Proteste gegen die Zensur von Kirchenzeitungen (Verhinderung)
25. Oktober 1988
Information Nr. 462/88 über die vorbeugende Verhinderung einer erneut beabsichtigten öffentlichkeitswirksamen Demonstration feindlich-negativer Kräfte am 24. Oktober 1988 in der Hauptstadt der DDR, Berlin
Im Ergebnis der auf der Grundlage getroffener zentraler Entscheidungen durchgeführten Maßnahmen wurde eine erneut geplante öffentlichkeitswirksame Zusammenrottung feindlich-negativer Kräfte am 24. Oktober 1988 in der Hauptstadt der DDR, Berlin, wirksam vorbeugend verhindert. Entscheidend für die Unterbindung der spektakulär angelegten Provokation waren1
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die Durchführung von 23 Gesprächen mit kirchenleitenden Kräften und kirchlichen Mitarbeitern, in denen über die getroffenen zentralen Entscheidungen hinsichtlich des vollständigen Erscheinens aller Kirchenzeitungen am 23. Oktober 1988 informiert und die staatliche Erwartungshaltung bezüglich einer Einflussnahme auf die Unterbindung der geplanten Provokation übermittelt wurde, was alle angesprochenen Personen zusicherten,
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die im Zusammenwirken mit den zuständigen staatlichen Organen erfolgten Belehrungen/Verwarnungen von insgesamt 115 Personen, bei denen aufgrund vorliegender Erkenntnisse mit einer Teilnahme an der geplanten Demonstration gerechnet werden musste, darunter 29 Übersiedlungsersuchende (Berlin – 25, Potsdam – 3, Karl-Marx-Stadt – 1),
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die Zuführung von 9 Personen (ausschließlich Übersiedlungsersuchende; Rostock – 5, Berlin und Dresden – je 2), die entgegen den erteilten Belehrungen/Verwarnungen an der beabsichtigten Zusammenrottung teilnehmen wollten. (Die zugeführten Personen wurden zwischenzeitlich nach entsprechender Verwarnung wieder entlassen.)
Dennoch ist beachtenswert, dass am 24. Oktober 1988 in der Zeit von 16.00 Uhr bis 17.30 Uhr im Petrisaal des Konsistoriums der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Neue Grünstraße, eine als Lesergespräch der Kirchenzeitung »Die Kirche« deklarierte Veranstaltung stattfand, an der insgesamt ca. 260 Personen, vorrangig aus der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie den Bezirken Neubrandenburg, Halle, Cottbus, Potsdam und Dresden, teilnahmen – darunter ca. 130 Übersiedlungsersuchende. (An der Identifizierung der Teilnehmer dieser Veranstaltung wird gearbeitet.)
Von kirchenleitenden Kräften waren Konsistorialpräsident Stolpe, Generalsuperintendent Krusche, Präses Becker, Propst Furian (Veranstaltungsleiter) sowie Stadtjugendpfarrer Hülsemann anwesend.
Außerdem nahmen teil der hinlänglich bekannte Pfarrer Simon (Zionskirchgemeinde/Berlin), der Chefredakteur der Zeitung »Die Kirche«, Gerhard Thomas, die Mitarbeiterin des Stadtjugendpfarramtes, Marianne Birthler, und Rechtsanwalt Schnur.
An Vertretern westlicher Massenmedien waren Richter (ARD), Schmitz (ZDF), Heber und Hauptmann (ARD-Hörfunk), Zimmermann (FAZ), Kern (Rheinische Post), Baum (Frankfurter Rundschau), Jennerjahn (DPA) und Röder (epd) anwesend, die während der Veranstaltung Aufzeichnungen anfertigten. Die Techniker von ARD und ZDF verblieben außerhalb des Kirchengeländes.
Ein weiterer Teilnehmer war der Angehörige der Botschaft der USA in der DDR, Lipping. Von den hinlänglich bekannten Kräften des politischen Untergrundes waren Gerd Poppe, Mario Schatta, Wolfgang Ernicke und Holger Brandt anwesend, von denen nur Schatta auftrat.
