Ökumenische Versammlung in Dresden (1)
15. Februar 1988
Information Nr. 81/88 über bemerkenswerte Aspekte zum bisherigen Verlauf der 1. Vollversammlung der »Ökumenischen Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« vom 12. bis 15. Februar 1988 in Dresden
Die Vollversammlung wurde am 12. Februar 1988 in der Christus-Kirche Dresden-Strehlen vor ca. 500 Personen eröffnet.1
Das von Bischof Hempel/Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens gehaltene Grußwort trug innerkirchlichen und theologischen Charakter.
Superintendent Ziemer/Dresden, der das sich daran anschließende Einführungsreferat vortrug, betonte u. a., die Kirche müsse die Herausforderung der Gemeinden und Gruppen aufnehmen, den Dialog zu pflegen und »nicht nur zum Thema, sondern auch zu den Menschen zu reden und jene Fragen zu klären, welche die Spannungen im Lande betreffen«.
In der ersten geschlossenen Sitzung des Plenums der Vollversammlung am Abend des 12. Februar 1988 meldeten sich die hinlänglich bekannten Personen Lietz/Güstrow und Pfarrer Pahnke/Berlin zu Wort und forderten die Zulassung von Journalisten der kirchlichen Presse der DDR an allen Beratungen der Vollversammlung, was von Bischof Forck zurückgewiesen wurde.
Der zweite Beratungstag der Vollversammlung wurde planmäßig mit einer öffentlichen Veranstaltung in der Christus-Kirche fortgesetzt. Vor ca. 1 000 Teilnehmern wurden neun Kurzberichte zur Thematik »Zeugnisse der Betroffenheit« sowie eine »Analyse der Gesamtsituation« vorgetragen.
Mit zum Teil offenen Angriffen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung traten dabei insbesondere Dr. Fischbeck/Berlin (Synodale der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, tätig als Physiker an der Akademie der Wissenschaften der DDR) und Dr. Drees/Stendal (Mitglied des »Friedenskreises« Stendal, Verfasser und Unterzeichner von mehreren Eingaben und Schreiben antisozialistischen Charakters) in Erscheinung.
Dr. Fischbeck, der zum Themenkomplex »Gerechtigkeit« auftrat, führte u. a. aus, durch die gesellschaftliche Abgrenzung entstünden Krankheitssymptome in Wissenschaft und Kultur, Deformierungen des gesellschaftlichen Selbstwertgefühls und gesellschaftliche Minderwertigkeitskomplexe. Die Abgrenzung sei Ausdruck ungerechter Herrschaftsstrukturen und ungerechter Machtausübung.
Wörtlich erklärte er: »Mir wurde klar, die Mauer war hier nicht nur eine harte Existenz für Beschädigungen auch meines Selbstbewusstseins, die ich längst verdrängt und verinnerlicht hatte. Mir wurde klar, die Mauer … hat unser Selbstverständnis, unser Lebensgefühl und unser gesellschaftliches Verhalten viel tiefer geprägt und deformiert, als ich es mir bis dahin selbst eingestand. Unser Minderwertigkeitskomplex, unser ungerechtfertigter Pauschalverdruss, unsere Arme-Vettern-Mentalität gegenüber Besuchern von drüben, unsere Begehrlichkeit nach westlichen Waren, unsere Unbeholfenheit und Kommunikationsunfähigkeit gegenüber Ausländern, unsere falsche Fixierung auf die zum Ideal stilisierte liberale Konsumgesellschaft westlich der Mauer wurden mir deutlich als Symptome eines Syndroms.«
Dr. Drees/Stendal betonte in der von ihm vorgenommenen »Analyse der Gesamtsituation« unter dem Motto »Wer sind wir selbst in diesen Herausforderungen?«, man dürfe nicht nur von Veränderungen sprechen, sondern müsse diese selbst vollziehen; man dürfe nicht nur andere, wie z. B. die Initiative »Frieden und Menschenrechte« handeln lassen, sondern müsse selbst etwas tun.
Er erwarte von der Vollversammlung, dass sie
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die Wahrheit sage über die Störungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, über das Misstrauen zwischen dem Bürger und dem Staat, über das Taktieren der Kirche mit dem Staat,
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ein Geständnis ablege über das Erfordernis geistiger Erneuerung als christliche Kirche,
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die Öffnung der Kirche für alle fördere und den Menschen die Möglichkeit neuer Lebenserfahrung im »Schutzraum« der Kirche biete.
Zur Situation im Zusammenhang mit den Vorgängen um die Zionskirche im November 1987 und die Ereignisse am 17. Januar 1988 erklärte Drees weiter:
»In den letzten Wochen hat uns die Wirklichkeit in unserem Lande eingeholt. Die Strukturen unserer Gesellschaft wurden wieder deutlich; Gewalt gegen Meinungsfreiheit und Gerechtigkeit. Mit hektisch geröteten Wangen haben wir von Stunde zu Stunde die Identifizierung mit Protagonisten der Bürgerrechtsbewegung miterlebt. Wir wollten teilhaben, ganz dabei sein. Und die Eleganz des Bösen mit ihrer Absurdität war verblüffend. Zuletzt konnte man als Strafe für ein nicht vorhandenes Delikt richten, zwischen acht Jahren Haft und einem Studienaufenthalt in England entscheiden. Verwirrt bleiben wir als Zuschauer zurück, ohnmächtig, wütend und vielleicht auch zynisch amüsiert. Wer übt eigentlich noch die Gerechtigkeit aus? Der Staat, oder die Kirche, oder die Ausgereisten? Ich finde, die Gerechtigkeit blieb zumindest an dieser Stelle auf der Strecke.«
Auf einer am gleichen Tage stattgefundenen Pressekonferenz der Vollversammlung – sie stand unter Leitung von Bischof Forck, Monsignore Grande/Dresden, Superintendent Ziemer/Dresden, Pfarrer Pahnke/Berlin, Elisabeth Adler/Berlin, Vikar Band/Berlin sowie des Leiters der Pressestelle der Vollversammlung, Wiede/Dresden – wurde eindeutig die Zielstellung anwesender westlicher Korrespondenten erkennbar, die Vertreter der Vollversammlung zu politisch negativen Aussagen zu provozieren.
