Reaktionen westlicher Besucher der Leipziger Herbstmesse
8. September 1989
Information Nr. 411/89 über bekannt gewordene Reaktionen westlicher Messeteilnehmer und -gäste im Zusammenhang mit dem Rundgang von Repräsentanten der Partei und Staatsführung der DDR anlässlich der Leipziger Herbstmesse 1989
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen fand der Rundgang der Repräsentanten der Partei- und Staatsführung anlässlich der Eröffnung der Leipziger Herbstmesse 1989 bei einer Reihe anwesender Vertreter kapitalistischer Wirtschafts- und Handelskreise eine positive Wertung.1 Er habe wie stets Einfluss auf das politische Klima sowie die gegenseitigen vorteilhaften und nutzbringenden wirtschaftlichen Beziehungen.
Der traditionelle Messerundgang drücke die hohe Wertschätzung und Bedeutung aus, die die Regierung der DDR der Leipziger Messe als Weg und Möglichkeit der Belebung von Wirtschaftsbeziehungen zwischen sozialökonomisch gegensätzlichen Systemen beimesse. Namhafte ausländische Wirtschafts- und Regierungsvertreter sowie Messeteilnehmer hoben wiederum die bei den Standbesuchen gezeigte ausgewogene Balance zwischen politischen Äußerungen, ökonomischen Interessenlagen und verbindlichen Repräsentationspflichten hervor.
In Meinungsäußerungen, insbesondere von langjährigen Messebesuchern und interessierten Gästen, kam vielfach zum Ausdruck, dass man sich die Teilnahme des Genossen Honecker2 gewünscht hätte. Durchweg gab es aber Verständnis für seine Nichtteilnahme, verbunden mit Wünschen einer baldigen Genesung.3
Von nicht in den Messerundgang einbezogenen kapitalistischen Wirtschaftsvertretern wird häufig die Ansicht vertreten, dass die Wirtschaftsbeziehungen durch den Rundgang nicht nennenswert stimuliert werden, da mit diesem vorrangig politische Ziele verfolgt würden. Sie akzeptieren die Schaffung einer sachlichen und konstruktiven Atmosphäre, sehen jedoch dabei konkrete ökonomische und finanzielle Interessenlagen und vermeiden die Offenlegung politischer Standpunkte.
Bezugnehmend auf die gegenwärtige komplizierte politische Lage im Zusammenhang mit den Vorkommnissen unter Beteiligung von DDR-Bürgern in der Ungarischen VR und in BRD-Missionen in anderen sozialistischen Ländern4 heben NSW-Vertreter mit Nachdruck hervor, dass sie sich auf der Leipziger Messe ausschließlich in geschäftlichem Interesse aufhalten.
Der Direktor für strategische Planung der Salzgitter AG, BRD, Kunz,5 äußerte in diesem Zusammenhang, dass die BRD-Industriellen die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zur DDR trotz der in Massenmedien der BRD betriebenen Kampagne in bewährtem Maße fortsetzen werden.
In internen Meinungsäußerungen, u. a. der Verstandsvorsitzenden der Hoesch AG, Rohwedder,6 der Krupp Lonrho GmbH, Geldmacher,7 des Vorstandsmitgliedes der Bayer AG, Fritsch,8 der Salzgitter AG, Stähler,9 sowie des Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelstages der BRD, Stihl,10 wurden gleiche Positionen deutlich.
Die Leitung des Oetker-Konzerns wies ihre Messevertreter an, im Interesse der kommerziellen Aufgaben und der guten Beziehungen zum DDR-Außenhandel Kontakte zu eine oppositionelle Haltung offenbarenden DDR-Bürgern bzw. zu Antragstellern auf ständige Ausreise11 zu vermeiden, diesem Personenkreis den Zutritt zu den Verhandlungsräumen zu verwehren.
Der Besuch der Partei- und Staatsführung der DDR am Stand der Hoechst AG, BRD, wurde durch Vertreter dieser Firma als große Wertschätzung ihres Unternehmens angesehen.
