassenauseinandersetzung ist bei vielen Seminarteilnehmern zu verzeichnen. Die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus wird von einzelnen Teilnehmern noch offen angezweifelt.
Zur sozialistischen Demokratie:
Die sozialistische Demokratie als Mittel zur Entfaltung von Mitarbeit und Mitverantwortung für die Ziele der Gesellschaft wird anerkannt. In diesem Zusammenhang wird jedoch die Situation in der Leitungstätigkeit in den Krankenhäusern zum Maßstab erhoben und viel Kritik an den staatlichen Leitern geübt hinsichtlich ihrer fachlichen Fähigkeiten zu leiten, Menschen zu begeistern und zu mobilisieren. Die Verbindung zwischen Leitern und Mitarbeitern sei nicht hinreichend entwickelt. Nicht wenige Leiter würden unangenehmen Problemen ausweichen. Sie seien nicht hinreichend Vorbild und Erzieher.
Auch Kritik würde nichts ändern. Partei und Gewerkschaft könnten sich nicht durchsetzen, woraus Resignation aber auch Furcht vor Nachteilen resultierten. Einige Problemkreise dazu:
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Die sozialistische Demokratie muss im Verhältnis von Leiter zu Mitarbeiter noch besser durchgesetzt werden. Junge Facharztkandidaten äußern, dass mit ihnen zu wenig im Sinne der sozialistischen Demokratie gearbeitet werde. Es werde viel von ihnen verlangt, und sie sind auch bereit viel zu geben. Das müsse aber stärker materiell und auch moralisch anerkannt werden (vor allem durch Leiter). Die Mehrzahl der jungen Ärzte trauten sich in ihren Einrichtungen nicht, ihre Meinung zu sagen (Rolle des Oberarztes, Chefarztes usw.). Von »mangelnder Demokratie« zeuge auch, dass die jungen Ärzte von ihren staatlichen Leitern nicht oder äußerst selten über wichtige Parteibeschlüsse informiert werden.
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Es wird auch argumentiert, dass Meinungen und Vorschläge der Mitarbeiter nicht gefragt seien, besonders bei Problemen der Planung und Leitung. In diesem Zusammenhang wird von »Geheimkabinetten« in der Leitung und dem »Dreiecksverhältnis Direktor, Parteisekretär, BGL-Vorsitzender« gesprochen.
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Auch das Verhältnis von Kirche und Staat spielt in den Diskussionen nach wie vor eine große Rolle. Verbreitet ist die Auffassung, die Kirche werde durch den Staat reglementiert. Kirchlich gebundene Bürger würden benachteiligt. Sie hätten nicht die gleichen Bildungschancen bei Studienzulassungen, bedingt durch schlechtere Benotungen in den Schulen. (Gegenüber diesen oft unzulässigen Verallgemeinerungen von Einzelerscheinungen sehen sich Seminarleiter zu wenig informiert, um solchen Argumentationen zu begegnen. Oft haben Seminarteilnehmer über die kirchliche Presse Material in der Hand, das den Seminarlehrern völlig unbekannt ist).
Zu lohnpolitischen Maßnahmen im Gesundheitswesen:
Die lohnpolitischen Maßnahmen für das Gesundheitswesen wurden anfangs mit Begeisterung, nun aber »mit Ernüchterung« aufgenommen. Es sind nicht alle Erwartungen erfüllt worden. Ihre Wirksamkeit als leistungsstimulierender Faktor wird kritisch diskutiert.
Sozialistische Demokratie sei bei der neuen Gehaltsordnung nicht geübt worden. Der Entwurf – so wird behauptet – hätte vorher mit allen diskutiert werden müssen. Die Verteilung beginne »von oben«. Das Geld für höhere Steigerungssätze fehle.
Zum Gehaltsregulativ besteht durchgängig der Eindruck, dass die inhaltliche Wertung in der Leistungseinschätzung vom »Wohlverhalten« und vom »Grad der Unterordnungsbereitschaft« des zu Beurteilenden abhängig gemacht und bestimmt wird.
Im Regulativ sind für Schwestern ein Fixum der Steigerung von 125 Mark festgelegt, für Ärzte von mindestens 100 Mark. Alles andere hinge dann von »subjektiven Faktoren« ab. Behauptungen wie, »Schreibtischtätige« würden wesentlich besser eingestuft als »Basisarbeiter« oder »Nichtstun zahle sich mal wieder aus«, wurden nicht nur vereinzelt vertreten.
Da die Gewerkschaft Gesundheitswesen den Vertrag unterschrieben habe, der nach mehr als 30 Jahren erste generelle Veränderungen für alle Ärzte bringe, aber »völlig unzureichend« sei, wurde der Standpunkt vertreten, man hätte das Regulativ so lange so lassen sollen, bis man mehr hätte tun können. Jetzt würden Ärzte untereinander »ausgespielt«.
Generell wurde betont, dass die Gewerkschaft in den medizinischen Einrichtungen – ob Poliklinik, Kreiskrankenhaus oder auch Bezirkskrankenhaus – ein Schattendasein führe. Es wurde angedeutet, dass sich eine Reihe von Ärzten von der Gewerkschaft trennen wollen.
Allgemein wird eingeschätzt, dass verstärkte kritische oder auch negative Diskussionen an den Weiterbildungseinrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens zu den angeführten und anderen Problemen ihre Ursachen insbesondere im politisch-ideologischen Klima in den Einrichtungen des Gesundheitswesens haben. Dort würde zu wenig politisch-ideologisch mit den Ärzten gearbeitet.
(Über diese Erkenntnisse wurde auch auf zentraler staatlicher Ebene informiert.)