(An der Pressekonferenz nahmen u. a. Korrespondenten von ARD, ZDF, Deutschlandfunk, Süddeutscher Rundfunk, Frankfurter Rundschau, der Katholischen Nachrichtenagentur KNA sowie der II. Sekretär der Botschaft der USA in der DDR und der III. Sekretär der Botschaft Großbritanniens in der DDR teil.)
So wurde vom Korrespondenten der KNA die Frage gestellt, ob sich die Verantwortlichen der Vollversammlung den »Zeugnissen der Betroffenheit« anschließen könnten und ob diese Forderungen »mehrheitsfähig« seien.
Rein/Süddeutscher Rundfunk stellte die Frage nach der Rolle der Kirche im Zusammenhang mit den Vorgängen am 17. Januar 1988.
Bischof Forck beantwortete diese Frage dahingehend, er sei von den staatlichen Stellen getäuscht worden. Man hätte ihm zunächst ausdrücklich versichert, dass die acht Inhaftierten, die eine Entlassung in die DDR gewünscht hätten, im Lande bleiben dürften. Davon seien die staatlichen Stellen aus ihm nicht verständlichen Gründen abgerückt. Die jetzt getroffene Lösung, wonach fünf der Betroffenen erst nach einem Studienaufenthalt im Ausland wieder in die DDR zurückkehren dürfen, halte er nicht für glücklich. Eine Haftentlassung in die DDR wäre ein »Zeichen des Einlenkens des Staates« gewesen, auf das man jetzt noch warten müsse.
Am zweiten Beratungstag der Vollversammlung konstituierten sich die Tagungsausschüsse zu den Themen: »Gerechtigkeit«, »Frieden«, »Bewahrung der Schöpfung«, einschließlich der Arbeitsgruppe »Reflektoren«.
Grundlage ihrer Arbeit bildeten Berichte, in denen die ca. 10 000 bis zum Beginn der Vollversammlung eingegangenen Vorschläge, Hinweise und Anträge zur Thematik der Veranstaltung eingeschätzt wurden.2
Internen Hinweisen zufolge enthalten zahlreiche Zuschriften die hinlänglich bekannten kirchlichen Positionen zu den sogenannten Problemfeldern der Kirche gegenüber dem Staat. So wurden bisher, bezogen auf die drei Themenkomplexe, folgende Inhalte und Forderungen bekannt.
Zum Thema »Gerechtigkeit«: Fragen nach Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft, verbunden mit Forderungen nach Chancengleichheit, Mitverantwortung und Mitarbeit der Christen, nach Verbesserung und größerer Durchschaubarkeit der Informationen.
Zum Thema »Frieden«: Probleme des kirchlichen Friedensengagements, Überlegungen, Vorschläge und Forderungen bezüglich der Wehrdienstproblematik, einschließlich Veränderungen in der vormilitärischen Ausbildung und hinsichtlich der Feindbildvermittlung in Schulen, Kindergärten und Elternhäusern.
Zum Thema »Bewahrung der Schöpfung«: Darstellung von sogenannten Umweltschäden in der DDR, Überlegungen zu »alternativen« Energieformen und Forderungen nach öffentlichem Zugang zu Informationen über diese Themenkreise.
In der Diskussion der Tagungsausschüsse und »Untergruppen« wurden diese Inhalte in voller Breite aufgegriffen und teilweise von hinlänglich bekannten Personen zu unterschwelligen Angriffen gegen Teilbereiche der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung genutzt.
In dem als Anlaufpunkt für Nichtdelegierte von den drei Dresdener evangelischen Kirchenbezirken unter verantwortlicher Mitgestaltung von Vertretern der Kirchenleitung und des Landeskirchenamtes der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens eingerichteten »Begegnungszentrum« (auch »Kommunikationszentrum« genannt) in der Versöhnungskirche Dresden, das am Nachmittag des 12. Februar 1988 öffnete, wurden mehrere Informations- und Schautafeln festgestellt.
Sie beinhalten Informationen über geplante Veranstaltungen, Bild- und Textmaterial zu Problemen »Dritte Welt«, »Ökologie«, »Wehrerziehung« sowie Hinweise zu den Vorgängen um die Zionskirche und die Ereignisse am 17. Januar 1988.
Bereits am Eröffnungstag traten in dem »Begegnungszentrum« u. a. Vertreter des Arbeitskreises Ökologie der drei Dresdner evangelischen Kirchenbezirke, der Evangelischen Studentengemeinde Dresden und sogenannter Friedenskreise auf. Sie behandelten in Übereinstimmung mit entsprechenden kirchlichen Positionen unter anderem Fragen der Friedenserziehung, der Informationspolitik, der freien Gewissensentscheidung, des Reiseverkehrs und der Ökologie. Es war das Bemühen der Referenten erkennbar, auf zum Teil provokatorische Fragestellungen sachlich zu reagieren.
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