Zur Beurteilung der Situation
5. Januar 1954
Informationsdienst Nr. 2061 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Viermächtekonferenz1 steht weiterhin im Mittelpunkt der Diskussionen (siehe Anhang).
Zum Jahr der großen Initiative2 wurden in Betrieben Versammlungen durchgeführt, wo man Verpflichtungen übernahm, um den neuen Kurs noch schneller zu verwirklichen.3 So verpflichtete sich das Aktivistenkollektiv des VEB Kobold Berlin,4 den Jahresplan 1954 bis zum 30.11.1954 zu erfüllen, die Qualität der Erzeugnisse zu verbessern, das Sortiment zu erweitern, die Verpackung zu verbessern, die wirtschaftliche Rechnungsführung einzuführen und die Selbstkosten zu senken.
Der Besuch westdeutscher Arbeiterdelegationen in Betrieben der DDR führte zu positiven Ergebnissen. Diese westdeutschen Arbeiter erkannten den Fortschritt unserer Ordnung und brachten zum Ausdruck, dass sie in Westdeutschland mit dazu beitragen wollen, dass die Bevölkerung über die wahren Verhältnisse bei uns informiert wird. So weilte am 30.12.1953 eine westdeutsche Delegation im Stahl- und Walzwerk Brandenburg. Sie äußerten, dass sie entgegen der Adenauer5-Propaganda alles unternehmen werden, um den Arbeitern in Westdeutschland die wahren Verhältnisse in der DDR zu schildern.6 Eine andere westdeutsche Delegation war im Schlepperwerk Brandenburg,7 im Pionierhaus sowie im Jugendklubhaus. Auch sie wollen die Lügen und Hetze gegen die DDR mit zerschlagen, indem sie von ihren Erlebnissen in der DDR berichten.
Schwierigkeiten beim Anlaufen der Produktion für das Jahr 1954 traten im VEB Kälte Berlin auf. In diesem Werk werden Schiffskühlanlagen hergestellt. Die dafür benötigten Graugussstücke können nicht geliefert werden, da durch Anweisung der Hauptverwaltung Gießereien diesem VEB die bisherigen Gießereien als Anlieferbetriebe entzogen wurden. Dies ist seit 1952 bereits das zweite Mal, dass dem Betrieb die Gießereien abgenommen werden. Dadurch wird voraussichtlich der Produktionsplan im 1. Quartal 1954 nicht erfüllt werden und die pünktliche Auslieferung der Exportaufträge für die UdSSR ist infrage gestellt.
Fehlen von Aufträgen für das 1. Quartal 1954 wurde vom VEB Elde Süßwaren Parchim, [Bezirk] Schwerin, gemeldet. Dadurch müssen zzt. 17 Saisonarbeiter entlassen werden und die Arbeiter der Marmeladenabteilung müssen mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt werden. Der Mangel an Aufträgen wird damit begründet, dass die Lager der DHZ und des Einzelhandels überfüllt sind. Besonders stark macht sich der Mangel an Aufträgen im Monat Januar bemerkbar.
Die Maschinenfabrik Sangerhausen, [Bezirk] Halle, hat für das Planjahr 1954 erst 45 Prozent an Aufträgen vorliegen. Dadurch kann vom Bezirk noch keine Materialvorplanung und -bestellung herausgegeben werden. Die Produktion dieses Werkes besteht aus Zuckerfabrikeinrichtungen. Verantwortlich für den Abschluss von Verträgen ist der DIA. Der Mangel an Aufträgen führt zu schlechter Stimmung unter der Belegschaft.
Waggonmangel besteht in den Deutschen Holzwerken Schwerin. Die Lager stehen mit Möbeln voll und können, da die Reichsbahn keine Waggons stellt, nicht abtransportiert werden. Hierdurch kann der Finanzplan des Werkes nicht erfüllt werden, obwohl der Jahresproduktionsplan erfüllt wurde.
Schwierigkeiten im Kraftfahrzeugpersonentransport bestehen im Kreis Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt. Der Kraftfahrzeugfuhrpark ist zum großen Teil stark reparaturbedürftig, zzt. sind 14 Omnibusse nicht einsatzbereit, da es an verschiedenen Ersatzteilen mangelt. Die Auswirkungen zeigen sich durch große Verspätungen im Berufsverkehr. So hatte z. B. der planmäßige Omnibus Arnsfeld – Annaberg am 4.1.1954 1½ Stunden Verspätung. Durch diese Verspätungen treten in den Betrieben Arbeitsausfälle ein, da die Arbeiter nicht rechtzeitig zur Arbeit erscheinen können.
