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Tagesbericht

28. Juli 1953
Information Nr. 1026

Stimmung der Bevölkerung

Am 26.6.1953 sprach der Genosse Steudte1 im Betrieb Schünemann, Neubrandenburg, zur gesamten Belegschaft. In seinen Ausführungen ging er auf den neuen Kurs der Regierung ein und versprach der Belegschaft, dass in diesem Jahr noch ein Kindergarten, zwölf Wohnungen und eine Konsumverkaufsstelle gebaut werden sowie die 1 000 DM Verlust im Direktorenfonds,2 die sich aus dem Bau der Dusch- und Klosettanlagen ergaben, zu besorgen. Die Belegschaft wird, da sie bisher nichts von einer Realisierung gemerkt hat, unzufrieden und sagt, dass sich der Genosse Steudte ja nicht wieder im Werk sehen lassen soll, wenn er sein Versprechen nicht hält.

Am 17.7.1953 wurde in der Gemeinde Kotelow, Kreis Neubrandenburg, eine Generalversammlung der BHG durchgeführt betreffs der Zusammenlegung der BHG Lübbersdorf3 und Friedland. Nachdem die Generalversammlung einstimmig die Zusammenlegung beschlossen hatte, wurden die Vorstandsmitglieder für die BHG Friedland gewählt und einstimmig angenommen. Bei den Vorschlägen für die Revisionskommission wurde der Großbauer Fuhrmann aus Kotelow vorgeschlagen. Der Referent wandte sich dagegen und erklärte, dass nur werktätige Bauern in die Leitung der Organisation zu wählen sind. Daraufhin wurde er heftig zurückgewiesen und von einem Bauern aus Lippersdorf wurde geäußert, dass man die Neubrandenburger mit Stuhlbeinen aus dem Saal hauen müsste, denn diese drehen alle Beschlüsse der Regierung des Genossen Grotewohl um. Genosse Grotewohl soll nach Angaben des Bürgermeisters und Parteisekretärs gesagt haben, dass wir nur noch Bauern haben und keine Großbauern mehr.4 Die Versammlung wurde daraufhin abgebrochen mit dem Bemerken, dass es doch keinen Zweck hat, denn diejenigen, welche gewählt werden, werden von uns nicht anerkannt und man könne von keiner Demokratie mehr sprechen.

Auf einer Gewerkschaftsgruppenversammlung der Abteilung Kataster der Kreisverwaltung Klötze, Bezirk Magdeburg, welche am 17.7.1953 stattfand, äußerte der Abteilungsleiter der Abteilung Kataster, [Vorname Name 1] ehemaliges Mitglied der NSDAP), dass die Beschlüsse der Regierung vom 9. und 11.6.1953 nur für einen geringen Teil der Bevölkerung Erleichterungen ergeben und nicht den Forderungen der Bevölkerung vom 17.6.1953 voll entsprechen. Überall in der Verwaltung wurde gekürzt und es ist unverständlich, warum es in der KVP so hohe Gehälter gibt, welche bei Berücksichtigung der erhöhten Unterhaltskosten gerechtfertigt würden, wenn eine Selbstversorgung der KVP-Angehörigen erfolgte, die aber aufgrund der Belieferung mit Bekleidung und Verpflegung entfällt. Hier eine Einsparung vorzunehmen, würde die Stimmung der Bevölkerung erheblich verbessern.

Auf der Versammlung der Handwerksmeister in Arendsee, Bezirk Magdeburg, am 22.7.1953 wurde durch den Tischlermeister [Name 2] (aus der SED ausgeschlossen) in Anwesenheit von 85 Personen folgende Diskussion geführt: Er forderte, dass der Konsum, die HO und DHZ aufgelöst werden müssten. Diese Forderung wurde von allen Handwerksmeistern stürmisch begrüßt. Er forderte weiter, dass der FDGB ebenfalls aufgelöst werden müsse oder der FDGB müsste mehr mit den Handwerksmeistern verhandeln. Weiter äußerte er, dass die Handwerksmeister genauso viel Briketts erhalten sollen wie die VP. Die Russen brauchen nicht so viel Briketts, die sollen genauso Braunkohle verbrennen wie wir.

Auf einer Versammlung brachte der Vermessungstechniker [Vorname Name 3], wohnhaft: Eversdorf, Kreis Salzwedel, Bezirk Magdeburg, (ehemaliges Mitglied der NSDAP und Oberleutnant) Folgendes zum Ausdruck: »Wenn man betrachtet, warum ein großer Teil der Werktätigen in den Schwerpunktbetrieben demonstrierte zur Verbesserung ihrer Lebenslage, so war es der Grund, dass vor dem 17.6.1953 es der Regierung aufgrund der Schönfärberei in den Berichten durch die Parteien und Organisationen nicht möglich war, die Stimmung der Bevölkerung festzustellen. Einige Dienststellen haben die berechtigten Forderungen der Werktätigen nicht beachtet und dies bei den entsprechenden Ministerien nicht vorgebracht. Ebenfalls hat man bei der Wiedergabe von Tonbandaufnahmen, wie z. B. die Rede des Präsidenten, nicht alle technischen Fertigkeiten richtig angewandt, um nicht derartig verzerrte Reden in den Äther zu geben, die bei einem Teil der Bevölkerung Anlass zum Zweifeln gaben.«

In einer Versammlung der Lebensmitteleinzelhändler am 23.7.1953 im Bezirk Magdeburg, wo 35 Personen anwesend waren, äußerte der Kaufmann [Name 4] (ehemals NSDAP), wohnhaft in Genthin, man soll doch unter all die gemachten Fehler einen Strich ziehen und jetzt gemeinsam voranschreiten in ehrlicher Zusammenarbeit.

