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Tagesbericht

19. Oktober 1953
Informationsdienst Nr. 1097 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

a) Industrie und Verkehr

Im Vordergrund der Diskussionen in den Betrieben steht die von der Regierung beschlossene Steuersenkung.1 Diese Maßnahme findet außer wenigen Ausnahmen vollste Zustimmung. So sagte ein parteiloser Kollege des Eisenwerkes Waren/Neubrandenburg: »Ich habe einen Bruttolohn von 250 DM und musste bei Steuerklasse III nur einige DM abführen, jetzt werden mir jedoch auch diese vergünstigt. Bei mir persönlich macht es wohl nicht viel aus, aber für die Masse.« Ein Kollege, tätig in einer Lok-Kolonne der RBD Cottbus, sagt: »Ich begrüße den Beschluss des Ministerrates über die neue Lohnsteuerregelung. Das ist ein weiterer Schritt zur Entwicklung unserer Friedenswirtschaft. Dieser Beschluss soll Verpflichtung zu noch besseren Leistungen sein.«

Solche und ähnliche Diskussionen werden in allen Betrieben geführt. Es gibt aber auch einzelne negative Diskussionen, wie die eines Arbeiters aus Hartha/Leipzig, der vier Kinder und ein Monatseinkommen von 420 DM hat: »Ich habe bisher nur 4,65 DM Lohnsteuer bezahlt, deshalb nutzt mir die Senkung überhaupt nichts. Die Regierung muss sich auch einmal um die kinderreichen Familien kümmern.« Ein Arbeiter aus dem VEB LOWA Waggonbau Niesky sagte: »Die Steuerermäßigung hätte nur bis 500 DM gehen sollen und nicht bis 900 DM,2 denn der übergroße Teil der Werktätigen der Republik hat ein durchschnittliches Einkommen von 400 bis 500 DM

Große Schwierigkeiten bestehen in der Wagengestellung, besonders für den Transport von Kohle, Baumaterialien, Kartoffeln, Getreide und Zuckerrüben. Im Bezirk Cottbus ist die Erfüllung des Beladeplanes weiter zurückgegangen, sodass die Beladeschuld 4 902 Waggons beträgt. Um diesen Zustand zu beseitigen, wurden Verbindungen mit anderen Reichsbahndirektionen in der DDR aufgenommen. Trotzdem konnte dieser Zustand bis jetzt nicht beseitigt werden.

Ähnlich ist es im Bezirk Karl-Marx-Stadt, wo bis zum Ende des Jahres noch ca. 1 000 t Sand für das Wohnungsbauprogramm benötigt werden. Vom Ministerium für Eisenbahnwesen wurde jedoch drauf hingewiesen, dass aufgrund von Transportraummangel der Sand nicht befördert werden kann. Baustofftransporte sollen in ihrer Dringlichkeit erst an 9. Stelle stehen.

Im VEB Westglas, Großbreitenbach, Kreis Ilmenau, wurden vor ca. 14 Tagen aufgrund fehlender Einweckgläser die Arbeiter dieses Betriebes überzeugt, auch nachts zu arbeiten. Der Betrieb stellt täglich 30 t Glaswaren her und sämtliche Lager sind bereits gefüllt, da keine Waggons zum Abtransport zur Verfügung stehen. Wenn bis zum 19.10.1953 keine Waggons gestellt werden, besteht die Gefahr, dass der Betrieb stillgelegt werden muss. Die Diskussionen der Arbeiter in diesem Betrieb sind darüber sehr schlecht.

Im VEB Horch Zwickau sind für den Motor EM 6 keine Kurbelwellen mehr vorhanden und eine Lieferung derselben von der Großschmiede Wildau steht nicht in Aussicht. Dadurch kann der Plan für diese Motoren nicht erfüllt werden. Das IFA-Werk »Ernst Grube« in Werdau ist jedoch von der Lieferung dieser Motoren abhängig.

Schwierigkeiten bestehen besonders bei der Reparatur von vorhandenen Energieanlagen, wie von [der] Lastverteilung Mecklenburg mitgeteilt wird. Die Aufarbeitung der Anker, Umformer usw. durch den Betrieb Bergmann-Borsig in Berlin erfolgt sehr schleppend. Außerdem geben aufgearbeitete Ersatzteile vielfach Anlass zur Reklamation.

Im VEB Stärkefabrik Kyritz sind in größerem Ausmaß Störungen an den Maschinen vorhanden. Die Ursache dazu ist, dass für notwendige Reparaturen an den Maschinen keine entsprechende Zeit zur Verfügung stand. Die Planerfüllung dieses Betriebes ist nicht gewährleistet.

Anlässlich eines Referates des Ministers Ziller3 am 12.10.1953 im Ernst-Thälmann-Werk Magdeburg4 diskutieren die Kollegen darüber, dass hier nichts Neues gesagt wurde, dass der Betrieb volkseigen wird wussten sie bereits. Skeptisch wurde von den Arbeitern aufgenommen, dass man künftig in diesem Betrieb Massenbedarfsgüter herstellen will. Die Kollegen rechnen durch die Umstellung der Produktion mit Entlassungen.

