Reaktionen der Bevölkerung auf 9. Tagung des ZK der SED
21. Oktober 1989
Hinweise über die Reaktionen der Bevölkerung auf die 9. Tagung des ZK der SED am 18. Oktober 1989 [Bericht O/230]
Die von der 9. Tagung des Zentralkomitees der SED1 getroffenen Entscheidungen und die Rede des Generalsekretärs, Genossen Krenz,2 wurden von breitesten Bevölkerungskreisen mit großem Interesse aufgenommen.3 Sie haben eine Vielzahl spontaner und differenzierter Meinungsäußerungen ausgelöst. Die dazu geführten Diskussionen sind in der Regel von Sachlichkeit und Aufgeschlossenheit geprägt. Insbesondere Mitglieder der SED u. a. gesellschaftlich engagierte Personen äußern mit großer Erleichterung, die Parteiführung habe offensichtlich den Ernst der Lage in der DDR erkannt und die Initiative ergriffen, um wieder in die ideologische und politische Offensive zu gelangen.
Den Schwerpunkt vorliegender erster Meinungsäußerungen bildet die Rede des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Krenz.
Auf positive Resonanz in allen Bevölkerungskreisen stößt die Tatsache, dass Genosse Krenz sich unmittelbar nach seiner Wahl zum Generalsekretär des ZK der SED direkt an die Bevölkerung gewandt habe. Seine Rede wird als Grundsatzerklärung der Parteiführung für die weitere Gestaltung der Politik der Partei bewertet. Sie sei ansprechend, verständlich und habe sich durch ihre Sachlichkeit, ihre selbstkritische Note und durch ihre verständliche Sprache wohltuend von den Reden führender Repräsentanten in der Vergangenheit mit deren einseitigen »runden« Darstellungen der gesellschaftlichen Entwicklung abgehoben. Damit hätte die Partei signalisiert, dass sie die Probleme in unserem Land erkannt habe.
Viele Werktätige äußern Genugtuung darüber, dass ihre schon seit Langem getroffenen kritischen Einschätzungen zur Situation in der Volkswirtschaft, einschließlich der Wirksamkeit des Leistungsprinzips, zur Versorgung der Bevölkerung, zur Medienpolitik und zum Stand der Entwicklung der sozialistischen Demokratie von der Parteiführung jetzt bestätigt worden seien.
Vielfach wird das jedoch mit der Frage verbunden, warum das Umdenken in der Parteiführung erst in einer so zugespitzten Lage, wie sie gegenwärtig in der DDR herrscht, einsetzte. Das Eingeständnis, die Parteiführung habe das Wesen der gesellschaftlichen Entwicklung in unserem Land in den vergangenen Monaten nicht real genug eingeschätzt und versäumt, rechtzeitig richtige Schlussfolgerungen zu ziehen, wird vielfach als ein erster Ansatzpunkt für die Partei gesehen, das Vertrauen der Werktätigen wiederzugewinnen.
Aus zahlreichen vorliegenden Informationen wird jedoch ersichtlich, dass nicht wenige Bürger unterschiedlichster Klassen und Schichten die erklärte Bereitschaft der Parteiführung, grundlegende Veränderungen in der DDR herbeizuführen, mit großer Skepsis und Misstrauen betrachten. Des Öfteren wird darin nur ein »taktischer« Schachzug gesehen, um die Bevölkerung zu beruhigen.
Beachtenswert erscheinen in diesem Zusammenhang auch von Werktätigen in den Gesprächen in den Arbeitskollektiven aufgeworfene Fragen nach der weiteren Gültigkeit der auf der 7. und der 8. Tagung des ZK der SED gefassten Beschlüsse, die als grundlegende Orientierungen in Vorbereitung des XII. Parteitages der SED deklariert worden waren.4 Es wird davon ausgegangen, dass diese auf einer falschen Lageeinschätzung beruhten und deshalb neu bewertet werden müssen.
Breite Zustimmung findet, dass Genosse Krenz alle Bevölkerungsschichten in der DDR direkt angesprochen habe, um sie zur Mitarbeit aufzufordern.
In einer Vielzahl von Meinungsäußerungen bringen Werktätige ihre Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung bei der Überwindung der komplizierten innenpolitischen Probleme zum Ausdruck. Der angekündigte und in ersten Ansätzen begonnene politische Dialog mit allen Teilen der Bevölkerung wird von ihnen als eine Möglichkeit angesehen, die Phase der Erstarrung und der Stagnation in der Gesellschaft und die Resignationserscheinungen unter vielen Werktätigen allmählich zu überwinden.
