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Stimmung unter Berliner Schriftstellern

11. November 1988
Information Nr. 495/88 über einige beachtenswerte Meinungsäußerungen von Mitgliedern des Bezirksvorstandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR zu aktuellen Problemen

Nach dem MfS streng intern vorliegenden Hinweisen ist unter Mitgliedern des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR eine zunehmende Tendenz kritischer Meinungsäußerungen zur Innenpolitik von Partei und Regierung erkennbar, die zum Teil geprägt sind durch Pessimismus, Zweifel und Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit und des Vermögens zentraler Partei- und Staatsorgane, anstehende Probleme, besonders auf ökonomischem Gebiet, erfolgreich zu lösen.

Kennzeichnend ist, dass derartige Meinungsäußerungen immer offener und unter Berufung auf vorhandene Besorgnisse um die weitere stabile Entwicklung der DDR erfolgen und sie teilweise verbunden sind mit Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen. In diesem Sinne treten zunehmend auch solche Autoren auf, die bisher die Politik von Partei und Regierung auch in der Öffentlichkeit unterstützten, als Mitglieder der SED die Parteidisziplin wahrten bzw. ein loyales Verhalten an den Tag legten.

Die geäußerten Auffassungen beziehen sich vor allem auf die Gewährleistung von mehr »Offenheit in der DDR« nach dem Beispiel der Sowjetunion, nach Änderung der Medienpolitik im Sinne einer »realitätsbezogenen« Berichterstattung und einer sachbezogeneren, problemorientierten und abrechenbaren Politik in Umweltfragen.

Einzelmeinungen beinhalten darüber hinaus Auffassungen, wonach über die Sozialismus-Konzeption in der DDR und die führende Rolle der Partei neue Überlegungen erforderlich wären. Teilweise wird auf einen politischen Pluralismus orientiert. Befürwortet wird ferner ein Dialog mit Personen, die sozialismusfeindliche und sozialismusfremde Auffassungen vertreten, dabei auch mit solchen Kräften, die unter dem Deckmantel der Kirche wirken.

Nach weiter streng intern vorliegenden Hinweisen wurden konkrete Meinungsäußerungen mit den erwähnten Grundtendenzen auch während der Berichtswahlversammlung der Parteiorganisation des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR am 3. November 1988 und auf einer Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin am 29. September 1988, zum Teil unverhüllt und emotional geprägt, vorgetragen.

Zu ausgewählten Äußerungen während der Berichtsversammlung der genannten Parteiorganisation:

Der Schriftsteller Walter Kaufmann, Generalsekretär des PEN-Zentrums der DDR, nahm Bezug auf die Nichtauslieferung der Monatszeitschrift der UdSSR »Sputnik« Nr. 10/88 und forderte eine offene Diskussion zu entwicklungsbedingten Problemen sowie zu einer »Geschichtsaufarbeitung« in der DDR.

Ursula Püschel, Mitglied der Parteileitung des Bezirksverbandes Berlin, äußerte, es müsse über die Sozialismus-Konzeption und die führende Rolle der Partei neu nachgedacht werden, da die globalen Probleme, vor denen die Menschheit stehe, dies erfordere. Der Sozialismus brauche ihrer Auffassung nach eine Erneuerung in der Richtung, wie das in der UdSSR der Fall sei; nur werde in der DDR so getan, als ob alles in bester Ordnung wäre. In der DDR müsse eine Änderung in der Medienpolitik vorgenommen werden. Es könne nicht angehen, dass der DDR-Bürger seine Informationen über die DDR aus den Westmedien beziehe. Kommunisten dürften keine Fakten scheuen und müssten mit Argumenten an die Öffentlichkeit. Die Mündigkeit der Bürger müsse ernst genommen werden, und die »politische Seelsorge« müsse aufhören. Die Kirche sei zum Zufluchtsort geworden für Leute, die woanders nicht sprechen dürfen, aber öffentlich diskutieren wollten. Manche jungen Leute »denken schief«; Polizei, Prozesse und Relegierungen seien aber nur administrative Lösungen, und es müssten viele Kräfte gebunden werden, um administrative Fehlleistungen zu korrigieren.