Handel und Versorgung
Qualitätsbeanstandung von Schokoladenpralinen aus der ČSR. Seit Mitte September lagern bei der DHZ Jena, [Bezirk] Gera, 13 Tonnen und bei der DHZ Rudolstadt, [Bezirk] Gera, 9 Tonnen Schokoladenpralinen aus der ČSR. Durch eine Kommission von Vertretern der ČSR und Berlin wurde vereinbart, diese Waren bis zu einer neuen Preisfestsetzung nicht auszuliefern.
Verschimmelte und ungenießbare Süßwaren werden laut Bericht der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt im Kreisgebiet Annaberg von der HO verkauft.
Über die geringe Auswahl von Winterbekleidung und mangelhafte Belieferung der Sonderschuhscheine herrscht unter den Kumpel der Wismut AG8 im Bezirk Karl-Marx-Stadt eine gewisse Missstimmung. So erklärte z. B. ein Kumpel aus Johanngeorgenstadt: »Wir haben wohl Schuhscheine bekommen, jedoch an Schuhen ist keine Auswahl, alles Ladenhüter und keine Qualität. Mit der Bekleidung ist es ähnlich, Wintersachen sind nur im Sommer zu haben.«
Unzufriedenheit über die neuen Hausbrandkarten für Rohkohle wird aus einigen Kreisen des Bezirkes Dresden berichtet. So äußerte eine Hausfrau aus Dippoldiswalde: »Die Rationierung der Rohkohle steht im Widerspruch mit dem Ausspruch Walter Ulbrichts,9 wonach die Aufhebung der Rationierung im Jahre 1954 vorgesehen ist.«10 Im Kreis Meißen wird die Frage aufgeworfen, warum solche Maßnahmen nicht in der Presse veröffentlicht werden.
Überbelieferung mit Rohbraunkohle: 120 t Rohkohle wurden von der BHG Brunne, [Bezirk] Potsdam, angefordert, 376 t aber wurden geliefert. Dadurch sind der BHG unnötige Unkosten entstanden.
Landwirtschaft
Kollektiv- und Einzelverpflichtungen in LPG und MTS zu Beginn des Jahres der großen Initiative werden aus den Bezirken Suhl und Potsdam berichtet. So verpflichtete sich z. B. eine Brigade der MTS Grimmenthal, [Bezirk] Suhl, ihren Plan im 1. Quartal 1954 mit 120 Prozent zu erfüllen.
Einzelverpflichtungen von werktätigen Bauern werden aus dem Bezirk Cottbus berichtet. Die werktätigen Bauern aus Fleißdorf verpflichteten sich, ihre Kartoffelerträge um 20 Prozent, sowie die Milchleistung zu erhöhen. In Geierswalde wollen die Bauern in diesem Jahr zusammenhängende Anbauflächen schaffen, um damit die Bearbeitung durch die MTS zu erleichtern.
Die mangelhafte Unterstützung in der Buchführung vonseiten des Rates des Kreises Parchim, [Bezirk] Schwerin, und den Patenbetrieben11 wird von einigen LPG im Kreis Parchim stark kritisiert.
Aus der LPG Rum Kogel, [Bezirk] Schwerin, sind einige Mitglieder ausgetreten. Diese zeigen sich nun als direkte Feinde der LPG, indem sie durch Stimmungsmacherei und Hetze versuchen, die sich neubildende LPG zu sprengen. Ähnliche Erscheinungen sind in der LPG Striesenow, [Bezirk] Schwerin, zu verzeichnen.
Durch die Anweisung, dass VEG kein Schlachtvieh liefern dürfen, da der Bedarf zzt. aus dem bäuerlichen Sektor gedeckt wird, macht sich im Bezirk Neubrandenburg eine erhöhte Inanspruchnahme des vorhandenen, schon sehr schmalen Futtervorrats in den VEG bemerkbar. 12 000 Schweine sind zzt. noch für das Planjahr 1953 zu liefern.
Zur Viermächtekonferenz halten die Diskussionen weiterhin an. Änderungen in der Argumentation sind nicht zu verzeichnen (siehe Anhang).
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Hauptdiskussionsstoff der Bevölkerung ist gegenwärtig die bevorstehende Außenministerkonferenz in Berlin. Auch hier sind gegenüber den Vortagen keine Änderungen in der Argumentation eingetreten (siehe Anhang).
