Direkt zum Seiteninhalt springen

Zur Beurteilung der Situation

25. Januar 1954
Informationsdienst Nr. 2083 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Viermächtekonferenz:1 Der Umfang der Diskussionen hat sich gegenüber den Vortagen nicht geändert. Die Mehrzahl der Werktätigen sieht der Konferenz mit Spannung entgegen. Man hofft auf einen Erfolg bei der Konferenz und dass die Deutschlandfrage auf friedlichem Wege geregelt werde. Teilweise begnügt man sich auch mit Teilerfolgen, welche die Konferenz erreichen wird. Ein Brigadier vom VEB Lederwarenfabrik Hirschberg, [Bezirk] Gera: »Ich hoffe, dass die Konferenz wenigstens einen Teil der Fragen löst, die alle Deutschen interessieren und bin schon damit zufrieden.«

Über die Forderung auf Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West an der Konferenz wird von einem größeren Teil der Arbeiter und Angestellten positiv gesprochen.2 Negative Äußerungen bzw. Ablehnen von Unterschriften äußert ein kleiner Teil der Arbeiter,3 besonders die Intelligenz. Verschiedentlich wird die Sammlung der Unterschriften formal und ohne Aufklärung durchgeführt. Wismut-Kumpel4 aus Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wollen ihre Unterschrift erst dann geben, wenn alle Westberliner und Westdeutschen die Einreise in das Wismut-Sperrgebiet erhalten.5 Bei der Unterschriftensammlung äußerte ein Gewerkschaftsorganisator vom Teerwerk Berlin-Erkner: »Nun unterschreibt schon, das ist doch sowieso nur eine formale Sache.«

Bei einem Teil der Arbeiter und Angestellten wird gegenüber den politischen Ereignissen eine Gleichgültigkeit zum Ausdruck gebracht.6 Dies tritt bei der Intelligenz stärker als bei den Arbeitern und Angestellten in Erscheinung. Ein Bohrwerksdreher vom »Ernst-Thälmann«-Werk Magdeburg:7 »Ihr müsst nur noch von heute auf morgen leben und dürft Euch keine Gedanken machen. Wir können doch an der ganzen Sache nichts ändern.«

Zweifelnde Meinungen, die von der Konferenz kein positives Ergebnis erwarten, werden von einem Teil der Werktätigen geäußert. Im Allgemeinen wird dabei gesagt, dass kein Erfolg auf der Konferenz zu erwarten sei, da bei der SU sowie den USA zu große Meinungsverschiedenheiten beständen. Ein Schlosser vom RAW Saalfeld,8 [Bezirk] Gera: »Aus der Viererkonferenz wird nichts, denn es geht hier um zwei Ideen, Kommunismus und Kapitalismus. Das Geld regiert die Welt und Amerika hat genug davon. Die Unterschriftensammlung hat gar keinen Zweck, denn sie machen doch was sie wollen.«

Negative Diskussionen über die Konferenz wurden von einem kleineren Teil geführt.9 Besonders treten die Argumente: »Freie Wahlen« und »Oder-Neiße-Grenze« in den Gesprächen auf.10 Diskussionen über die Oder-Neiße-Grenze werden besonders dort geäußert, wo Gruppen von Umsiedlern beschäftigt sind. Dazu einige Beispiele:

Ein Technologe vom VEB Kranbau Eberswalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Es müssen nach der Vereinigung unbedingt freie Wahlen durchgeführt werden.«

Unter einem Teil der Arbeiter des Eisenhüttenkombinates »J. W. Stalin«, besonders den Umsiedlern, werden rege Diskussionen über die Oder-Neiße-Grenze geführt. So äußerte ein Arbeiter: »Schön wäre es, wenn wir nach der Konferenz wieder hinter die Oder-Neiße-Grenze zurückkehren könnten.«

Ein Schlosser vom RAW Jena, [Bezirk] Gera: »Die Außenministerkonferenz wird die Russen dazu zwingen, die Oder-Neiße-Grenze freizugeben. Wenn dies durchgeführt ist, wird Frieden sein.«

Ein Schlosser vom RAW Berlin-Schöneweide:11 »Die Sperrung der Fahrkarten nach Berlin zeigt,12 wie sehr die da oben Angst haben.«

Am 23.1.1954 haben mehrere Delegationen die englische Mission in Potsdam13 aufgesucht und ihnen Resolutionen übermittelt. Inhalt der Resolutionen unbekannt.

