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Probleme der materiellen Versorgung im Gesundheitswesen

14. November 1988
Information Nr. 489/88 über einige beachtenswerte Probleme der materiellen Versorgung des Gesundheitswesens der DDR

Nach dem MfS vorliegenden Informationen bestehen bei der Versorgung des Gesundheitswesens der DDR anhaltende Probleme in der kontinuierlichen und bedarfsgerechten Bereitstellung von wichtigen Arzneimitteln, verschiedenen textilen Verbandsstoffen und anderen medizinischen Verbrauchsmaterialien.

Nach Einschätzung von Fachexperten sei die Versorgungslage auf den genannten Teilgebieten durch die Tatsache charakterisiert, dass seit längerer Zeit wechselnd etwa 40 bis 50 Arzneimittel nicht ständig zur Verfügung gestellt werden können. Probleme gleicher Art bestehen bei sechs Gruppen von Verbandsstoffen und etwa 50 anderen medizinischen Verbrauchsmaterialien.

Die Ursachen für das Entstehen der Versorgungsschwierigkeiten sind vielschichtig und sowohl im Bereich der Industrie als auch teilweise im Gesundheitswesen selbst begründet.

Die auftretenden Versorgungsprobleme bei Arzneimitteln und für 1989 erneut absehbare Schwierigkeiten betreffen vor allem einige moderne, wirksame Herz-Kreislaufmittel wie z. B. Corinfar, Cordanum, Ralofekt, Agapurin.

Weiterhin bestehen erhebliche Lieferschwierigkeiten bei hochgereinigten Insulinen. Die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen des VEB Berlin-Chemie für 1988 ermögliche eine Versorgung von nur 30 % aller Diabetiker in der DDR.

International weise damit die DDR einen beachtlichen Rückstand in der Anwendung von komplikationsarmen, hochgereinigten Insulinen gegenüber den herkömmlichen B-Insulinen auf.

Weitere Problemgruppen unter den Arzneifertigwaren sind empfängnisverhütende Arzneimittel sowie medizinische Badezusätze, bei denen gegenwärtig selbst bei vertragsgerechter Produktion nur eine 80 %ige Bedarfsdeckung möglich ist.

Der mit dem Leistungszuwachs des Gesundheitswesens in der spezialisierten und hochspezialisierten Betreuung einhergehende wachsende Bedarf an modernen und hochwirksamen Arzneimitteln erfordere zugleich auch für die Absicherung komplizierter chirurgischer Eingriffe (Organtransplantationen, Herz- und mikrochirurgische Operationen) ein höheres Aufkommen an chirurgischen Näh- und Unterbindungsmaterialien. Diese Erzeugnisse müssen fast ausschließlich durch Importe aus dem NSW bereitgestellt werden, was 1988 im Rahmen des streng ermittelten Bedarfs gerade noch mit den zubilanzierten Importmitteln realisierbar war. Die für 1989 staatlich geforderten NSW-Importsenkungen einerseits und der weiter steigende Bedarf andererseits würden Expertenmeinungen zufolge zwangsläufig zu Versorgungsschwierigkeiten führen.

In den Erzeugnisgruppen der medizinischen Verbrauchsmaterialien gestaltete sich 1988 die Versorgung mit Operationshandschuhen, besonders deren größengerechte Bereitstellung, mit Drainageschläuchen für die Chirurgie sowie mit wichtigen Einmalgebrauchserzeugnissen (Kanülen, Blutabnahmebestecke, Urinbeutel u. a.) kompliziert, sodass zusätzliche Importe aus dem NSW erforderlich wurden, um die Versorgung annähernd zu gewährleisten.

Ursächlich sind hier insbesondere ebenfalls objektiv steigender Bedarf des Gesundheitswesens und permanente Qualitätsprobleme (Operationshandschuhe, Drainageschläuche) sowie unzureichende Produktionskapazitäten (Einmalgebrauchserzeugnisse, Hohlfaserdialysatoren für die Blutwäsche nierenkranker Personen, stomatologische Instrumente) der Industrie. Zur Sicherung der Versorgung mit Hohlfaserdialysatoren seien zusätzliche Importmittel erforderlich.

Vorgenannte Versorgungsprobleme konnten 1988 durch operative Steuerung der Versorgung, erhöhte Produktion bei einzelnen Arzneimitteln, die Nutzung von Reservebeständen des Gesundheitswesens sowie zusätzliche Importe in ihren negativen Auswirkungen eingeschränkt werden, seien jedoch in differenzierter Form für das Planjahr 1989 und die Folgejahre erneut nicht auszuschließen, da grundlegende Ursachen für das Entstehen komplizierter Versorgungssituationen weiter fortbestehen.

Die personelle und materielle Entwicklung des Gesundheitswesens der DDR, der Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnissen in Diagnose und Therapie führen zu einem objektiv steigenden Bedarf an Arzneimitteln, Verbandsstoffen, medizinischen Verbrauchsmaterialien und auch Medizintechnik, der jedoch langfristig nicht exakt voraussehbar sei.