Diskussionen die mit Mängeln in der Versorgung im Zusammenhang stehen, wurden bereits unter Handel und Versorgung berichtet.
Paketprovokation: Die Betriebssportgemeinschaft »Traktor« Blankenberg,12 [Bezirk] Gera, die zu einem Fußballspiel in Westdeutschland weilte, erhielt beim Überschreiten der D-Linie pro Person 10,00 Westmark sowie ein Paket im Werte von 20,00 Westmark, was auch von dieser angenommen wurde.
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter und Postwurfsendungen wurden verstärkt im Bezirk Halle (9 025 Flugblätter) und vereinzelt in den Bezirken Rostock, Cottbus, Dresden, Karl-Marx-Stadt und Gera festgestellt. Der Inhalt ist der gleiche wie bisher (Hetze gegen die SU und DDR, gegen Regierung und Partei).
Gefälschte Schreiben des Ministeriums für Land- und Forstwirtschaft wurden an fünf LPG des Bezirkes Rostock verschickt. Die Schreiben hatten eine Einladung für eine am 8.1.1954 in Berlin stattfindende Tagung zum Inhalt. Thema dieser Tagung: Verbesserung der Mechanisierung in der Landwirtschaft. Es sollte ein Professor aus der SU sprechen.
Überfälle: Am 1.1.1954 wurde im Volkshaus Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg, ein VP-Angehöriger von zwei Jugendlichen tätlich angegriffen. Die Jugendlichen wurden festgenommen.
Am 1.1.1954 versuchten drei Personen einen Streifenposten der Grenzpolizei im Gebiet Heringsdorf, [Bezirk] Rostock, den Karabiner zu entreißen. Diese drei Personen wurden ebenfalls festgenommen. Am 2.1.1954 wurde in der Hafengegend von Rostock ein Angehöriger der sowjetischen Handelsmarine von unbekannten Tätern angegriffen und mit einem Messer verletzt.
Eine Radio-Sonde amerikanischer Herkunft mit Ballon und Fallschirm wurde am 31.12.1953 im Walde an der Straße Neustadt – Hummelshain, [Bezirk] Gera, gefunden.
Stimmen aus Westberlin
In einer SPD-Wohngruppenversammlung in Berlin-Tiergarten führte der Redner über die Viererkonferenz u. a. aus: »Die SPD im Bundesgebiet und in Berlin muss noch enger mit den anderen Parteien zusammenstehen, wenn es um die Freiheit und Einheit Deutschlands geht.« Der Parteivorstand schlägt vor, dass alle Genossen in der Zeit der Viererkonferenz wachsam sind und darauf achten, dass die Beeinflussung des Ostens nicht zum Durchbruch kommt und jegliche Behinderung der Sympathiekundgebungen des freiheitlichen Berlins durch SED-Funktionäre verhindert wird.
Einschätzung der Situation
Die Lage hat sich gegenüber den Vortagen nicht verändert.
Anlage vom 5.1.1954 zum Informationsdienst Nr. 2061
Anhang zur Stimmung über die bevorstehende Viermächtekonferenz
Hauptthema der Diskussionen unter der gesamten Bevölkerung ist weiterhin die bevorstehende Viermächtekonferenz in Berlin (Betriebe, Landwirtschaft und übrige Bevölkerung). Auch am heutigen Tage sind die positiven Stimmen in der Mehrzahl. Die Argumentation hat sich gegenüber den Vortagen nicht geändert. Ein großer Teil hofft, dass die Konferenz von Erfolg gekrönt sein möge, damit endlich einmal die Spaltung Deutschlands der Vergangenheit angehöre. Die Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West wird besonders durch die Unterschriftensammlung bekräftigt.13 Weiterhin wird die Hilfe und die Freundschaft der SU immer wieder hervorgehoben, da sie sich konsequent für die Einheit Deutschlands und den Abschluss eines Friedensvertrages einsetzt. Oft wird jedoch der erfolgreiche Verlauf dieser Konferenz angezweifelt, da es bisher zu keiner Einigung gekommen sei. Negative Stimmen zur Viermächtekonferenz wurden nur in geringem Maße bekannt.