Produktionsschwierigkeiten: Aus verschiedenen Betrieben werden Produktionsschwierigkeiten gemeldet, die zu Störungen in der Produktion und zu Verdienstausfall bei den Arbeitern führen.14 Dadurch entstand unter diesen Arbeitern Unzufriedenheit.15 Die Ursachen der Produktionsschwierigkeiten sind verschiedener Art (Auftragsmangel, schlechte Arbeitsorganisation, Rohstoff- und Materialmangel u.  Ä.). So z. B. im VEB Dampfkesselbau Gera besteht Auftragsmangel. Im VEB »7. Oktober« Großdrehmaschinenwerk Berlin und bei der Fa. Süd-Küste (Baubetrieb) in Torgelow,16 [Bezirk] Neubrandenburg, schlechte Arbeitsorganisation. Im VEB Textilwerk »Einheit« Meerane,17 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, Rohstoffmangel und im VEB Mähdrescherwerk Weimar, [Bezirk] Erfurt, Halle I Materialmangel.18

Hoher Krankenstand wird aus einigen Betrieben bekannt. Besonders ist dies bei der Reichsbahn festzustellen.19 So stieg der Krankenstand in den letzten zehn Tagen im VEB Minimax Neuruppin,20 [Bezirk] Potsdam, von 20 Kollegen auf 70. Weiterhin besteht ein hoher Krankenstand bei den Beschäftigten des Saalbahnhofes Jena,21 in den Bahnbetriebswerken Gera, Zeitz, Zittau und Bautzen, in den Bahnwerken Jena (50 Prozent), Saalfeld (20 Prozent) und Gera (18 Prozent).

Über schlechte Personenbeförderung mit Omnibussen wird von den Arbeitern bei Zeiss Jena Unzufriedenheit geäußert. Dies betrifft besonders Arbeiter aus Magdala, Kreis Weimar, die, da sie nicht alle mit dem Omnibus fahren können, 6 km zum nächsten Bahnhof laufen müssen.

Handel und Versorgung

An örtlichen Mängeln in Handel und Versorgung wurde bekannt: Im Kreis Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, herrscht bei den Bäckereien Kohlenmangel.22 Sie verfügen nur noch über Mengen, die für ein bis zwei Tage reichen.

Im VEB Schlachthof Zeitz, [Bezirk] Halle, herrscht seit einigen Tagen großer Mangel an Schlachtvieh, die Folge: Von der Betriebsleitung wurde bereits ein Teil der Arbeiter entlassen, weitere Entlassungen sollen in Kürze folgen. Die Belegschaft ist über diese Vorgänge empört. Der Schlachthof ist kaum in der Lage, seine Verträge gegenüber der Konsumgenossenschaft einzuhalten.

Landwirtschaft

Die Lage auf dem Lande zur Viermächtekonferenz ist im Wesentlichen unverändert. Während ein großer Teil Genossenschaftsbauern, Klein- und Mittelbauern sowie Landarbeiter aus den VEG und MTS positiv der Konferenz gegenüberstehen, steht ein anderer Teil der Landbevölkerung, vorwiegend Großbauern, ein Teil Mittelbauern, vereinzelt nur Kleinbauern und Landarbeiter, dieser Konferenz negativ und abwartend23 gegenüber bzw. verweigert die Unterschrift unter die Resolutionen. Die Hauptdiskussionen unter letzteren Kreisen sind: »Freie Wahlen« und »freie Wirtschaft«, »Oder-Neiße-Grenze«.24

Ein werktätiger Bauer aus Boddin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Aus der Viererkonferenz wird nicht viel Neues herauskommen. Den Ausgang kann man schon voraussagen. Sie kommen zusammen und beraten und es bleibt so, wie es zzt. ist. Der Russe will so und der Ami anders. Die Einheit wird erst viel später kommen.« (Dieser Bauer war Hauptmann in der faschistischen Armee,25 ist heute am gesellschaftlichen Leben völlig unbeteiligt.)

Ein Großbauer aus Gießmannsdorf, [Bezirk] Cottbus: »Warum fordern wir, dass Vertreter aus Ost- und Westdeutschland an der Konferenz teilnehmen, was wir wollen, das sind freie Wahlen. Wir wollen uns die richtige Regierung wählen, denn jetzt haben wir keine Freiheit.«

Eine Mittelbäuerin aus Zienau,26 [Bezirk] Cottbus: »Ich wünsche, dass es wieder so wie früher werden möge, wo wir frei wirtschaften konnten.«

In dem Kreis Belzig, [Bezirk] Potsdam, kam es in der Gemeinde Wiesenburg sowie Reetz und Reppinichen27 nur zu einer annähernd 40- bis 50-prozentigen Abgabe der Unterschriften.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Zum großen Teil sind die Äußerungen der übrigen Bevölkerung mit Hoffnung auf Lösung oder Anbahnung der Lösung der Deutschlandfrage sowie auf weitere Entspannung der internationalen Situation erfüllt. Nur ein kleiner Teil wendet sich gegen die Unterschriftensammlung.28 Hausfrau aus Malchin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich unterschreibe nicht mein Todesurteil, wir wollen nach Hause, mit der Oder-Neiße-Grenze bin ich nicht einverstanden.«