Anlässlich eines Rundganges des Ministers Wunderlich5 durch das LEW »Hans Beimler« in Hennigsdorf, am 21.7.1953, äußerten einige Arbeiter Folgendes: Kollege [Name 5, Vorname] stellte die Frage an den Minister, wie die Versorgung mit Lebensmitteln werden wird? Er sagte, dass die Preise für Butter und Margarine viel zu hoch sind und die Arbeitskleidung zu teuer und von schlechter Qualität. Wenn man sich in der HO ein Paar Schuhe für 90,00 DM kauft, kann man diese nach vier Wochen wieder wegwerfen.

Als der Genosse Minister dem Kollegen [Name 6] eine Zigarette (Salem) anbot, sagte dieser: »Sonst wird der Herr Minister wohl Ami-Zigaretten rauchen, aber hier in dieser Situation bei uns nur die sogenannten Arbeiter-Zigaretten.« Der Schweißer [Name 7, Vorname], der sich ebenfalls an der Diskussion beteiligte, stellte an den Minister Wunderlich die Frage: Wann sie denn nun verhaftet würden, weil sie ja ziemlich offen gesprochen hätten.

Im VEB Kühlautomat Berlin besteht seit einigen Tagen eine große Unzufriedenheit unter der Belegschaft, die ihre Ursache in dem Prämiensystem des Betriebes hat. Die Kollegen sind über die Höhe der Prämien und deren Differenzierung sehr ungehalten, da die Arbeiter sehr niedrige Prämien bekommen, während Meister und Intelligenz hohe erhalten. So wurden an der Wandzeitung des Betriebes folgende Artikel festgestellt:

  • 1.

    Warum sind die Produktionsarbeiter an der Planerfüllung unbeteiligt? Tragen die Überstunden und Sonntagsarbeiten der Produktionsarbeiter zur Prämienverteilung bei? Wir fordern Belegschaftsversammlung zur Klärung der Meinungsverschiedenheiten über die Prämienverteilung. Berlin-Johannisthal, den 24.7.1953, Mechanische Werkstatt, [Vorname Name 8].

  • 2.

    Wann findet die nächste Betriebsversammlung statt? Sollte die BGL ablehnen, wird Misstrauen ausgesprochen und Neuwahl verlangt!

  • 3.

    Ich schlage vor, für die nächste Betriebsversammlung einen Vertreter des Magistrats von Groß-Berlin und einen Vertreter der Regierung der DDR anzufordern, um eine Klärung der Meinungsverschiedenheiten der Kollegen unseres Betriebes über die Prämienverteilung zu schaffen. Gez. [Name 9].

  • 4.

    Stellungnahme zur Prämierung! Bei der nun aushängenden Prämienliste gestatte ich mir an die Kommission die Frage zu richten, von welchen Gesichtspunkten sie sich hat leiten lassen, um die sehr unterschiedlichen Prämierungen der einzelnen Kollegen vorzunehmen. Es soll zwar keine Gleichmacherei geben und demzufolge bin ich der Meinung, dass die Prämierungen auf vollkommen gesunder Basis fundieren müssen. Ich schlage daher vor, dass bei der nächsten Betriebsversammlung die Kommission Stellung zu den Prämierungen nimmt und gleichzeitig die Begründungen angibt, die nach ihrer Ansicht dazu führten, so unterschiedlich die Leistungen der Kollegen zu beurteilen. 23.7.1953, Abteilung Absatz, gez. [Name 10].

Auf einer Gewerkschaftsversammlung am 21.7.1953 im Kombinat Gölzau, Bezirk Halle, äußerte der Zimmerhäuer [Vorname Name 11]: »Als ich am 17.6.1953 aus der Grube kam, war der Tumult schon im Gange. Ich wusste, dass es um die Normen ging. Wir sind dann zusammen in die Waschküche gekommen und haben eine Streikleitung gebildet. Hier tragen aber auch die Funktionäre mit Schuld, denn sie mussten uns aufklären, dass es eine Streikleitung in diesem Sinne nicht geben kann. Wir haben als Streikleitung in diesem Sinne die Anweisung gegeben, dass die Notstandsarbeiten in der Grube weiter verrichtet werden müssen.«

Stimmung in Westberlin und Westberliner Flüchtlingslagern

Es wurde bekannt, dass die Bevölkerung des Westsektors mehr und mehr die Politik des Westmagistrats verurteilt. Ganz besonders nehmen die Westberliner Erwerbslosen Stellung gegen die Ausgabe von Lebensmittelpaketen an die Bewohner des demokratischen Sektors.6 So nahmen am 22.7.1953 vor dem Bezirksamt Kreuzberg die Westberliner, welche sich dort aufhielten, gegenüber der wartenden Menge aus dem demokratischen Sektor eine feindliche Haltung ein.