Von der LPG Groß-Beuchow, [Bezirk] Cottbus, wurde ein Schreiben an die vier Hohen Kommissare in Deutschland14 zur Weiterleitung an die Außenminister der vier Großmächte gesandt. In diesem Schreiben wurde die Forderung gestellt, im Sinne des Potsdamer Abkommens15 alle möglichen Schritte zur friedlichen Lösung des Deutschlandproblems und zur Unterbindung der Remilitarisierung und Stationierung der Atomkanonen in Westdeutschland zu unternehmen.16
Aus dem Bezirk Dresden wird berichtet, dass die gegenwärtige Unterschriftensammlung für die bevorstehende Viererkonferenz allgemein positiv verläuft. Bereitwillig werden die Unterschriften von der Bevölkerung gegeben, nur in Einzelfällen wird diese von Geschäftsleuten und Pfarrern verweigert.
Im VEB Thuringia in Sonneberg, [Bezirk] Suhl, diskutieren die Arbeiter dahingehend, dass die Konferenz ein weiterer Schritt zur Schaffung der Einheit Deutschlands sein wird. Alle Werktätigen dieses Betriebes fordern mit ihrer Unterschrift [die] Teilnahme von Vertretern aus beiden Teilen Deutschlands an dieser Konferenz.
Ein Angestellter aus Grevesmühlen, [Bezirk] Rostock: »Es ist schon ein gewaltiger Erfolg, dass die vier Mächte sich endlich zum Verhandeln zusammensetzen. Unsere Aufgabe sowie die unserer Brüder in Westdeutschland muss es jetzt sein, dass wir durchdrücken, dass Vertreter aus Ost und West dabei sind.«
Ein Lokführer aus dem VEB Steinkohlenwerk Freital, [Bezirk] Dresden: »Die Stimmung über die bevorstehende Außenministerkonferenz ist sehr gut. Ich wünsche mir, dass wir dadurch endlich ein einheitliches und friedliches Deutschland erhalten.«
Ein Landarbeiter aus Retzow,17 [Bezirk] Neubrandenburg: »Es ist schon sehr viel wert, dass die Konferenz in Berlin stattfindet. Die Westmächte müssen jetzt, ob sie wollen oder nicht, über die Deutschlandfrage verhandeln. Ich verspreche mir viel von dieser Beratung und es kommt bestimmt etwas dabei heraus.«
Der 1. Kreissekretär der CDU aus Hildburghausen, [Bezirk] Suhl: »Durch die Viererkonferenz wird die Möglichkeit geschaffen, dass Deutschland einen gerechten Friedensvertrag erhält, sowie dass der Abzug der Besatzungstruppen nach acht Jahren endlich verwirklicht wird.«
Eine Hausgemeinschaft in Geyer, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, brachte in einer Aussprache zum Ausdruck, dass es die Ereignisse der letzten Tage nicht mehr zulassen, weiter zu schweigen. Sie äußerten die Hoffnung, dass die Viererkonferenz einen Friedensvertrag für Deutschland bringt und dass endlich das Kriegsgespenst aus Europa verschwindet.
Ein Pfarrer aus Ziesar, [Bezirk] Potsdam: »Ein großer Teil der Bevölkerung kann noch nicht einschätzen, was die Deutsch-Sowjetische Freundschaft für uns bedeutet.«
Ein Schlosser der MTS Jennewitz, [Bezirk] Rostock: »Die Einberufung der Viermächtekonferenz ist ein Verdienst der SU. Hoffentlich bleibt es jetzt nicht nur beim Verhandeln.«
Ein Arbeiter aus Großbreitenbach, [Bezirk] Suhl: »Die SU hat jetzt eine große Autorität in der Weltöffentlichkeit, da die Westmächte durch die Bemühungen der SU zu Verhandlungen gezwungen werden.«
Ein Fuhrunternehmer aus Bansin, [Bezirk] Rostock: »Wenn die Großmächte auch am 25.1.1954 zusammenkommen, für uns springt ja doch nichts dabei heraus. Wenn die Westmächte den Frieden wollten, warum rüsten sie dann so wahnsinnig.«
Ein Kumpel aus Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es besteht alle Aussicht, dass die Viermächtekonferenz zustande kommt, aber ich glaube nicht, dass das Deutschlandproblem gelöst wird. Es sind schon sehr viele solche Konferenzen gewesen, aber immer ohne Erfolg.«18
Eine Angestellte der VEAB Neubrandenburg: »Ich kenne Adenauer nicht und kann auch nicht gegen ihn protestieren. Ich unterschreibe nicht, denn wer richtet, wird einmal selbst gerichtet werden.«