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Tagesbericht

4. November 1953
Informationsdienst Nr. 2011 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

In den Betrieben hält die Verpflichtungsbewegung, die nach der Preissenkung1 einsetzte, weiter an. Der weitaus größte Teil der Arbeiter erkennt die Bedeutung und die Auswirkungen der Preissenkung. Ein großer Teil bemüht sich, durch erhöhte Leistungen die Voraussetzungen für neue Preissenkungen und die Abschaffung des Kartensystems2 zu schaffen.

Allerdings muss festgestellt werden, dass neben den Verpflichtungen über vorfristige Planerfüllung und Planübererfüllung, neben Spenden und freiwilligen unbezahlten Sonderschichten die Bewegung zur freiwilligen Normenerhöhung sehr gering erscheint. Vereinzelt haben Arbeiter sogar eine gewisse Furcht, dass die Normen wieder administrativ erhöht werden könnten. So ist z. B. bei den Arbeitern der Werften und anderer Betriebe im Bezirk Rostock eine gewisse Unruhe eingetreten, weil unmittelbar nach der Preissenkung eine Propagandakampagne über die Notwendigkeit der Normenerhöhungen durchgeführt wurde. In der Derutra Rostock wurde das so ungeschickt gemacht, indem den Arbeitern einfach eine Erklärung über freiwillige Normenerhöhungen vorgelegt wurde, die sie unterschreiben sollten. Vorher wurde mit den Arbeitern darüber nicht diskutiert.

Über die Vernichtung feindlicher Spionagegruppen3 wurden wieder vereinzelt Stimmen laut – etwas mehr als gestern. Ein Wismut-Kumpel: »Man muss die Augen offenhalten und alles, was gegen uns Arbeiter und unseren Arbeiterstaat geht, rücksichtslos anzeigen. Dabei darf es kein Abwarten und kein Erbarmen geben.«

Eine Arbeiterin aus Zittau: »Ich bin überzeugt, dass das nicht die Einzigen sind, die uns schädigen wollen. Aber man klärt uns Arbeiter zu wenig über solche Sachen auf. Wir denken immer, bei uns ist alles ruhig.«

Ein Arbeiter aus Güstrow/Schwerin: »Ich habe unseren Betrieb mit aufgebaut. Jetzt arbeitet es sich gut. Wir werden schon aufpassen, dass unser Betrieb nicht das Opfer solcher Elemente wird. Ich begrüße, dass wieder einige Agenten durch die Staatssicherheitsorgane gestellt wurden.«

Im Bezirk Potsdam wurden in zahlreichen Betrieben Versammlungen durchgeführt, in denen die Mitteilung des Ministeriums des Innern4 behandelt wurde. Im Kreis Luckenwalde, wo in fast allen Betrieben solche Versammlungen stattfanden, diskutierten die Arbeiter positiv und verurteilten die Handlungsweise der Agenten und Spione.

Im Bezirk Dresden werden vereinzelt Stimmen laut, die die Initiative der SU zur Entspannung der internationalen Lage, in diesem Zusammenhang auch den neuen Kurs unserer Partei, auf den Tod des Genossen Stalin und die Regierungstätigkeit des Genossen Malenkow zurückführen. So sagt z. B. ein parteiloser Arbeiter aus Pirna/Dresden: »Die Stimmung unter den Arbeitern hat sich gewaltig gebessert, wenn man zurückdenkt, wie es noch vor einem Jahr aussah. Die Politik der SU hat sich unter Führung von Malenkow geändert. Die Politik ist nicht so straff wie unter Führung Stalins.«

Zur Entlassung von Paulus aus sowjetischem Gewahrsam und seiner Niederlassung in der DDR5 treten wieder, wenn auch noch vereinzelt, ablehnende Stimmen auf. Einige Kollegen in den Bleierzgruben Freiberg/Karl-Marx-Stadt meinten, unsere Presse habe Paulus verherrlicht und nach einiger Zeit würde er in führender Stellung bei der KVP wieder auftauchen. Paulus gehöre vor ein deutsches Gericht zur Aburteilung. Zwei Arbeiter aus dem Kraftwerk des Eisenhüttenkombinates »J. W. Stalin« meinten, Paulus nehme erst Fühlung in der DDR und setze sich dann bestimmt nach dem Westen ab.