Benito Wogatzki begann seinen Diskussionsbeitrag mit den Worten: »Wenn man lange hier arbeitet, kotzt es einem mit der Zeit an, immer wieder dieselbe Scheiße angreifen zu müssen.« In früheren Jahren, äußerte er weiter, sei die Medienpolitik darauf ausgerichtet gewesen, bestehende Probleme auch öffentlich zu diskutieren. Heute werde »alles verkleistert«. Über gesellschaftlich brennende Fragen finde in der DDR keine Debatte mehr statt; aber es gäbe ständig Erfolgsmeldungen, »die alle anöden«. Damit würden Partei und Staat mehr und mehr das Gesicht verlieren. Um diesen Prozess aufzuhalten, seien grundsätzliche Änderungen nötig. (Wogatzki erhielt für diesen Beitrag starken Beifall.)

Victor Grossmann (in der DDR lebender USA-Bürger, Mitglied der KP der USA, Gast der Berichtswahlversammlung) brachte u. a. zum Ausdruck, dass er sogar bei gutwilligsten DDR-Bürgern Sorge und Angst um die DDR sowie insgesamt einen großen Schwund im Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Bürgern feststellen müsse.

Vera Friedländer, Übersetzerin, führte aus, bei der sozialistischen Umgestaltung in der DDR werde ein neues Tabu aufgebaut. Dieses Tabu heiße: Keine Nachahmungen, keine Veränderungen analog der UdSSR. Spreche sich dennoch einer für Veränderungen aus, »komme gleich die Drohung mit der Konterrevolution«. Enttäuscht zeigte sie sich von der Rede des Genossen Hager in Ludwigsfelde, in der ihrer Auffassung nach notwendige Veränderungen in der DDR bestritten worden seien. Sie verwies auf »Selbstzufriedenheit und eine Art von Überheblichkeit«, die davon ausgehe, in der DDR werde stets alles richtig gemacht. Vera Friedländer plädierte für »Überlegungen, Veränderungen vorzunehmen, weil der Rest von Vertrauen, den Partei und Regierung noch hätten, erhalten bleiben müsse«.

Der Schriftsteller Armin Stolper, der sich für den Aufbau einer »immer menschlicheren Gemeinschaft« und für notwendige Veränderungen in diesem Sinne aussprach, stellte Fragen nach der »Moral der neuen Gesellschaft« und der Einordnung der »Enttäuschten und Zurückgestoßenen«, die aus der DDR weggehen wollen, und die nicht als Feinde des Sozialismus zu bezeichnen wären. Die »Entmündigung« der Menschen sei die größte Moraleinbuße der Gesellschaft; Wohlbefinden hierzulande sei – so Stolper – eine Rarität. Zur Verbesserung der Situation sei zunächst eine völlig andere Medienpolitik notwendig.

In sehr massiver Form nahm die Autorin Lisa-Rose Pirskawetz, Mitglied des Aktivs »Literatur und Umwelt« des Schriftstellerverbandes der DDR, zu Umweltproblemen Stellung. Als »umweltrelevante Erkrankungen« führte sie u. a. an: Verdreckung unseres Landes und unserer Gesundheitseinrichtungen, Trinkwasserverseuchung durch falsch betriebene Landwirtschaft und falsche Ernährung als Erscheinung von Mangel an Gemüse und Obst. Sie forderte u. a. eine besondere Veranstaltung mit Schriftstellern, in der eine »Konzeption zu Umweltproblemen« behandelt werden müsste. Sie forderte, besonders das Umweltbewusstsein in der NVA auszuprägen, weil in deren Verantwortung die Umwelt rücksichtslos zerstört werde. Als Beispiel erwähnte sie, dass tausende Liter Treibstoff »in die Luft gejagt würden«, um einen Atompilz zu simulieren.