Das Vorstandsmitglied Thomsen12 untermauerte in internen Gesprächen das starke Interesse am Ausbau der Handelsbeziehungen sowie das konstruktive Eingehen auf Wünsche und Forderungen der DDR-Chemie. Möglichkeiten einer Zusammenarbeit/Kooperation sehe er auf den Gebieten Umweltschutz, Anlagenbau, Pharmazie. Erforderlich sei jedoch zukünftig die Verstärkung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, da ohne engere Kooperationsbeziehungen perspektivisch keine weiteren Umsatzsteigerungen erzielt werden könnten.
Die Abstimmungen Thomsens vor dem Standbesuch mit Verantwortlichen der DDR-Chemie während des Besuches der Partei- und Regierungsdelegation und in der anschließenden Pressekonferenz werden von Gesprächsteilnehmern als sehr emotional, engagiert, konstruktiv und optimistisch bewertet.
Versuche von Vertretern westlicher Massenmedien, die DDR-Rundgangsdelegation auf dem Hoechst-Stand in demonstrativer Weise mit politischen Äußerungen zu provozieren, wiesen die leitenden Mitarbeiter der Hoechst AG entschieden zurück.
U. a. machte in diesem Zusammenhang das Vorstandsmitglied Thomsen deutlich: »Vertreter der Wirtschaft lassen sich nicht irritieren und werden den Weg der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und guten Beziehungen konsequent weiter beschreiten.«
Die Bemerkungen des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Bertele,13 zu den »Botschaftsbesetzern und Flüchtlingen« wurden allgemein als deplatziert und störend bezeichnet.14
In internen Gesprächen auf dem Messestand der Hoechst AG wurden die klaren Positionen, die Thomsen im Gespräch mit den DDR-Repräsentanten zu den politischen Spannungen zwischen der BRD und der DDR bezog, gewürdigt.
Seitens der Konzern-Leitung gebe es den eindeutigen Standpunkt, diese Spannungen nicht negativ auf die Wirtschaftsbeziehungen auswirken zu lassen. Die Hoechst AG betrachte es als Aufgabe der Wirtschaft, stabilisierend auf das Verhältnis BRD – DDR zu wirken.
Nach Meinung von Vertretern des Messestandes der Friedrich Krupp GmbH müsse der Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation zwischen der BRD und der DDR weitergeführt und dürfe durch politische Spannungen nicht getrübt werden.
Unter Bezugnahme auf die seit Jahren erfolgreiche Zusammenarbeit mit DDR-Unternehmen sehe auch der Vorstandsvorsitzende der Krupp Lonrho GmbH weitere günstige Möglichkeiten zur Ausweitung der Geschäftstätigkeit, insbesondere der Kooperationsbeziehungen.
Messevertreter der Mannesmann AG plädierten ebenfalls für konstruktive Wirtschaftsverhandlungen mit der DDR und lehnten die durch Politiker und Medien der BRD verursachten »Massenflucht-Hysterien« ab.
Vertreter der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung Saar begrüßten den konstruktiven Verlauf der Begegnung der DDR-Repräsentanten mit Vertretern der Hoechst AG. Die weitere Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen der DDR mit der BRD, insbesondere auch mit dem Saarland, dürfe von »hochgespielten politischen Problemen« nicht negativ beeinflusst werden.
Der Vertreter des USA-Unternehmens Du Pont hob den positiven Eindruck bei den Mitarbeitern seines Unternehmens hervor, den der Besuch hinterlassen habe, und drückte gleichzeitig die Erwartung an eine Fortsetzung des Handels mit der DDR aus, insbesondere auf der Basis von »Joint Ventures«.
