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Zur Beurteilung der Situation

6. Januar 1954
Informationsdienst Nr. 2062 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Viererkonferenz siehe Anhang.1

Zum Jahr der großen Initiative2 wurden in mehreren Betrieben Versammlungen durchgeführt. In diesen Versammlungen wurden von den Arbeitern Verpflichtungen übernommen, um zu einer schnelleren Verwirklichung des neuen Kurses beizutragen.3 So verpflichteten sich 22 Brigaden des Karl-Marx-Werkes Zwickau,4 ihren Quartalsplan vorfristig zu erfüllen. Die Kumpel der Abteilung Morgenrot des Braunkohlenwerkes Senftenberg, [Bezirk] Cottbus, verpflichteten sich vom 1. bis 25.1.1954,5 mehrere Hochleistungsschichten zu fahren. Die Kollegen der Schiffswerft Rechlin, [Bezirk] Neubrandenburg, wollen ihre Leistungen gegenüber 1953 um 168 Prozent erhöhen.

Materialmangel wurde aus einigen Betrieben bekannt. Dies führte zu Produktionsausfällen in diesen Betrieben. Im Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« fehlt es zzt. an Erzen aus der SU. Die Hochofenleitung hat die Stilllegung des Ofens I in Aussicht genommen, wenn nicht in Kürze Erz eintrifft. Der Plan der Roheisengewinnung im 4. Quartal 1953 wurde mit 102,7 Prozent erfüllt.

Im VEB Mifa Sangerhausen, [Bezirk] Halle, fehlt es besonders an 16 mm Rohren und Nippeln. Dadurch konnten am 1. Tag statt 1 000 nur 100 Fahrräder hergestellt werden. Der VEB Vereinigte Hutwerke Guben, [Bezirk] Cottbus, musste infolge starken Materialmangels ca. 100 Arbeiter mit anderweitigen Arbeiten beschäftigen, wodurch ein Verdienstausfall dieser Kollegen eintrat. Die schlechte Stimmung dieser Arbeiter hat sich auf die gesamte Belegschaft (1 500 Arbeiter) übertragen. Am 5.1.1954 ist eine Delegation des Betriebes zum zuständigen Ministerium gefahren,6 da man die Briefe, die an das ZK der SED und an die Präsidialkanzlei7 gerichtet waren, nicht beantwortet hätte.

Warenstau besteht im VEB Linoleum Werk Kohlmühle, [Bezirk] Dresden, wo sich zzt. 250 000 m Fertigware auf Lager befinden, die nicht versandt werden können, da vom Ministerium für Leichtindustrie über die DHZ der Verteilerplan noch nicht eingegangen ist, trotzdem dieser mehrmals angefordert wurde.

Eine Verpuffung in der Brikettfabrik »Gute Hoffnung« Roßbach, [Bezirk] Halle, entstand am 3.1.1954. Durch diese Verpuffung brach ein Brand im Treppenhaus sowie acht Trockenöfen und in der Sichteranlage8 aus. Weiterhin wurden sämtliche Türen und Fenster der Sichteranlage eingedrückt und ein Teil des Daches abgehoben. Es entstand ein Schaden von ca. 4 000 DM. In diesem Werk fehlt es an einer ordnungsgemäßen Entstaubungsanlage. Die Mittel dafür wurden seit drei Jahren von der zuständigen Verwaltung in Berlin jedoch gestrichen.

Vergiftungserscheinungen durch Schwefelausströmungen traten bei Gasschmiedeöfen im VEB Waggonbau Bautzen, [Bezirk] Dresden, auf. Es erkrankten ca. 80 Arbeiter. Im Gaswerk Bautzen und bei der Bevölkerung wurde ebenfalls über starken Schwefelgeruch des Gases, welcher gesundheitsschädigend wirkt, Klage geführt.

Schlechte Stimmung der Kumpel der Wismut9 über Funktionäre des Zentralvorstandes der IG Wismut traten in Oberwiesenthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, auf. Hier wurde das Ferienheim »Aktivist« (ehemaliges Sporthotel) über Silvester für die Kumpel gesperrt, da einige Genossen des Zentralvorstandes der IG Wismut mit ihren Frauen hier ihre Silvesterfeier abhielten. Die Kumpel können es nicht verstehen, dass wegen einiger Funktionäre das ganze Ferienheim reserviert wird.