Von vielen Mitgliedern der SED und anderen progressiven Kräften in Kombinaten und Betrieben wird jedoch die Meinung geäußert, man dürfe über den Dialog nicht nur reden, sondern müsse ihn jetzt auf allen Ebenen führen und auch Ergebnisse dabei erzielen.
Unter Hinweis auf erste geführte Gespräche in Kombinaten und Betrieben äußern sich viele Werktätige, vor allem Arbeiter, es sei zu begrüßen, dass Repräsentanten und Funktionäre wieder den Weg zu den Arbeitern finden, denn es sei höchste Zeit für sie, sich deren ungeschminkte Meinung anzuhören.
Wiederholt wird dies jedoch von Arbeitern aus Großbetrieben, beispielhaft hierfür wird das Auftreten des Genossen Tisch5 im VEB Elbewerft Boizenburg angeführt, als ein »hilfloser Versuch« gewertet, sich ihnen jetzt wieder zuzuwenden und ihre Sprache zu sprechen, die sie jahrzehntelang nicht mehr kannten. Man empfände es als befremdend, wenn in derartigen Gesprächen behauptet werde, man kenne die Probleme der Werktätigen und werde darüber reden.6
Vor allem ältere Arbeiter, darunter Mitglieder der SED, vertreten die Auffassung, das Verhältnis vieler Funktionäre zu den Werktätigen sei seit Langem gestört. Noch in den 1970er Jahren sei das regelmäßige Gespräch mit Partei- und Gewerkschaftsfunktionären gängige Praxis gewesen. Seit geraumer Zeit habe man vor allem die Parteifunktionäre und staatlichen Leiter nur noch auf Versammlungen erlebt, wo sie Grundsatzreferate hielten, aber in der Regel nicht die die Werktätigen berührenden Fragen behandelten. Dadurch hätten sie nur über die Köpfe hinweggeredet.
Die Werktätigen und ihre Gewerkschaftsorganisation erwarteten klare Antworten auf ihre seit Langem gestellten Fragen, vor allem zur Situation in der Volkswirtschaft, denen man bisher immer ausgewichen sei, verbunden mit dem Aufzeigen konstruktiver Lösungswege. Es sei nach Meinung o. g. Personenkreise unbedingt erforderlich, jetzt konkrete Entscheidungen und Maßnahmen folgen zu lassen, was am ehesten dazu beitragen würde, das Vertrauen der Werktätigen zur Partei wieder zu festigen.
Die Feststellung des Genossen Krenz, dass nicht alle Probleme kurzfristig zu lösen seien, findet Verständnis und Zustimmung bei den Werktätigen. Dennoch habe man konkretere Aussagen zu möglichen Lösungswegen und absehbaren Veränderungen vermisst. Sie seien bereits jetzt erwartet worden.
Vor allem progressive Kräfte vertreten dazu die Auffassung, es sei zur weiteren Entspannung und Beruhigung der Stimmungslage unter den Werktätigen zwingend erforderlich, entschlossen zu handeln.
Die Partei müsse sehr bald akzeptable Lösungswege aufzeigen, um ihren Willen zur Veränderung zu dokumentieren. Mit konkreten Vorschlägen und Entscheidung zu den aufgeworfenen Problemen würde die Partei auch den feindlich-negativen Kräften wesentliche Angriffspunkte nehmen.
Kurzfristig für alle spürbare Veränderungen müssten erreicht werden hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung, der kontinuierlichen Organisation von Produktionsprozessen sowie zu Reisemöglichkeiten. Darüber hinaus müsse – von der Partei initiiert und geführt – der begonnene Meinungsaustausch auf allen Ebenen intensiv weitergeführt werden, um in seinem Ergebnis schnellstmöglich durch die Partei programmatische Vorstellungen über die Lösung der anstehenden Probleme zu entwickeln. Abgesteckte Ziele sowie die Entscheidung von Detailfragen dazu sollten konkret und in einer für die Werktätigen überschaubaren Form erfolgen sowie den Werktätigen in den Medien erläutert werden.
In diesem Zusammenhang verweisen sie auf folgende, von den Werktätigen als dringend notwendig angesehene Veränderung in den Kombinaten und Betrieben:
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Erarbeitung bilanzierter Pläne, die reale Leistungsziele enthalten, wobei hier immer wieder die Forderung nach Gewährleistung der Kontinuität der Produktion den Schwerpunkt darstellt (u. a. den Erfordernissen entsprechende Bereitstellung von Materialien, Zulieferungen und Ersatzteilen). Erhöhung der Flexibilität der Planungsmechanismen und Konzentration der zentralen Planung auf Schwerpunkte.
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Wiederherstellung ausgewogener Proportionen in der Volkswirtschaft. (So seien z. B. zu viele Mittel in die Mikroelektronik investiert worden zum Nachteil des Hauptexportträgers der DDR, dem Maschinenbau.) In diesem Zusammenhang müsse die Investitionspolitik schwerpunktorientiert insbesondere für eine schnelle, spürbare Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen erfolgen.