In internen Äußerungen anwesender Mitarbeiter des Fiat-Konzerns kam Unzufriedenheit mit »einer nicht befriedigenden Geschäftslage mit der DDR« zum Ausdruck. Trotz nur geringer Geschäftserwartungen seien aus der Sicht dieses Konzerns einige Probleme schwer verständlich. So werde die DDR-Industrie zunehmend von BRD-Unternehmen »umarmt« und was nicht mit der BRD gemacht werde, gehe dann in einer für Fiat unverständlichen »französischen Hochzeit« unter. Diese Entwicklung sei insofern bedauerlich, da die politischen Beziehungen zwischen der DDR und Italien nicht durch gravierende Probleme belastet sind.
Französische Messevertreter äußerten ihre Befriedigung über die Wertschätzung, die beim Messerundgang der positiven Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Frankreich und der DDR beigemessen wurde. Die Tatsache, dass Frankreich mit erweiterter Ausstellungsfläche zur Herbstmesse präsent ist, verdeutliche das gewachsene Interesse Frankreichs am Ausbau der kommerziellen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit der DDR.
Einige Firmenvertreter äußerten, aufgrund des guten bis sehr guten Standes der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen DDR-Frankreich trage die Messe für sie in diesem Jahr mehr routinemäßigen Charakter. Bei Verständnis für das Fehlen des Staatsratsvorsitzenden wegen seiner Erkrankung wurde zum Teil Erstaunen über die relativ kleine Gruppe von Vertretern der Partei- und Staatsführung beim Eröffnungsrundgang geäußert. Einige Vertreter sahen darin eine wertmäßige Herabsetzung der Messe, zumal viele Projekte bereits vorher vereinbart und in Leipzig nur formal unterzeichnet werden.
Zu den Ergebnissen des Messerundganges und zu den Gesprächen des belgischen Vizepremierministers Willy Claes15 mit führenden DDR-Repräsentanten G. Mittag,16 G. Beil17 und G. Wyschofsky18 erklärte der Stellvertreter des Kabinettsvorsitzenden von W. Claes, Lode Willems:19 »Diese Gespräche mit führenden DDR-Repräsentanten bestätigten die Richtigkeit des belgischen Kurses, über den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen eine stabile Basis für gute Gesamtbeziehungen zu schaffen. Wir wollen ein gutes politisches Klima mit der DDR und eine enge Zusammenarbeit. Dabei lassen wir uns auch nicht durch aggressive und scharfmacherische Forderungen aus dem anderen Deutschland abbringen.«
Nach Einschätzung belgischer Wirtschaftsexperten sei die Regierung Martens20 daran interessiert, mit der DDR problemfreie und substantiell ausgewogene Beziehungen auf allen Gebieten zu entwickeln. Die Zielstellung des Besuches von Vizepremierminister Claes habe u. a. darin bestanden, Konzeptionen zur Weiterentwicklung der Entspannung und des politischen Dialogs sowie der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu sondieren.
Bei Vizepremierminister Claes hätten die geführten Gespräche zu seiner Bereitschaft geführt, sich persönlich für eine schnelle Bearbeitung des Mandatsantrages für die Verhandlung des Handelsabkommens EWG – DDR einzusetzen.21 Es gebe keinen Grund, die DDR gegenüber anderen sozialistischen Ländern zurückzustellen.
Der Botschafter des Königreiches der Niederlande, Jacobs,22 schätzte die Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen als gegenseitig vorteilhaft und perspektivisch ausbaufähig ein, insbesondere hinsichtlich der Erhöhung der niederländischen Exporte in die DDR. Für die niederländische Wirtschaft wachse die Bedeutung der osteuropäischen Märkte, darunter der DDR-Markt.
Der Präsident der Niederländischen Handelskammer für die DDR, de Blieck,23 hob die positiven Hinweise des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, W. Stoph,24 hervor, dass die DDR die Handelsnation Niederlande zu schätzen wisse. Man habe auch den Einwurf von Außenhandelsminister Beil richtig verstanden und stimme mit ihm darin überein, dass beide Seiten mehr exportieren wollen und auch neue Kooperationsfelder erschließen sollten. Es zeige sich, dass sich die niederländischen Firmen gut auf die Bedürfnisse der DDR einstellten und offenbar die DDR ihre starke Abhängigkeit vom Handel mit der BRD verringern wolle.
