Zur Beurteilung der Situation
20. Januar 1954
Informationsdienst Nr. 2074 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Wie aus den Bezirken berichtet wird, sind in der Stimmung allgemein keine wesentlichen Veränderungen zu verzeichnen.
Organisierte Feindtätigkeit
Wie aus Rostock berichtet, wurde am 20.1.1954 gegen 11.00 Uhr am Schlagbaum Priwall – Pötenitz – Travemünde1 auf westlicher Seite ein Lautsprecher aufgestellt. Beim Lautsprecher befinden sich ein Polizei-Angehöriger der Westpolizei und zwei Zivilisten. Um 11.00 Uhr wurden am Schlagbaum Selmsdorf-Dassow2 westlicher Seite ein Mannschaftswagen, ein Jeep und zwei Panzerspähwagen gesichtet. Die Fahrzeuge hielten sich ca. fünf Minuten an dieser Stelle auf. Weiterhin wurden bei Palingen3 zwei Panzerspähwagen, zwei Jeep und ein Überfallwagen mit zwölf englischen Armeeangehörigen gesichtet. Die Engländer beschäftigten sich mit Landkarten und beobachteten das Gebiet der DDR.4
In der Hauptsache bewegt sich die Feindtätigkeit in Hetze gegen die SU und DDR sowie fortschrittliche Kräfte.
Ein Lehrer aus Oschatz, [Bezirk] Leipzig, veröffentlichte einen Artikel in der Presse, in dem es u. a. heißt: »Wir stehen an der Schwelle einer neuen Zeit.« Daraufhin erhielt er einen anonymen Brief mit sinngemäßem Inhalt: »Die Zeit wird nicht mehr lange dauern und du wirst mit deiner Brut verjagt.«
Ein Pfarrer aus Leipzig äußerte: »Mit der Berliner Konferenz5 gewinnen die Flüchtlinge neue Hoffnung. Sie richten ihren Blick nach Osten, nach ihrer lieben und teuren Heimat, in der sie seit Urzeit lebten und leben wollen.«
Flugblatttätigkeit
Im Grenzbereich Gardelegen wurden um 14.30 Uhr von westlicher Seite verstärkt Ballons mit Hetzschriften hochgelassen. Weiterhin wird aus Magdeburg gemeldet, dass verstärkt Postwurfsendungen in Erscheinung treten. Herausgeber dieser Hetzschriften KgU,6 Freiheitsrat7 und SPD. Inhalt:8 Langsam Arbeiten, freie Wahlen und Hetze gegen Regierungs- und Parteifunktionäre. Mit dem gleichen Inhalt wurden Hetzblätter vereinzelt in vier Kreisen des Bezirkes Halle gefunden. Eingeschleust durch Ballon. In drei Kreisen des Bezirkes Suhl wurden im geringen Maße Hetzschriften mit dem Inhalt: »Macht das Jahr 1954 zum Jahr der großen Initiative« durch Ballons eingeschleust.9 Aus den nichtaufgeführten Bezirken sind keine Berichte über Feindtätigkeit eingegangen.
Wie »Der Tag«10 vom 20.1.1954 schreibt, ist eine »Internationale Kundgebung« – Frieden in Freiheit, wir sind uns einig vom Bezirksamt Kreuzberg am 24.1.1954 um 17.00 Uhr vorgesehen.
Wie der Sender London11 am 20.1.1954 berichtet, wurde die Lebensmittelspende12 (900 t Butter, 15 000 t Milchpulver) begonnen. Sie erstreckt sich auf mehrere Wochen und kommt an bedürftige Westberliner zur Verteilung.
Anlage 1 vom 20.1.1954 zum Informationsdienst Nr. 2074
Propaganda des RIAS und des Hamburger Rundfunks
Vom 29.1. bis 7.2.[1954] wird in Westberlin eine Landwirtschaftsausstellung »Grüne Woche« durchgeführt.13 Der westliche Rundfunk fordert die Bauern der DDR auf, diese Ausstellung zu besuchen.
Vom westlichen Rundfunk werden die Werktätigen aufgefordert, die Verordnung vom 10. Dezember 1953 (Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter und der Rechte der Gewerkschaften)14 bei jeder passenden Gelegenheit auszunutzen, um wirtschaftliche und soziale Forderungen zu stellen. Zum Beispiel ausreichende Versorgung mit Arbeitsschutzkleidung, strenge Einhaltung der Arbeitsgesetze, geregelte Arbeitszeit ohne Überstunden, Verbesserung der sanitären Einrichtungen, gutes Handwerkszeug, einwandfreies Produktionsmaterial usw. Auch auf das Streikrecht wird im Zusammenhang mit dieser Verordnung eingegangen und verbreitet, dass den Arbeitern in der DDR das »Streikrecht« nicht gesichert ist.15
Der RIAS fordert die Jugendlichen auf, die gebildeten Interessengemeinschaften der FDJ auszunutzen,16 um der politischen Arbeit auszuweichen und sich mit dem zu beschäftigen, was ihnen Spaß macht. Um die Jugendarbeit auf dem Lande zu stören, fordert der RIAS die Landjugend auf, keinen Kontakt mit der FDJ zu suchen und auch Tanzabende, Fachdiskussionen und Laienspielabende der FDJ abzulehnen. Auf die Mitglieder der GST versucht man auf der gleichen Linie einzuwirken, es wird zur Teilnahme an technischen Zirkeln, aber zur Ablehnung von Schießübungen und politischen Zirkeln aufgefordert.