Die Hauptursachen für auftretende Versorgungslücken liegen – wie Experten weiter einschätzen – offensichtlich in der nicht bedarfs- und sortimentsgerechten Produktion der Industrie für das Gesundheitswesen. Im Bereich der Chemischen Industrie würden vorwiegend eine ungenügend abgestimmte Planung zwischen Industrie und Gesundheitswesen, mangelnde Flexibilität der Produktion und Bestandhaltung, die Dominanz des Exportes vor Inlandsverpflichtungen als hemmende Faktoren wirken.

In Bereichen der Leichtindustrie (Verbandsstoffe, medizinische Verbrauchsmaterialien) seien vor allem die Produktionskapazitäten und die Erzeugnisstrukturen völlig unzureichend für eine den dynamischen Erfordernissen entsprechende Versorgung des Inlandes als auch für einen devisenrentablen Export entwickelt. Überalterte oder technologisch unzureichende Produktionen würden Qualitätseinbrüche und dadurch zusätzliche Versorgungsstörungen zur Folge haben. Die wissenschaftliche Erzeugnis- und Technologieentwicklung wäre erheblich vernachlässigt worden.

Für das Planjahr 1989 zeichnen sich Expertenmeinungen zufolge bereits folgende Differenzen zwischen Bedarf und Aufkommen in den problematischen Erzeugnisgruppen ab:

  • Aufgrund der Entwicklung des Arzneimittelverbrauchs im Planjahr 1988 sei die Versorgung im Planjahr 1989 mit der bisher ausgewiesenen Bilanzgröße in Höhe von 2 510 Mio. Mark (IAP) nicht zu gewährleisten. Durch das Ministerium für Gesundheitswesen (MfG) wurde deshalb bei der Staatlichen Plankommission der Antrag zur Erhöhung dieser Staatsplanposition um 70 Mio. M (IAP) gestellt.

    Diese Bilanzdifferenz habe z. B. für 1989 eine erkennbare Bedarfsunterdeckung bei nachfolgend genannten hochwertigen Arzneimitteln zur Folge: (Differenz zum Bedarf in Tausend Originalpackungen)

    [Medikament]

    Fehlmenge

    Bedarf

    Corinfar

    2 600 TOP

    8 000 TOP

    Cordanum

    800 TOP

    6 500 TOP

    Insulin S.N.C.

    150 TOP

    700 TOP

    Pentalong

    1 500 TOP

    9 700 TOP

    Minisiston (Schwangerschaftsverhütungsmittel)

    100 TOP

    991 TOP

  • Die zur Versorgung organtransplantierter Patienten mit hochwertigen Arzneimitteln im 1. Halbjahr 1989 benötigten finanziellen Mittel für Importe aus dem NSW wurden entsprechend dem durch den Minister für Gesundheitswesen gestellten Antrag mit 3,6 Mio. VM bedarfsdeckend kontingentiert.

    Mit den für das 2. Halbjahr 1989 eingeordneten Importmitteln in Höhe von 2,6 Mio. VM könne die Versorgung nicht gesichert werden. Hier sei eine Erhöhung um 1,0 Mio. VM erforderlich.

  • Die bisher eingeordneten Länderkennziffern (Import) ČSSR und SSR gewährleisten keine bedarfsdeckenden Verträge für Nasentropfen, ausgewählte Herz-Kreislauf-Mittel und fiebersenkende Zäpfchen.

    Zur bedarfsdeckenden Vertragsbindung müssten die Länderkennziffer ČSSR um 7,2 Mio. M VGW und die Länderkennziffer SSR um 5,0 Mio. M VGW erhöht werden.

  • Aufgrund der Verbrauchsentwicklung bei Verbandsstoffen im Planjahr 1988 sei die Versorgung im Planjahr 1989 mit den bisher eingeordneten Fonds in den Erzeugnisgruppen fixierte Gipsbinden, elastische Binden, Trikotschlauchbinden, Mulltupfer und Bettunterlagen nicht gewährleistet.

    Die volle Bedarfsdeckung erfordere nach gegenwärtigem Stand zusätzliche Importe in Höhe von 6 210 TVM.

  • Bei medizinischen Verbrauchsmaterialien würden bei 36 Schwerpunktpositionen (Bilanzbereich Ministerium für Allgemeinen Maschinenbau, Landmaschinen- und Fahrzeugbau) Differenzen bestehen, die sich aus dem Inlandaufkommen nicht decken lassen. Dies betrifft eine Differenz zum Bedarf in Tausend Stück u. a. bei

    [Material]

    Fehlmenge

    Bedarf

    Infusionsgeräten

    1 324 TSt.

    4 324 TSt

    Blutübertragungsgeräten

    1 108 TSt.

    1 715 TSt.