Desgleichen verschlechtert sich die Lebenslage »der Flüchtlinge aus dem Ostsektor« von Tag zu Tag mehr. So herrscht z. B. in dem Flüchtlingslager Rudow seit dem 27.7.1953 große Aufregung über die Maßnahmen des Westsenats. Während bisher die Flüchtlinge eine Unterstützung von durchschnittlich 36,00 Westmark erhielten und Bekleidung, Essen und Unterkunft frei hatten, geht man jetzt auf Anweisung des Westsenats dazu über, pro Tag 2,50 DM von der Unterstützung abzuziehen. Die Insassen sind aufs Äußerste erregt und hielten am Freitag (24.7.) im Lager eine Versammlung ab, wo sie gegen diese Maßnahmen schärfstens protestierten. Es wurde eine Leitung der Flüchtlinge gewählt, welche folgende Forderungen stellten: 1. Unterkunft und Verpflegung 1,50 [DM] West pro Tag, 2. Für Unterkunft und Selbstverpflegung 0,50 [DM] West pro Tag. Bei Nichtannahme des Vorschlages wollen sie in den Sitz- oder Hungerstreik unter Hinzuziehung der Presse treten. In diesen Forderungen fügte sie einen Passus ein, indem sie zum Ausdruck brachten, dass auch der Osten hier seine Spione habe.

Die erste Verhandlung mit der Lagerleitung am 25.7.1953 verlief ohne Ergebnis. In der anschließend stürmisch durchgeführten Sitzung der Flüchtlinge riefen diese: »Wir befinden uns im freien Westen, da können wir uns das leisten. Außerdem hat uns der RIAS hierher geholt und uns jede Hilfe versprochen.« Der größte Teil der Insassen lehnte am 27.7.1953 die Verpflegung ab. Die gewählte Kommission begab sich zum Westsenat, mit einem Ergebnis war sie noch nicht zurück.

Es herrscht das allgemeine Gespräch: »Sollte der Versuch gemacht werden, uns gewaltsam aus dem Lager zur Kuno-Fischer-Straße7 zu treiben, um uns dann nach dem Westen abzuschieben, packen wir unsere Koffer und setzen uns auf die Rinnsteine am Hermannplatz und machen die ganze Bevölkerung auf diese Schweinerei aufmerksam.«

Demgegenüber traten einige Tage vorher im gleichen Lager folgende Stimmen auf: Dass man eine Schlappe am 17.6. erlebt hat, aber dies das 2. Mal nicht wieder passieren kann, da man für die 2. Aktion bereits mit Waffen ausgerüstet ist. Allgemein wird gesprochen, dass eine große Sache Mitte August geplant ist, wo dann alles besser vorbereitet ist, um den Ostsektor zu überrennen.

Maßnahmen des Feindes

Am 27.7.1953, gegen 15.00 Uhr, wurden in der S-Bahn Nordring ca. 100 Hetzschriften nachfolgenden Inhaltes gefunden:

Extrablatt – Brüder und Schwestern in der Sowjetzone! (Hier folgt nun ein Aufruf in dem der 17.6.1953 als Arbeiteraufstand hervorgehoben wird und dass dieser Aufstand »dem Bolschewismus gezeigt hat, dass die Schlacht um Deutschland für ihn verloren sei«. Weiter wird davon gesprochen, dass in Westberlin und der Bundesrepublik die eigentliche Freiheit ist und dass dort kein Sowjetterror herrscht. Auch wird davon gesprochen, dass im Westen für die Flüchtlinge ein Existenzkampf entstehen wird, der manchem auch Enttäuschung bereitet. Dabei sollen diese Menschen eins bedenken: »Ihr kennt den Bolschewismus und wisst, was Freiheit bedeutet.« Weiterhin sollen alle die Personen genannt werden, welche den Flüchtlingen in der Sowjetzone die Unfreiheit brachten.)

»Wir wollen ein Deutschland in Einheit und Freiheit! Zu diesem Deutschland gehören unabdingbar die Länder der Sowjetzone und die geraubten Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie. Wir wollen keinen Krieg, aber für uns gibt es keinen echten Frieden ohne diese deutschen Gebiete und die Freiheit der dort wohnenden deutschen Menschen. Flüchtlinge und Mitbürger! Wir rufen euch auf, fordert volle Freiheit für ganz Deutschland ohne kommunistischen Terror, ohne Standgerichte und ohne die kommunistischen Untergrundpartisanen, stellt euch geschlossen allen offenen oder getarnten Bolschewisierungsversuchen entgegen, arbeitet mit in der großen überparteilichen Sammelbewegung gegen kommunistische und rechtsradikalistische Feinde der Demokratie.«

Dieses Extrablatt hat die Größe DIN A4 und wurde herausgegeben vom Volksbund für Frieden und Freiheit e.V.,8 Bonn, Schaumburg-Lippe-Straße 2.

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