Zu ausgewählten Meinungsäußerungen während der genannten Mitgliederversammlung des Bezirksverbandes Berlin des Schriftstellerverbandes der DDR:

Walter Kaufmann polemisierte um die Frage, weshalb wir in der DDR die Jugend mehr und mehr verlieren. Obwohl der Lebensstandard hoch sei, entspringe daraus kein Elan für die Sache. Er stelle ständig Zeichen neuer Unzufriedenheit fest und überlege, was zu ändern sei. Möglicherweise müsse mit der Medienpolitik begonnen werden; die dauernden »Erfolgsmeldungen« wirkten »makaber«.

Der Autor Karl Mundstock vertrat den Standpunkt, große Teile der Jugend identifizieren sich nicht mit dem politischen Grundanliegen in unserem Staat, und es müsse herausgefunden werden, warum das so sei. Notwendig wären in diesem Zusammenhang Foren und Diskussionsrunden mit sachkundigen Persönlichkeiten und führenden Repräsentanten von Partei und Regierung.

Die Autorin Charlotte Wasser äußerte, sie mache sich weniger Gedanken um die internationalen Gefahren, denn die seien bekannt. Ihre große Sorge gelte den Problemen in unserem Lande. Es gäbe keine Demokratie. Die Jugend habe kein Vertrauen mehr zum Staat und zur Partei. Eines der erschütterndsten Resultate der bisherigen Entwicklung sei ihrer Meinung nach eine »Massenflucht« aus der DDR.

In seinen Ausführungen betonte der Schriftsteller Karl-Heinz Tuschel, als Mitorganisator der ersten Kommunalwahlen 1950 habe er miterlebt, dass über 50 % der Bürger die Kandidaten der Arbeiterklasse gewählt hätten. Er habe Bedenken, ob heute diese Mehrheit zustande käme und teile die Sorge vieler alter Genossen um die gegenwärtige Situation.

Wolfgang Kohlhaase, Schriftsteller und Filmautor, brachte in seinem Beitrag zum Ausdruck, als wesentlichstes Problem der inneren Entwicklung in der DDR sehe er den Mangel an Offenheit und Demokratie. Viele Bürger hätten nicht mehr das Gefühl, gebraucht zu werden; das betreffe insbesondere geistig Tätige. Nach seiner Auffassung müsse die Lage im Innern der DDR Veranlassung zu einem grundlegenden Neubeginn und zu Reformen geben. Kohlhaase führte weiter an, viele Genossen und Bürger der DDR seien ernsthaft irritiert, weil das Bild über die UdSSR plötzlich nicht mehr gelten soll, nachdem das »Nationalbewusstsein der DDR« für Jahrzehnte auf die UdSSR orientiert gewesen sei.

Der Autor Wolfgang Tilgner erläuterte, es würde kaum noch einer daran glauben, was offiziell bei uns verkündet werde. Als Beispiel nannte er die Meldung über die Entwicklung eines 1-Megabit-Chips, die seiner Meinung nach jeder Eingeweihte als »großen Betrug« bezeichnen würde. Der 1-Megabit-Chip sei längst noch nicht produktionsreif, und es sei unrichtig, wenn Genosse Honecker von einem Welterfolg spreche. Daraus müsse man schlussfolgern, dass er nicht real informiert werde.

Eberhard Panitz brachte in dieser Beratung zum Ausdruck, es fehle nicht an ehrlich gemeinten Hinweisen und Gedanken der Schriftsteller über das, was veränderungswürdig sei. Er habe aber den Eindruck, diese Hinweise »kämen nicht an« und fänden bei der Partei- und Staatsführung kein Gehör. Fehlende Reaktion führe u. a. zu Mutlosigkeit.

Die Information ist wegen äußerster Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

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    9. November 1988
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