In den Leipziger-Metallgusswerken besteht eine schlechte Stimmung über die Auszeichnung am »Tag der Aktivisten«.5 Von 31 ausgezeichneten Kollegen sind nur sieben Arbeiter. Daraufhin wurde eine notwendige Mehrschicht im Betrieb mit der Begründung abgelehnt, dass sollen mal die Angestellten machen. In den Leipziger Verkehrsbetrieben wurde am 13. Oktober nur technisches Personal ausgezeichnet, obwohl die meisten Betriebsangehörigen im Fahrdienst beschäftigt sind. Von 3 500 beschäftigten Frauen war bei 40 ausgezeichneten Aktivisten eine Frau dabei.

b) Handel und Versorgung

Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung mit Einkellerungskartoffeln zeigen sich in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Halle, Suhl, Potsdam und Schwerin. Im Allgemeinen ist dies auf das Fehlen von Waggons zurückzuführen. So erhielt Brandenburg statt der täglich benötigen 20 Waggons nur sechs bis acht. Die VEAB Putlitz/Potsdam hatte 14 Waggons angefordert zwecks Abtransport der Kartoffeln. Sie erhielten jedoch nur zwei Waggons. Es kommt vor, dass Bauern mit ihren Kartoffeln wieder vom Bahnhof abfahren müssen, da die Reichsbahn keine Waggons zur Verfügung gestellt hat.

Ernste Mängel in der Frischfleischversorgung werden aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Leipzig, Halle und Potsdam gemeldet. Im Kreis Reichenbach/Karl-Marx-Stadt ist noch für zehn Tage Frischfleisch auf Marken vorhanden. Im Kreis Reichenbach und Aue musste bereits der HO-Fleischverkauf eingestellt werden. Im Bezirk Frankfurt/Oder fehlt es verschiedentlich an Arbeitskleidung, was zu negativen Diskussionen unter den Arbeitern führte (Britzer Eisenwerke, Kreis Eberswalde).

Aufgrund der Einstellung der Aufträge an staatlichen Bauten soll bei den Arbeitern der Bau-Union Küste Stralsund/Rostock eine Lebensmittelkartenrückstufung erfolgen. Die Arbeiter, die im Lager wohnen, äußerten dazu, dass, wenn diese Rückstufung erfolgt, man mit einem zweiten 17.6. rechnen kann.

c) Landwirtschaft

Eine Zurückhaltung in politischen Fragen ist weiterhin unter der Landbevölkerung zu verzeichnen.

Unstimmigkeiten unter der Belegschaft der MTS Blankensee/Potsdam wurden durch Vorschläge eines Aktivisten als »Held der Arbeit« hervorgerufen. Die Kollegen erklärten: »Wenn wir auch soviel Unterstützung bekämen wie er, dann hätten wir die gleichen Leistungen vollbracht.« Der BGL-Vorsitzende drohte denjenigen, die sich zu diesem Vorschlag ablehnend verhalten, dass sie sofort entlassen würden. Daraufhin waren sie eingeschüchtert und stimmten alle für diesen Vorschlag.

Reaktionäre Elemente versuchen immer wieder durch Hetze Unstimmigkeiten unter den LPG-Bauern hervorzurufen. So erklärte ein Müllergeselle aus Reinsdorf6/Leipzig: »Jetzt kommt wieder so ein Faulenzer (Vorsitzender einer LPG) für den ihr arbeiten müsst, warum lasst ihr euch das nur gefallen.«

Im Bezirk Neubrandenburg ist die Ersatzteilbeschaffung für die MTS etwas besser geworden, jedoch wird nicht verstanden, dass im staatlichen Kreiskontor 300 Ketten für [die] Raupe »Rübezahl« geliefert wurden, obwohl schon seit Monaten 200 dieser Ketten dort lagern. Der bisherige Jahresverschleiß betrug ca. zwölf Ketten. Im Bezirk Rostock beklagt man sich, dass die landwirtschaftlichen Geräte, besonders Kartoffelroder, eine so schlechte Qualität aufweisen.

Der Bezirk Cottbus hat bis auf einen Kreis die Kartoffelrodung abgeschlossen. Trotzdem wurde aber nicht einmal die Hälfte des Solls abgeliefert. Verschiedentlich vertreten Bauern die Meinung, dass aufgrund des neuen Kurses sie über die Ablieferung »selbst« bestimmen können. So erklärte z. B. ein Bauer aus Weißagk7/Cottbus: »Ich bestimme selbst wann und wie viel ich abliefere.«

Im Bezirk Potsdam herrscht in einigen Gemeinden bei der Kartoffelernte Arbeitskräftemangel. Unzufriedenheit betreffs Stromabschaltungen besteht in dem Bezirk Gera und wegen Fehlens von Düngemitteln im Bezirk Dresden.