Anlage 2 vom 20.1.1954 zum Informationsdienst Nr. 2074
Stimmung der Bevölkerung in Westdeutschland und Westberlin zur Berliner Konferenz
Aus uns bekannten Stimmen geht Folgendes hervor: In Westdeutschland und Westberlin steht die Berliner Konferenz der Außenminister im Vordergrund. Die Meinung hierzu ist recht unterschiedlich.17
Die gehegten Hoffnungen sind verschiedener Natur. Ein Teil erkennt die Möglichkeit, die die Konferenz bietet und die Notwendigkeit des Kampfes damit die Konferenz zu Maßnahmen für die demokratische Einheit und den Frieden kommt. Einige erkennen die Rolle der SU. Unter den positiven Stimmen sind solche vorherrschend, die sich nur gewisse Erleichterungen versprechen (erweiterter Ost-West-Verkehr, Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Einstellung der Reparationen usw.). Hauptsächliche Beweggründe der Hoffnungen,18 ist die Gegnerschaft zu einem neuen Krieg. Mitunter tragen die Hoffnungen auf Einheit reaktionäre Züge (wie Rückgliederung der Ostgebiete, Beseitigung der sozialökonomischen Verhältnisse der DDR usw.).
Unter den Westberliner positiven Stimmen sind die meisten mit Hoffnungen auf unmittelbare Vorteile (Telefonverbindung, einheitlicher Handel, Währung usw.).19
Unter den negativen Stellungnahmen werden die Gegensätze zwischen der SU und USA als unüberbrückbar hingestellt, die Forderung nach »freien Wahlen« erhoben sowie Antisowjethetze und Hetze gegen die Volksdemokratie Polen getrieben.
Ein größerer Teil der vorliegenden Stimmen äußert sich abwertend und auch uninteressiert. Einige charakteristische Beispiele:
Ein Arbeiter aus Salzgitter Lebenstedt: »Viel wird aber von uns abhängen, welches Ergebnis diese Konferenz hat. Von Bonn aus versucht man ja alle möglichen Störungen zu organisieren. Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie sehr sich die Menschen nach Einheit und Frieden sehnen.«
Ein Angestellter aus Esslingen: »Mit großer Spannung erwarten wir die Berliner Konferenz, die doch als großer Erfolg der konsequenten Friedenspolitik der Sowjet-Union zu werten ist.«
Ein christlicher Arbeiter aus Oberrahmede:20 »Möge Gott jedem ins Gedächtnis einhämmern, nur an den Frieden und die Wiedervereinigung Deutschlands zu denken, damit alle Menschen wieder zur Ruhe kommen.«
Ein Angestellter aus Solingen: »Wir alten Soldaten wollen keinen Krieg, aus diesem Grund begrüßen wir die Zusammenkunft der großen Vier.«
Ein Intelligenzler aus Bremen: »Es wird erzählt, in der Ostzone hoffe man teilweise auf Adenauer.21 Das kann ich gar nicht verstehen, denn die Wiedervereinigung wird durch die Adenauer-Politik unmöglich gemacht.«
Ein Jugendlicher aus Westberlin: »Die Haltung der SPD ist wieder typisch: keine klare Linie.«
Ein Geschäftsmann aus Westberlin: »In Bonn bekam man schon Zustände als Berlin als Konferenzort genannt wurde. Eine Wiedervereinigung würde das dortige Idyll stören, denn man hat sich auf eine unendliche Dauer des gegenwärtigen Zustandes eingerichtet.«
Ein CDU-Mitglied aus Hannover: »Es ist möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich, dass die Konferenz einen Schritt zur Einheit bedeutet. Adenauer markiert den starken Mann: ›Hinter mir steht Amerika und Rom. Wen habt ihr hinter euch?‹ Damit unterdrückt er die Opposition.«
Ein Angestellter aus Rheinbahn-Verkehrsgesellschaft:22 »22 Jahre bin ich schon in der SPD, aber jetzt werde ich mein Parteibuch den rechten Führern hinwerfen, mit der gegenwärtigen Politik bin ich nicht einverstanden.«
Ein Professor aus Frankfurt/Main: »Viele Konferenzen haben schon stattgefunden, auch diese wird so verlaufen, wie die früheren.«23
Ein Arbeiter aus Hamburg: »Ohne freie Wahlen ist alles undiskutabel.«
Ein Angestellter aus Westberlin: »Die beiden Rivalen, Amerika und Russland, werden sich nie auf friedlichem Wege einen. Das werden die Kanonen erledigen müssen.«
Ein Geschäftsmann aus Westberlin: »Viel mehr als beim Hornberger Schießen wird für uns dabei nicht herauskommen. Ich glaube, dass die Amerikaner als auch die Bundesrepublik die Lage richtig einschätzen, vielleicht noch der Engländer. Aber der Franzose befindet sich auf dem Holzwege. Der ist drauf und dran, Europa zu verspielen. Die Leute brauchen unbedingt eine neue Verfassung, die ihnen eine stabile Regierung auf längere Zeit ermöglicht.«
Ein Jugendlicher aus Stuttgart: »Große Hoffnungen habe ich nicht auf die Konferenz, denn der Sowjet-Union geht es darum, den Zusammenschluss Europas zu verhindern und die EVG24 zu Fall zu bringen.«
Eine Hausfrau aus Westberlin: »Adenauer wird schon alles machen. Vertrauen wir ihm – denn er ist wirklich ein großer Führer.«