Sehr ernst ist es um die Transportraumfrage bei der Reichsbahn bestellt. Zahlreiche und vielfältig sind die Beispiele, wo in Betrieben Material fehlt oder Fertigprodukte lagern, weil keine Waggons vorhanden sind. In der Zuckerfabrik Nauen/Potsdam entsteht ein täglicher Produktionsausfall von 80 t Zucker, weil die Reichsbahn nur die Hälfte der zugesagten Waggons zum Abtransport von Zuckerrüben zur Verfügung gestellt hat.

Der VEB Emaillewerk Schwarzenberg/Karl-Marx-Stadt muss heute, am 4.11.1953, seine Produktion stilllegen, weil der Kohlenvorrat verbraucht ist und neue Kohle wegen Waggonmangel nicht geliefert wird. Ähnliche Beispiele werden täglich berichtet.

Zum Teil liegen die Ursachen an der Disziplinlosigkeit von Betrieben beim Entladen der Waggons, aber auch an bürokratischer Handlungsweise bei der Reichsbahn selbst. Auf dem Bahnhof Berlin-Schöneweide werden von einzelnen Betrieben fortwährend die Be- und Entladefristen überschritten. Bezeichnend dafür ist die Stellungnahme des Lagermeisters der HO Baustoffe, der sagte, er wolle lieber 500 DM Standgeld bezahlen, als 2 000 DM Lohn für Entladearbeiten in der Nacht.

Die Waggonverteilungsstelle des RB-Amtes Bautzen kann die Betriebe nicht planmäßig mit Waggons beliefern, weil ein hoher Prozentsatz der vorhandenen Waggons als Leerwagen zum Kohlentransport an den Bezirk Cottbus abgegeben werden muss. Unverständlich ist die Anordnung, dass diese Waggons, die in das Kohlegebiet gefahren werden, nicht beladen werden dürfen.

Im Oktober wurden der RBD Berlin 738 Waggons, die zum Kartoffeltransport bestellt und geliefert worden waren, wieder zurückgegeben, weil gar keine Kartoffeln zum Transport vorhanden waren.

b) Handel und Versorgung

Durch gute Arbeit von Partei und Massenorganisationen konnte die Kartoffelversorgung im Kreis Ueckermünde bedeutend verbessert werden, so ist der jetzige Stand 97,3 %. Lediglich die Versorgung der Werksküchen mit Kartoffeln weist noch Mängel auf. Im Bezirk Suhl ist der Stand vom 1.11.1953 71,4 % und im Bezirk Magdeburg vom 30.10.1953 bei 69,5 %, dabei ist im letzteren Bezirk zu beachten, dass die weitere Versorgung auf große Schwierigkeiten stößt, da die Erfassung von Tag zu Tag zurückgeht. Ebenfalls bestehen in der Kartoffelversorgung im Bezirk Halle durch Transportraummangel Schwierigkeiten.

Im Kreis Stadtroda/Gera ist in HO- und Konsumgeschäften keine Margarine mehr vorhanden, als Grund wird Waggonmangel angegeben. Wann neue angeliefert wird, ist nicht bekannt.

In Berlin sind von 12 Mio. eingekalkten Eiern durch Verschulden der DHZ 3 500 000 Eier verdorben. Im Groß-Berliner Vieh- und Schlachthof lagern seit Wochen 135 t Schweine (notgeschlachtet durch Schweinepest). Diese Menge ist jetzt auf 159 t angewachsen. Laut tierärztlicher Anordnung dürfen diese nicht mit anderen zusammengebracht werden und blockieren damit einen Lagerraum von 600 t.

c) Landwirtschaft

Diskussionen über die Preissenkung gehen langsam zurück. Die Mehrheit der Landbevölkerung begrüßt die Preissenkung, neue Argumente traten nicht auf. Negative Stimmen besagen in der Hauptsache, dass diese Preissenkung keine großen Verbesserungen der Lebenslage bringe.