Hochwasserschäden an der Ostseeküste: Nach unvollständigen Meldungen traten in folgenden Betrieben Störungen durch Hochwasser ein:

  • Der Derutra-10 und Seehafen Rostock war teilweise überschwemmt (Kai). Bei weiterem Ansteigen des Wassers um 15 cm bestand die Gefahr, dass die Fischhallen, wo mehrere 100 t Zement lagern, unter Wasser gesetzt wurden.

  • In der Neptunwerft Rostock fielen vier Kräne aus, infolge Hochwasser. Bei Ansteigen des Wassers war der Kai der Werft gefährdet.

  • In der Volkswerft Stralsund stand das Werftgelände und die Maschinen der Gleichstromanlage unter Wasser.

  • In Jagar ist die VEB Schiffsreparaturwerft überschwemmt,11 eine Bootslandungsbrücke wurde zerstört.

  • Die Fernverkehrsstraße F 96 zwischen Kowall und Mesekenhagen12 war gesperrt (Wasserstand 40 cm).

  • Weiterhin waren die Straßen Eldena-Wieck13 und Dranske/Glowe überschwemmt.

Handel und Versorgung

Über die Ausgabe von Hausbrandkarten für Rohbraunkohle werden aus verschiedenen Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt negative Diskussionen berichtet. Unter anderem wird zum Ausdruck gebracht, dass es nicht vorwärts, sondern rückwärtsgehe.

Landwirtschaft

Viermächtekonferenz: Wie bereits an den Vortagen berichtet, wird über die Viermächtekonferenz unter der Bevölkerung im landwirtschaftlichen Sektor stärker diskutiert, als über andere politische Probleme. Zum Teil ist dies auf durchgeführte Versammlungen und Aufklärungseinsätze zurückzuführen. Änderungen in der Argumentation sind nicht in Erscheinung getreten (siehe Anhang).

Zum Jahr der großen Initiative verpflichteten sich zwei Gemeinden des Kreises Guben, [Bezirk] Cottbus, ihr Jahressoll vorfristig zu erfüllen.

Wettbewerbe zur vorfristigen Erfüllung des Winterreparaturprogramms wurden, wie aus Halle berichtet, in mehreren MTS des Bezirkes abgeschlossen. Schwierigkeiten treten jedoch durch Mangel an Ersatzteilen für Pflüge und Traktoren auf.

Ersatzteilschwierigkeiten sind auch in der MTS Perleberg, [Bezirk] Schwerin, zu verzeichnen. Von der Belegschaft wird Missstimmung geäußert, da der Reparaturplan jetzt nicht erfüllt werden kann, im Frühjahr aber wieder Überstunden und Sonntagsarbeit geleistet werden müssen, um die Reparaturen zu beenden.

Forderungen bis zu 10 000 DM für die Benutzung der Gebäude, Stallungen und Geräte werden von drei Großbauern aus Kroppenstedt, [Bezirk] Magdeburg, an den Rat des Kreises gestellt. Diese Höfe der Großbauern waren laut Gesetzblatt 25 wegen schlechter Bewirtschaftung enteignet14 und wurden im Zuge des neuen Kurses wieder zurückgegeben.15

Der noch teilweise vorhandene Einfluss der Großbauern auf die Landbevölkerung zeigt sich in einer Versammlung in Kieselwitz, [Bezirk] Frankfurt/Oder. Von der Mehrzahl16 der Anwesenden (40 Personen) wurde die Unterschrift für die Teilnahme [von] Vertreter[n] aus Ost und West an der Viermächtekonferenz abgelehnt17 (darunter zwei Gemeindevertreter und ein LPG-Vorsitzender). Als Begründung wurde in der Diskussion zum Ausdruck gebracht, dass eine Verärgerung darüber besteht, dass vom Vorsitzenden der VdgB in einer Versammlung geäußert wurde, Bauern über 20 ha hätten auf der Kreiskonferenz nichts zu suchen.18 In diesem Zusammenhang wurde auch über die Oder-Neiße-Friedensgrenze diskutiert. Der LPG-Vorsitzende gab seine Unterschrift noch im Flur, um von den Anwesenden nicht gesehen zu werden.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Außer Meinungsäußerungen, die sich in der Argumentation gegenüber den Vortagen nicht unterscheiden, sind keine Berichte eingegangen (Viermächtekonferenz siehe Anhang).