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Einsatz von Leitungskadern, vor allem unter Berücksichtigung ihrer fachlichen Qualifikation und ihrer Fähigkeiten (Kriterium dafür dürfe nicht das Parteidokument sein.). Gleichfalls müsse das Hineinreden von Parteiorganen in betriebliche Entscheidungen aufhören.
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Konsequente Durchsetzung des Leistungsprinzips, insbesondere spürbarere Differenzierung zwischen normalen und Spitzenleistungen, leistungsorientierte Bezahlung von Leitungs- und mittleren leitenden Kadern (Meister, Brigadiere, Abteilungsleiter usw.).
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Rationalisierung der Arbeit in den Verwaltungsbereichen der Betriebe, Reduzierung des Verwaltungsapparates.
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Überdenken der Subventionspolitik.
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Konsequente Bekämpfung von Arbeitsbummelei/Schlamperei, von Verstößen gegen Ordnung, Sicherheit und Disziplin im Arbeitsprozess, von Missbrauch sozialer Leistungen.
In Realisierung dieser Prozesse müsse der FDGB wieder zum wirklichen Interessenvertreter der Arbeiter und Angestellten werden und dabei sein Mitspracherecht gegenüber Leitungsentscheidungen künftig stärker artikulieren können. In diesem Zusammenhang wird mehrheitlich auf die zwingende Notwendigkeit einer zunehmenden Transparenz und Verständlichkeit wirtschaftlicher Entscheidungen hingewiesen.
Im Ergebnis der Herbeiführung volkswirtschaftlicher Veränderungen müsse letztlich die spürbare Verbesserung der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und Waren des Grundbedarfs sichtbar werden.
Insbesondere werden Erwartungen geäußert hinsichtlich
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der durchgängigen Sicherung eines stabilen und sortimentsgerechten Angebots in voller Breite bis Ladenschluss,
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einer Erweiterung des Angebotes hochwertiger Konsumgüter,
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der Senkung der Wartezeiten bei Pkw-Neubestellungen.7
Darüber hinaus wird mit gleicher Intensität zum Teil sehr hartnäckig gefordert:
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Schonungslose, ehrliche Analyse und Offenlegung der Fehler der letzten Jahre;
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Durchsetzung einer bürgernahen, auf die Fragen und Probleme der Menschen ausgerichteten Arbeit der Volksvertretungen und Staatsorgane;
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Herbeiführung von Regelungen, die neben der Schaffung von erweiterten Möglichkeiten für Reisen ins nichtsozialistische Ausland auch die Erweiterung der Reisemöglichkeiten in das sozialistische Ausland einschließen;
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weitere Ausgestaltung einer ehrlichen und lebensnahen, den Interessen und Bedürfnissen der Menschen entsprechenden Medienpolitik;
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Abschaffung aller Privilegien und Vergünstigungen für führende Partei- und Staatsfunktionäre aller Ebenen und deren Anhang.
In zunehmendem Maße wird auch die Frage nach der Existenzberechtigung von Intershop-Läden aufgeworfen.8
Die vom Zentralkomitee der SED getroffenen Kaderentscheidungen werden generell begrüßt und finden Unterstützung.
Der Rücktritt des Genossen Honecker9 von seinen Funktionen wird übereinstimmend als zu spät erfolgt bewertet.
Progressive Kräfte äußern in diesem Zusammenhang Befürchtungen, dass bei vielen Bürgern der Eindruck entstanden sein könnte, der Führungswechsel in der SED sei das Ergebnis des Drucks seitens der BRD und der »inneren Opposition«. Letztere würde sich dadurch bestärkt und weiter ermuntert fühlen.
Vielfach verbinden Werktätige ihre zustimmenden Auffassungen zur Neubesetzung der Funktion des Generalsekretärs des ZK der SED mit einer Würdigung der Persönlichkeit des Genossen Honecker und seiner Verdienste an der Entwicklung der DDR und im Kampf um Frieden und Abrüstung. Die Entscheidung des Genossen Honecker, um Abberufung aus seinen Funktionen zu bitten, wird als politisch verantwortungsbewusst bewertet. Dennoch sei es vor allem nach Meinung älterer progressiver Kräfte zutiefst bedauerlich, unter welchen Umständen sein Rücktritt erfolgte. Sein Ansehen und seine unbestreitbaren Verdienste als führender Repräsentant der DDR würden dadurch geschmälert. Man müsse darauf achten, dass Genosse Honecker nicht zum »Sündenbock« für alle entstandenen Probleme in der gesellschaftlichen Entwicklung gemacht würde.