Zur Entlarvung der Agentengruppen wird auf dem Lande zzt. noch wenig, größtenteils von Parteigenossen in MTS, LPG und VEG Stellung genommen. Die Äußerungen sind in der Mehrzahl positiv. Sie fordern strenge Bestrafung der Agenten und verpflichten sich zum Teil, die Wachsamkeit zu erhöhen. Maschinenschlosser der MTS Gnoien/Neubrandenburg: »Mit der Festnahme dieser Agenten durch die staatlichen Organe unter Mithilfe der werktätigen Bevölkerung6 wurde bewiesen, dass es den Feinden unserer Republik nie mehr gelingen wird, ein zweites Mal einen 17. Juni zu provozieren, wir Arbeiter stehen auf Wacht und müssen unsere Wachsamkeit weiter erhöhen.«

In der Erfassung bzw. Ablieferung von Getreide und Kartoffeln treten in den Bezirken Neubrandenburg, Potsdam, Magdeburg und Gera immer wieder Schwierigkeiten auf, was zum Teil mit einer schlechten Ernte, fehlender Futtergrundlage begründet wird. Verschiedene Großbauern verweigern offen ihre Sollerfüllung.

Bei der Gemeinde Reudnitz/Gera beträgt das Liefersoll an Kartoffeln 1 000 dz, 50–100 dz können nur geliefert werden. Im Frühjahr 1953 musste eine angebaute Kartoffelsorte ausgelegt werden, weil kein Austausch der Sorten durchgeführt wurde. Dadurch ergab es eine schlechte Ernte. In Garz/Potsdam haben die staatlichen Betriebe noch keine Kartoffeln abgeliefert. Der Leiter erklärte, dass man auch in Zukunft den Verpflichtungen nicht nachkommen könne, da die geernteten Kartoffeln nicht mal zum Füttern ausreichen. Im Bezirk Neubrandenburg ist der Ablieferungsstand am 30.10.1953 bei Getreide 89,7 %, bei Kartoffeln 70,6 %. Ein Großbauer aus Möllenbeck7/Magdeburg lieferte bisher 30 % Kartoffeln ab und weigerte sich, das übrige des Solls abzuliefern. Im Bezirk Halle steht die Kartoffelrodung kurz vor dem Abschluss. Der Bezirk Cottbus unternimmt alle Anstrengungen, um das gesteckte Ziel beim Ziehen der Winterfurche am 20.11.1953 zu erreichen. Der beste Kreis ist Jessen mit 48,6 %, der schlechteste Liebenwerda mit 14,6 %.

Auflösungserscheinungen zeigen sich in den LPG, wo in der Leitung eine schlechte Arbeit geleistet wird bzw. diese unfähig ist. Demgegenüber stehen die LPG gut, wo eine gute Arbeitsdisziplin herrscht. So erhielt in der LPG Grobleben/Magdeburg bei der Gewinnverteilung jedes Mitglied 800 bis 1 000 ausgezahlt, 60 Ztr. Kartoffeln, je Familie drei Schweine und sechs Familien eine Kuh. Weiterhin sind noch 53 Schweine vorhanden, die im November auf freie Spitzen verkauft werden und einen Gewinn von 76 000 DM bringen.

In der LPG Rodenberg8/Rostock besteht Unzufriedenheit, da durch gleichgültige Arbeit des Vorsitzenden erhebliche Ernteverluste eintraten. Der Produktionsplan wurde nicht erfüllt und die Arbeitseinheiten wurden von 6,50 auf 4,50 DM herabgesetzt. Es fehlt die Futtergrundlage für das Vieh.

In einigen Kreisen des Bezirkes Frankfurt (Strausberg, Fürstenwalde, Eberswalde) tritt die Schweinepest verstärkt auf.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Diskussionen über die Preissenkung haben in ihrem Umfang etwas abgenommen, die positiven Stimmen sind vorherrschend. Es treten die gleichen Argumente auf wie bisher.