Organisierte Feindtätigkeit

Flugblätter und Postwurfsendungen traten verstärkt im Bezirk Potsdam (6 750 Stück) und vereinzelt in den Bezirken Frankfurt/Oder, Halle, Dresden, Karl-Marx-Stadt und Erfurt auf. Der Inhalt ist der gleiche wie bisher (Hetze gegen die SU und DDR).

Überfälle: Am 31.12.1953 wurde der BGL-Vorsitzende des Güterbahnhofes Halle auf dem Bahngelände von zwei unbekannten Personen niedergeschlagen. Er erhielt seit ca. drei Monaten anonyme Drohbriefe. Letztmalig wurde am 31.12.1953 ein anonymes Schreiben am Bahnhof gefunden, worin er ab 1.1.1954 für vogelfrei erklärt wurde.

Am 1.1.1954 wurde der LPG-Vorsitzende der LPG »Freies Land« Altenburg, [Kreis] Bernburg, [Bezirk] Halle, auf dem Weg von einer Sportveranstaltung nach seiner Wohnung von vier unbekannten Tätern niedergeschlagen. Er wurde bereits in der Gaststätte, wo diese Sportveranstaltung stattfand, von einem werktätigen Bauern tätlich angegriffen.

Zerstörung von Bildern führender Staatsfunktionäre: Vom 4. zum 5.1.1954 wurde vor dem Gebäude der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Neubrandenburg, ein Aushängekasten zertrümmert sowie die Bilder von Genossen Stalin und Genossen Pieck19 zerfetzt. Dies ist bereits das zweite Mal,20 dass dieser Kasten zerstört wurde. Im Fischkombinat Schwaan,21 [Bezirk] Schwerin, wurde in der Nacht vom 4. zum 5.1.1954 ein Bild des Genossen Pieck von unbekannten Tätern zerrissen.

Vermutlich organisierte Feindtätigkeit

Brand: Am 31.12.1953, 7.45 Uhr, brach im Stahlwerk »Wilhelm Florin« Hennigsdorf ein Brand aus. Schaden: 5 000 DM und 15 t Produktionsausfall. Ursache des Brandes ist unbekannt.

Gerüchte: In Schkeuditz, [Bezirk] Leipzig, wird ein Gerücht verbreitet, wonach ein neuer »Tag X«22 am 1.3.1954 stattfinden soll. Ein gleiches Gerücht wird noch verbreitet mit dem Zeitpunkt 1.6.1954. In der Bau-Union Küste Stralsund, [Bezirk] Rostock, wird das Gerücht verbreitet, dass der 20.3.1954 der »neue Tag X« ist. In Döbeln, [Bezirk] Leipzig, verbreitet man das Gerücht, dass in nächster Zeit eine Währungsreform stattfinden soll.

Einschätzung der Situation

Die Lage hat sich gegenüber den Vortagen nicht verändert.

Anlage (o. D.) zum Informationsdienst Nr. 2062

Anhang zur Stimmung über die bevorstehende Viererkonferenz

Gegenüber den Vortagen sind in den Meinungsäußerungen zur bevorstehenden Viermächtekonferenz keine Änderungen eingetreten. Die Hoffnung auf Verständigung der vier Großmächte und Herstellung der Einheit Deutschlands, sind Hauptinhalt der Diskussionen.

Die Unterschriftensammlung mit der Forderung Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West nimmt allgemein einen positiven Verlauf.23 Die Unterschriften werden in der Mehrzahl bereitwillig gegeben. In Diskussionen werden oft die ständigen Bemühungen der SU zur Lösung des Deutschlandproblems und Entspannung der internationalen Lage hervorgehoben. Zweifelnde Stimmen wurden nur in geringem Maße bekannt. Direkt negative dagegen nur vereinzelt.

Im VEB Plasta Sonneberg, [Bezirk] Suhl, wurde eine Kurzversammlung zur bevorstehenden Viermächtekonferenz durchgeführt. Im Anschluss wurde von allen Belegschaftsmitgliedern die Resolution unterschrieben in der es heißt, dass Vertreter aus Ost und West zu dieser Konferenz hinzugezogen werden sollen.