    Urinbeuteln

    1 143 TSt.

    2 743 TSt.

    Hohlfaserdialysatoren

    100 TSt.

    450 TSt.

    Einmalgebrauchskanülen

    56 000 TSt.

    90 000 TSt.

    Stomatologischen Instrumenten

    4 260 TSt.

    10 660 TSt.

    Zur Sicherung der Versorgung seien deshalb nach gegenwärtigem Stand Importe aus dem NSW in Höhe von 13,5 Mio. VM erforderlich.

Diese dargestellten bereits langfristig wirkenden Versorgungsprobleme mit Arzneimitteln, Verbandsstoffen und medizinischen Verbrauchsmaterialien haben konkrete negative politisch-ideologische Auswirkungen, vorwiegend unter den Beschäftigten des Gesundheitswesens der DDR, aber auch unter Teilen der Bevölkerung, welche mit Mangelerscheinungen und deren Folgen im Gesundheitswesen konfrontiert werden.

In den Reaktionen der Bevölkerung und bei Mitarbeitern des Gesundheitswesens ist insgesamt ein Ansteigen des Unverständnisses für das ständige Wiederkehren bzw. Fortbestehen medizinischer Versorgungsprobleme sowie Verärgerung, Missstimmung, Resignation und Vertrauensverlust hinsichtlich der Wirksamkeit sozialistischer Gesundheitspolitik feststellbar. In anwachsendem Maße, vor allem auch im Ergebnis der erheblichen Zunahme von Reisen in dringenden Familienangelegenheiten, ist die ständig problematische Versorgungssituation Anlass zu Vergleichen mit dem Gesundheitswesen der BRD, wobei derartige Vergleiche oft zuungunsten der DDR ausfallen. Hierin liegen in gewissem Maße motivbildende bzw. motivbeeinflussende Faktoren für Straftaten des ungesetzlichen Verlassens der DDR durch Ärzte und Mitarbeiter des Gesundheitswesens.

Der erforderlichen Stabilisierung der Versorgung des Gesundheitswesens der DDR wird durch Entscheidungen der Staatsorgane zur Stabilisierung und Erhöhung der Produktion, die Zuführung zusätzlicher Valutamittel für Importe sowie die ständige Kontrolle und Steuerung der Versorgungsprozesse im Rahmen der Tätigkeit der Arbeitsgruppe des Ministerrates »Operative Durchführung und Kontrolle des Versorgungsplanes«/Leitung Staatssekretär Genosse Klopfer kontinuierlich Aufmerksamkeit gewidmet.

Mit den Beschlüssen des Ministerrates und dessen Präsidiums zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung und der Gesundheitseinrichtungen mit Arzneimitteln, textilen Verbandsstoffen und anderen medizinischen Verbrauchsmaterialien vom 23. Dezember 1987 und 19. Mai 1988 bestehen nach übereinstimmenden Auffassungen von Fachleuten ausreichende Entscheidungsgrundlagen mit konkreten grundlegenden Aufgabenstellungen sowohl für das Gesundheitswesen als auch für die Industrieministerien, Kombinate und Betriebe.

Entsprechend dem gegenwärtig auf diesen genannten Grundlagen erreichten Stand und den sich ergebenden weiteren Erfordernissen sollte diesen Auffassungen von Experten des Gesundheitswesens zufolge die Durchsetzung nachfolgender Maßnahmen geprüft werden:

  • Die Erarbeitung von langfristigen Konzeptionen zur Entwicklung und Produktion von Arzneimitteln, Verbandsstoffen, medizinischen Verbrauchsmaterialien und Medizintechnik für den Zeitraum 1991 bis 1995, in den einschlägigen Betrieben und Kombinaten sowie die Herbeiführung erforderlicher Entscheidungen durch die Staatliche Plankommission.

  • Die Zuordnung ausgewählter Betriebe und anderer Produktionskapazitäten zum Ministerium für Gesundheitswesen mit dem Ziel der erweiterten Herstellung von Rationalisierungsmitteln und wissenschaftlich-technischen Geräten für das Gesundheitswesen.

  • Die Schaffung gemeinsamer und abgestimmter Bestands- und Reservehaltungen auch im Bereich der Industrie und des Großhandels.

  • Die Einführung differenzierter Maßnahmen zur materiellen Stimulierung der Werktätigen und Leiter der einschlägigen Industriebereiche und des Großhandels zur Überbietung der Leistungskennziffern für Produktionsaufgaben, die der Versorgung des Gesundheitswesens dienen.

  • Das Festlegen von Regelungen, die Produktionseinschränkungen zulasten der Versorgung des Gesundheitswesens verhindern.

  • Die Einführung von flexiblen Methoden der Anwendung der staatlichen Kennziffern in der Industrie, die ermöglichen, dynamischer auf die objektiven Bedarfsänderungen des Gesundheitswesens zu reagieren.

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