Die aus Anlass der Eröffnung des Monats der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft durchgeführten Feierstunden waren im Allgemeinen gut besucht und die Anwesenden brachten ihre Verbundenheit zur SU zum Ausdruck. Nur vereinzelt wurden diese Feiern schlecht besucht, vor allem dort, wo Zwischenfälle durch Angehörige der Sowjetarmee stattgefunden haben. Die Feier zum Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft am 31.10.1953 in Neugersdorf/Dresden war gut besucht (700 Personen). Die Veranstaltung nahm einen guten Verlauf. Zu den Veranstaltungen zum Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft zeigt sich in Finow/Frankfurt aufgrund von Zwischenfällen mit Angehörigen der Sowjetarmee eine ablehnende Haltung.

Unter der übrigen Bevölkerung wird erst vereinzelt zu den Entlarvungen der feindlichen Agentengruppen Stellung genommen. Im Allgemeinen sind die Stellungnahmen positiv. Die Argumente sind die gleichen wie in der Industrie und Landwirtschaft. Einzelne negative Äußerungen besagen, dass dies ein Zeichen der Schwäche und Angst der DDR sei. Eine Hausfrau aus Zwickau: »Die Verhaftungen sind ja nur ein Zeichen, dass die Regierung in der Ostzone sich vor einem neuen 17.6. fürchtet. Die Ostzone liegt in den letzten Zügen und man kann in diesen Aktionen ihre Schwäche erkennen.«

Über Stromabschaltungen wird in der gesamten Bevölkerung, besonders auf dem Lande, weiterhin negativ diskutiert.

In Suhl wird das Gerücht verbreitet, dass nach der Festsetzung des Goldgehaltes der DM bald eine Währungsreform durchgeführt wird und deshalb müsse man sich genügend mit Waren eindecken.

Ereignisse von besonderer Bedeutung

Für den demokratischen Sektor von Berlin waren 58 entlassene wegen Kriegsverbrechen verurteilte Kriegsgefangene gemeldet.9 Davon haben sich sechs sofort nach dem Westen abgesetzt. 23 haben sich im demokratischen Sektor nicht angemeldet und sind vermutlich ebenfalls nach Westberlin gegangen. Nur 29 haben ihren Wohnsitz im demokratischen Sektor genommen.

Organisierte Feindtätigkeit

Flugblätter und Postwurfsendungen in geringerem Maße in den Bezirken Rostock, Neubrandenburg, Frankfurt, Cottbus, Halle, Gera, Dresden und in Berlin.

In Bernau/Frankfurt wurde ein Posten der Sowjetarmee von einer unbekannten Person durch einen Beinschuss verletzt.

Im Kreis Zittau/Dresden versucht der Feind verstärkt, durch Brandstiftungen unsere Wirtschaft zu schädigen. Innerhalb eines Monats brannte es dreimal durch vermutlich vorsätzliche Brandstiftung. Beim letzten Brand wurde das Gehöft eines Meisterbauern völlig vernichtet. Schaden: 80 000 DM.

Einschätzung der Situation

Die Wettbewerbe und Produktionsverpflichtungen werden in den Betrieben weiterhin zahlreich. Diese gute Entwicklung wird dabei noch oft gehemmt durch Mangel an Rohstoffen, Ersatzteilen, Halbfertigware und Transportraum. Bei dem größten Teil der Arbeiter bestehen noch die meisten Unklarheiten über die technisch begründeten Arbeitsnormen, weshalb auch die freiwilligen Normenerhöhungen noch nicht in dem Maße durchgeführt werden, wie das möglich wäre. Die gute Beteiligung an den Veranstaltungen zum Monat der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und auch schon die ersten positiven Diskussionen über die Liquidierung der Feindgruppen zeigen eine fortschrittliche Entwicklung der Bevölkerung. Trotz der Fehler und Mängel in Handel und Versorgung, besonders bei der Kartoffelbelieferung, trotz der Unzufriedenheit über die Stromabschaltungen und der Versuche des Gegners, das Vertrauen der Bevölkerung zur Regierung zu untergraben, hat die negative Stimmung einen verhältnismäßig geringen Umfang.

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