In 73 durchgeführten Versammlungen im Kreis Neuhaus, [Bezirk] Suhl, wurden 2 855 Unterschriften für die Teilnahme von Vertretern aus beiden Teilen Deutschlands abgegeben. Im Bezirk Neubrandenburg wurden am 3.1.1954 15 000 Unterschriften für die Teilnahme deutscher Vertreter an der Viermächtekonferenz abgegeben. Ähnliche Beispiele werden auch aus dem Bezirk Dresden berichtet.

Ein Angestellter aus Bergen, [Bezirk] Rostock: »Gerade jetzt muss jeder aktiv für den Frieden und für die Einheit Deutschlands eintreten. Man muss mithelfen, dass auf dieser Konferenz auch Deutsche gehört werden.«

Ein Traktorist der MTS Putlitz, [Bezirk] Potsdam, rief anlässlich der bevorstehenden Viermächtekonferenz alle Traktoristen der MTS auf, durch ihre Arbeit zur Verwirklichung des neuen Kurses der Regierung beizutragen sowie alle Kräfte einzusetzen, dass auf der Konferenz in Berlin auch Deutsche gehört werden.

Ein Traktorist der MTS Greifswald, [Bezirk] Rostock: »Der Westen wird natürlich alles versuchen, die Viermächtekonferenz zu stören. Ich hoffe aber trotzdem, dass wir der Einheit Deutschlands einen Schritt näherkommen.«

Eine Angestellte aus Zschölkau, [Bezirk] Leipzig: »Ich habe mehr denn je Hoffnung auf eine Lösung der Deutschlandfrage, wenn nur erst einmal der Anfang gemacht ist, ich denke dabei immer an Korea.«24

Ein Hauer aus Oberschlema, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Alle Kumpel, mit denen ich sprach, erhoffen sich von der Viermächtekonferenz die Herstellung der Einheit Deutschlands und Abschluss eines Friedensvertrages.«

Ein Arbeiter aus dem Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin«: »Die Streiks der Arbeiter in Frankreich, England und Italien haben dem Amerikaner gezeigt, dass die Völker die Kriegsvorbereitungen erkennen. Dadurch sind die Westmächte gezwungen, endlich auf die ständigen Bemühungen der SU einzugehen. Ich habe die feste Überzeugung, dass auf der bevorstehenden Viermächtekonferenz etwas Positives herauskommt.«

Ein Fördermann aus Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Durch die ständigen Bemühungen der SU ist es nun endlich soweit, dass es zu Verhandlungen über die Deutschlandfrage kommt. Ich hoffe, dass diese Bemühungen von Erfolg sind, damit das Kriegsgespenst endlich verschwindet.«

Ein Rentner aus Bansin, [Bezirk] Rostock: »Seit 1945 ist die SU bemüht, der Menschheit den Frieden zu erhalten. Ich habe die größte Hoffnung, dass auf der Berliner Außenministerkonferenz endlich Beschlüsse zur Herstellung der Einheit Deutschlands gefasst werden.«

Ein Arbeiter aus Frankfurt/Oder: »Ich habe keine Hoffnung auf eine Einigung und einen Friedensvertrag mit Deutschland. Die Westmächte werden bestimmt nicht von ihrem EVG-Vertrag abgehen.«25

Ein Bäckermeister aus Gülzow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Wir Deutschen haben keinen Einfluss auf die Konferenz. Der Russe sowie der Ami gehen aber auch von ihrem Standpunkt nicht ab. Dass für uns Deutsche dabei etwas herausspringt glaube ich nicht. Auf eines hoffe ich, dass es nur keinen Krieg gibt.«

Ein Lehrer auf Nieder Seifersdorf, [Bezirk] Dresden: »Die vielen Aufklärungseinsätze, die durchgeführt werden, sind vollkommen sinnlos. Man soll sich endlich zusammensetzen und verhandeln. Durch die SU werden die Verhandlungen wieder verzögert. Erst waren sie für den 4.1.[1954] vorgeschlagen [sic!] und jetzt für den 25.1.1954.26 Ich bin nur gespannt, ob dann die Verhandlungen beginnen.«

Ein Friseurmeister aus Frankfurt/Oder: »Bei der Außenministerkonferenz kommt sowieso nicht viel heraus. Der Russe sollte jetzt in Deutschland etwas nachgeben. In seinem Laden kann er ja machen was er will.«

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