Propst Furian eröffnete die Veranstaltung mit biblischer Thematik und leitete daraus die Notwendigkeit gemäßigten Handelns in der derzeitigen Situation ab. Danach gab Chefredakteur Thomas in sachlicher Form den Inhalt der Gespräche zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Genossen Löffler, und Bischoff Leich vom 13. Oktober 1988 und des Gespräches der evangelischen Kirchenleitung mit den Chefredakteuren der evangelischen Kirchenzeitungen am 19. Oktober 1988 wieder. Durch ihn wurden die bei diesen Gesprächen erzielten Ergebnisse als positiv bewertet, da es seiner Meinung nach gelungen sei, den unterbrochenen Dialog mit dem Staat fortzusetzen.
An einer sich an diese Ausführungen anschließenden ca. einstündigen Diskussion beteiligten sich ca. 30 Personen. Die überwiegende Mehrzahl der Diskussionsredner kritisierte die ihres Erachtens gemäßigte Politik der Kirchenleitung gegenüber den staatlichen Organen und forderte eine verstärkte Publizierung gesellschaftspolitischer Themen und der Tätigkeit sogenannter kirchlicher Basisgruppen in der Kirchenzeitung. Als Übersiedlungsersuchende erkennbare Personen verlangten öffentlichkeitswirksame Aktionen ähnlich denen am 10. Oktober 1988.
Pfarrer Simon (Zionskirche) sprach sich gegen eine Trennung von Kirche und Staat aus, begründete das mit der Notwendigkeit der verstärkten Beschäftigung der Kirche mit gesellschaftspolitischen Themenstellungen und forderte die Vertreter der Kirchenzeitungen auf, einen dementsprechenden Einfluss auf die staatlichen Organe auszuüben.
Mario Schatta kritisierte die seines Erachtens inhaltslose Darstellung der 2. Ökumenischen Vollversammlung in Magdeburg in der Kirchenzeitung und forderte zur Durchsetzung politischer Zielstellungen gegenüber dem Staat zu Aktionen ähnlich des 10. Oktober 1988 auf.
Nachdem durch Übersiedlungsersuchende in der Diskussion verstärkt die Ereignisse vom 10. Oktober 1988 zum Ausgangspunkt für Forderungen nach weiteren öffentlichkeitswirksamen Aktionen genutzt wurden, wies Generalsuperintendent Krusche auf die unterschiedliche Interessenlage von Christen und Übersiedlungsersuchenden in der DDR hin und versuchte damit, die Diskussion zu diesem Thema zu beenden.
Präses Becker stellte die Haltung der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg dar und betonte, sie stünde voll hinter der Redaktion der Kirchenzeitung. Er brachte nochmals die Ablehnung gegenüber der Demonstration am 10. Oktober 1988 zum Ausdruck.
In mehreren Antworten auf Anfragen der Teilnehmer lehnte Thomas unter Hinweis auf die derzeitigen »Machtrealitäten« eine Berichterstattung über solche Aktionen in der Kirchenzeitung ab und machte nochmals deutlich, dass öffentlichkeitswirksame Aktionen als auch weitere Zusammenkünfte (sog. Leserdiskussion) derzeitig den Dialogprozess mit den staatlichen Organen belasten würden.
In einem Schlusswort deutete Thomas die Möglichkeit an, im Falle einer weiteren staatlichen »Reglementierung« des Inhalts der Kirchenzeitung über die Kommunikationsmöglichkeiten des Stadtjugendpfarramtes erneut derartige Veranstaltungen kurzfristig organisieren zu können.
Durch Propst Furian wurden die Anwesenden ohne Verweis auf weitere Veranstaltungen gegen 17.30 Uhr verabschiedet.
Während und nach der Veranstaltung wurden mehrfach lautstarke Unmutsäußerungen, insbesondere von Übersiedlungsersuchenden, über deren Verlauf gemacht.
Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung fanden nicht statt.
Die elektronischen Medien (RIAS, SFB) gingen in ihren Meldungen am 24. Oktober 1988 nur kurz auf den Verlauf der Veranstaltung ein.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnis bestimmt.
Mielke [Unterschrift]