Im Bezirk Schwerin sind in einigen LPG Auflösungserscheinungen festzustellen. Grund: schlechte Arbeitsorganisation. So ist die LPG Vielank nicht in der Lage ihr Land zu bewirtschaften. Die LPG Karstädt hat 33 000 DM Unterbilanz, die Ursache ist, dass jeder für sich allein wirtschaftet.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Eine allgemeine Zurückhaltung bei politischen Diskussionen ist unter der Bevölkerung noch vorherrschend. Man begrüßt im Allgemeinen den Beschluss der Regierung über die Steuerermäßigung. Einige Stimmen äußern jedoch, dass man lieber eine Preissenkung durchführen sollte. Ein Angestellter des Krankenhauses Luckenwalde/Potsdam: »Wenn die Regierung den neuen Kurs weiter so realisiert, wird sie bald das volle Vertrauen der Bevölkerung wieder besitzen.« Ein Hausmeister aus Meißen/Dresden: »Bei meinem geringen Verdienst macht es zwar nicht viel aus, aber trotzdem freue ich mich. Noch mehr hätte ich mich jedoch über eine HO-Preissenkung gefreut.«

Negative Diskussionen über Stromabschaltungen wurden aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Halle und Rostock bekannt. Durch lange Abschaltungen im Kreis Annaberg/Karl-Marx-Stadt (täglich von 16.00 bis 20.00 Uhr) wollten in Jöhstadt breite Kreise der Bevölkerung eine Demonstration durchführen. Man einigte sich schließlich darüber, dass man vorerst eine Delegation zur Regierung nach Berlin schickt. Durch diese Stromabschaltungen konnten fast keine Versammlungen und Kulturveranstaltungen durchgeführt werden.

Besondere Vorkommnisse

Die 140. Wiederkehr der Völkerschlacht wurde in Leipzig festlich begangen. Besondere Vorkommnisse sind nicht aufgetreten, bis auf einige Mängel organisatorischer Art beim Freundschaftstreffen der FDJ auf dem Gelände der technischen Messe. Die Beteiligung bei der Großkundgebung vor dem Völkerschlachtdenkmal war gut. Nicht alle Arbeiter verstanden, warum wir jetzt die Wiederkehr der Völkerschlacht feiern.8

Vom 16.10. bis 18.10.1953 fand in Leipzig der 5. Parteitag der NDPD statt. Besondere Zwischenfälle traten nicht ein. Der Gesamteindruck war ein guter. Unter den Delegierten wurde geäußert, warum kein Vertreter der Regierung dem Parteitag beiwohnt. Honecker wäre sehr gut und schön, aber er sei nur Kandidat des Politbüros der SED und sowieso in Leipzig zum Freundschaftstreffen der FDJ.9

Organisierte Feindtätigkeit

Bei der Großfahndung in den Bezirken Cottbus, Potsdam, Frankfurt/Oder nach den fünf Staatsangehörigen der ČSR wurde am 10. Oktober ein Angehöriger der VP durch Pistolenschüsse tödlich verletzt, ein anderer wurde schwer verletzt und ein dritter leicht verletzt. Die Täter entkamen bis auf einen, welcher festgenommen wurde, in Richtung Berlin. Am 16.10.1953 wurden bei einem nochmaligen Durchkämmen des Gebietes im Kreis Luckau zwei weitere VP-Angehörige durch die Banditen erschossen. Im Verlauf der Großfahndung wurden zwei weitere VP-Angehörige von eigenen Kameraden tödlich getroffen. Die Banditen konnten wiederum bis auf einen, welcher verwundet war und am 17.10.1953 festgenommen wurde, entkommen.10

Im Bezirk Leipzig wurden Flugblätter mit einer Lizenznummer versehen, aber ohne Unterschrift verteilt. Der Inhalt der Flugblätter ist im fortschrittlichen Sinne gehalten. In diesen Flugblättern werden Gemeinden als vorbildlich bezeichnet, die in Wirklichkeit schlecht in der Ablieferung sind. Mit dieser Methode soll Unfrieden in den Landbezirken geschaffen werden.

Flugblatttätigkeit [hat sich] verstärkt, trat in den Bezirken Halle und Karl-Marx-Stadt auf. Drohbriefe wurden in den Bezirken Cottbus, Potsdam, Schwerin und Dresden verschickt.

Einschätzung der Situation

Die viel diskutierte Steuersenkung wird von der Mehrzahl der Werktätigen freudig begrüßt und trägt dazu bei, das Vertrauen zur Politik unserer Regierung zu festigen. Der Transportraummangel bei der Reichsbahn behindert weiterhin die Produktion der Industrie und die Versorgung der Bevölkerung. Die anhaltende Unzufriedenheit über die Stromabschaltungen versucht der Gegner auszunutzen, um die Bevölkerung gegen die Regierung zu beeinflussen. Bis jetzt sind nur wenige Veränderungen in der Zurückhaltung bei politischen Fragen, besonders auf dem Lande und unter den nicht in Produktionsbetrieben Beschäftigten, festzustellen.

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