Der Präsident des Unternehmerverbandes Confederation of British Industry (CBI), Holdsworth,25 brachte seine Genugtuung über die Würdigung der beim Ausbau der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen erreichten Fortschritte durch den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, am britischen Informationsstand zum Ausdruck.
In Übereinstimmung mit der britischen Regierung sei der Unternehmerverband darum bemüht, die Geschäftsbeziehungen mit der DDR-Industrie weiter auszubauen und dem Niveau des wirtschaftlichen Entwicklungsstandes beider Länder noch besser anzupassen.
Durch CBI werde die Intensivierung der Direktbeziehungen zur DDR, insbesondere zur Kammer für Außenhandel – ähnlich dem Beispiel der Beziehungen mit der ungarischen Handelskammer – und zu den Kombinaten angestrebt.
Die Besuche von Holdsworth und dem Parlamentssekretär des Landwirtschaftsministeriums, Baroness Trumpington,26 verfolgten das Ziel, vorrangig die Kontakte fortzusetzen und auszubauen sowie Interessengebiete für die langfristige Zusammenarbeit, u. a. Fragen der Investitionspolitik, des Umweltschutzes und der Managerausbildung, anzusprechen, um aus den Reaktionen der DDR entsprechende Geschäftsmöglichkeiten abzuleiten.
Vertreter des britischen Handels- und Industrieministeriums bekundeten darüber hinaus die Absicht, auch künftig Regierungsdelegationen zu den Leipziger Messen zu entsenden.
Ihr Bedauern sprachen Vertreter Griechenlands darüber aus, dass ihr Land beim Messerundgang nicht berücksichtigt wurde. Dessen ungeachtet sähen sie angesichts der Verbesserung der bilateralen politischen Beziehungen im Ergebnis der Besuche auf hoher Ebene reale Möglichkeiten für den Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen mit der DDR. Diese Erwartungen seien außerdem begründet durch die gegenseitige Ergänzung der Wirtschaften beider Länder mit Vorteilen Griechenlands bei der Produktion von Nahrungsmitteln, Getränken und anderen Erzeugnissen der Leichtindustrie bzw. der DDR auf Gebieten der Hochtechnologie und des Maschinenbaus.
Die Taktik Griechenlands ziele auf die Erhöhung des Exportes in die DDR. Hierfür seien u. a. eine Verstärkung des Drucks zur Wahrung des Gleichgewichtes im bilateralen Handelsumsatz, die ständige Beobachtung der Erfüllung der Verpflichtungen der DDR hinsichtlich der Lieferungen für Ausrüstungen der Staatlichen Elektrizitätsorganisation (DEI) und der Organisation für Telekommunikation Griechenlands (OTE), die stärkere Unterstützung der griechischen Exporteure, erforderlich.
Jugoslawische Messevertreter brachten ihre Genugtuung darüber zum Ausdruck, dass von der DDR das große Interesse an einer guten Entwicklung der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen unterstrichen wurde.
An die Leipziger Herbstmesse 1989 gehe man jugoslawischerseits insgesamt optimistisch heran, jedoch in dem Bewusstsein, dass sich aufgrund der derzeit krisenbedingt begrenzten Aufnahmefähigkeit des SFRJ-Marktes nur bescheidene Möglichkeiten für neue Geschäfte mit der DDR eröffnen dürften. Das Hauptinteresse der SFRJ sei darauf gerichtet, auf einen Ausbau der Zusammenarbeit, insbesondere mit der Chemieindustrie der DDR, hinzuwirken. Reserven gebe es auch auf dem Gebiet der Drittlandgeschäfte, bei Vereinbarungen über Bauleistungen sowie in der elektronischen Industrie.
Einflussreiche Vertreter jugoslawischer Wirtschaftsinstitutionen sowie leitende Mitarbeiter von Außenhandelsunternehmen des Landes vertreten die Auffassung, dass der Außenhandel mit der DDR für die SFRJ auch weiterhin eine wichtige und verlässliche Größe darstelle.