Zur Wahl des Genossen Krenz als Generalsekretär des ZK der SED gibt es unter der Bevölkerung differenzierte Meinungen.
So vertreten insbesondere klassenbewusste Arbeiter und Angestellte aus Großbetrieben, Leitungskader der Industrie, Angehörige der Intelligenz und Mitarbeiter staatlicher Organe die Auffassung, es wäre zu begrüßen, wenn jetzt an die Spitze von Partei und Regierung eine Persönlichkeit trete, die sichtbar Vitalität ausstrahlt und den gesellschaftlichen Problemen aufgeschlossen gegenübersteht. Genosse Krenz wäre von ihnen schon lange als Nachfolger des Genossen Honecker angesehen worden. Er habe ihrer Meinung nach ausreichende Erfahrungen in der politischen Führungsarbeit. Sein Auftreten in der Öffentlichkeit lasse die notwendige Weitsicht und Prinzipienfestigkeit erkennen, um die anstehenden Fragen zu klären.
Dennoch äußern vor allem Angehörige der Intelligenz, Studenten, Personen aus dem Bereich Kunst und Kultur, kirchliche Amtsträger, aber auch Arbeiter und Angestellte aus Kombinaten und Betrieben Vorbehalte, in beachtlichem Umfang auch Ablehnung.
In diesbezüglichen Meinungsäußerungen spiegeln sich die in Sendebeiträgen westlicher elektronischer Medien verbreiteten diffamierenden Angriffe auf den Generalsekretär des ZK der SED direkt wider. So geben o. g. Personenkreise zu bedenken, dass Genosse Krenz als Mitglied des Politbüros für die Fehlentwicklung in der DDR politische Mitverantwortung trage. Von ihm seien deshalb keine gravierenden Veränderungen zu erwarten. Auch in seiner Eigenschaft als 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ habe er es nicht vermocht, nachhaltig wirksamen Einfluss auf die politisch-ideologische Erziehung der Jugend auszuüben. Bürger, die zu seiner »Amtszeit« FDJler waren, würden heute massenhaft das Land verlassen.10 Angelastet werden ihm auch seine bisherige Tätigkeit als verantwortlicher Sekretär des ZK der SED für Sicherheitsfragen und die ausgeübte Funktion des Leiters des zentralen Wahlbüros der DDR.
Häufig wird auch spekuliert, die Wahl des Genossen Krenz zum Generalsekretär wäre lediglich eine Übergangslösung bis zum XII. Parteitag der SED, da es ihm aus vorgenannten Gründen nicht gelingen werde, das Vertrauen der Werktätigen, vor allem der Jugend, zu gewinnen.
Die Entbindung der Genossen Mittag11 und Herrmann12 von ihren Funktionen wurde übereinstimmend mit großer Zustimmung aufgenommen. Sie werden persönlich verantwortlich gemacht für die angespannte und komplizierte Lage in der Volkswirtschaft sowie für die politisch falsche Gestaltung der Medienpolitik, die zu einem eklatanten Vertrauensschwund der Bevölkerung in die Politik der Partei geführt hätten. Es bestehen unter Mitgliedern der SED und anderen progressiven Kräften Erwartungen – zum großen Teil mit Forderungscharakter –, dass die persönliche Verantwortung von Mitgliedern der Partei- und Staatsführung an der entstandenen Situation offen herausgearbeitet und diesbezügliche weitere personelle Konsequenzen gezogen werden.
Besonders nachdenklich stimme es, so wird geäußert, wenn sich jetzt Genosse Hager13 als »größter Reformer produziere«, obwohl – so die Meinung von Arbeitern – er bisher als Verfechter eines dogmatischen Kurses galt. Dies hätten nicht zuletzt seine Äußerungen bewiesen, wonach in der DDR kein Tapetenwechsel notwendig sei.14 Nach Darstellung vieler in den Bereichen Kunst/Kultur und Wissenschaft tätiger Personen, darunter auch zahlreicher progressiver Kräfte, genieße er kein Vertrauen. Es sei bezeichnend, dass jetzt zahlreiche Aktivitäten von Künstlerverbänden an ihm und an der Abteilung Kulturpolitik des ZK der SED vorbeigehend organisiert würden. Im Bereich des Ministeriums für Volksbildung rechne man mit der Ablösung der Genossin Honecker als Minister.15
Der Einsatz jüngerer Kader mit Ausstrahlungskraft, Ideen, Durchsetzungsvermögen und Verbundenheit mit den Werktätigen in Funktionen des Partei- und Staatsapparates sei eine wesentliche Voraussetzung dafür, die neue innenpolitische Strategie der Partei für die Werktätigen glaubhaft zu machen.