Die zweifelnden Stimmen haben etwas abgenommen29 durch die Ankunft des sowjetischen Außenministers,30 machen jedoch noch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung aus. Unter den feindlichen Meinungen tritt stärker die Forderung nach Revision der Oder-Neiße-Grenze in Erscheinung. Rentner aus Trebendorf, [Kreis] Forst, [Bezirk] Cottbus: »Erst soll der Russe die Oder-Neiße-Grenze freimachen und mich in meine Heimat zurücklassen.« Die Forderung der Revision der Oder-Neiße-Grenze tritt vorwiegend unter ehemaligen Umsiedlern auf, insbesondere in den Gebieten längs der Oder.31

Unter den leitenden Angestellten der kommunalen und staatlichen Institutionen wird überwiegend positiv diskutiert, bei den unteren Angestellten treten teilweise feindliche Stimmen auf. Angestellter – Mitglied der LDP – aus Hoyerswerda, [Bezirk] Cottbus: »Vor gesamtdeutschen Beratungen und vor Bildung einer gesamtdeutschen Regierung müssen erst freie Wahlen stattfinden.«32 Häufig sind auch formale Stellungnahmen unter den Angestellten zu finden.

Unter den Handwerkern und Gewerbetreibenden sind viele positive Meinungen,33 überwiegend sind jedoch passive, zweifelnde und abwartende Stimmen. Ein Teil dieser Personen steht unter dem Einfluss der Feindpropaganda von der »freien Wirtschaft«. Ein selbstständiger Baumeister aus Stadtroda, [Bezirk] Gera: »Wenn die Berliner Konferenz zu Ende ist, haben wir andere Verhältnisse. Da wird mein Haus leer gemacht von den Mietern, die man mir reingesetzt hat und dann nehme ich nur die Leute, die ich haben will.«

Pfarrer und Angehörige der »Zeugen Jehovas«34 treten mit feindlichen Stellungnahmen verstärkt hervor. In der Stadt Weißwasser verweigerten ca. 100 Angehörige der »Zeugen Jehova« die Unterschrift mit der Begründung, dass sie nur für den »göttlichen Frieden« seien. Ein Pfarrer aus Jüterbog sagte in seiner Predigt in Schrepkow: »Es hat keinen Zweck, Unterschriften zu sammeln. Die Menschen sollen fleißiger in die Kirche gehen und zu Gott beten, dann wird der Friede erhalten.« Ein Pfarrer aus Kloster Zinna:35 »Nach meiner Meinung muss erst eine freie Wahl stattfinden … die Kirche will den Frieden, aber keinen kommunistischen Frieden.«

Eine schlechte Stimmung ist unter der Bevölkerung des Kreises Stollberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, teilweise bei den Bergarbeitern, infolge Wohnraummangels. Der vorhandene Wohnraum ist völlig ausgelastet und die Anforderungen sind sehr groß.36

Über die Ankunft des Außenministers der Sowjetunion liegen positive Stimmen vor. Bei der Durchfahrt durch den demokratischen Sektor zeigte ein großer Teil der anwesenden Personen geringes Interesse und nahm keine Notiz. Einige Absperrmaßnahmen wurden als unnötig empfunden.37

Organisierte Feindtätigkeit

Flugblätter traten verstärkt im Bezirk Rostock, schwächer in den Bezirken Potsdam, Cottbus, Halle und Karl-Marx-Stadt in Erscheinung. In der Mehrzahl waren es die sogenannten Stimmzettel des SPD-Ostbüros.38

Postwurfsendungen wurden vereinzelt in den Bezirken Potsdam, Frankfurt/Oder, Gera und Erfurt festgestellt.

Überfälle: In Suckow,39 [Kreis] Röbel, [Bezirk] Neubrandenburg, kam es zu einer Schlägerei, wobei der Parteisekretär der LPG Suckow sowie ein Angehöriger der KVP niedergeschlagen wurden. Ursachen der Schlägerei noch unbekannt.

Zerstörung von Schaukästen: In der Nacht vom 23. zum 24.1.1954 wurde in Hermsdorf, [Kreis] Stadtroda, [Bezirk] Gera, der Aushängekasten des DFD und Kulturbundes eingeschlagen.

In der Gemeindeschule Potsdam-Eiche wurde der Agitationsschaukasten beschädigt, das Lenin-Bild entfernt und auf die Straße geworfen.

Anbringen von feindlichen Losungen: Am 24.1.1954 wurde im RAW Cottbus am Eingang des Kesselhauses ein 10 cm großer Totenkopf angemalt und im Waschraum das Wort »RIAS« in die Wand eingeritzt.

Desinformation: Im Objekt Tannenbergsthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, kam ein fingierter Anruf, dass am 24.1.1954 nicht gearbeitet wird. Täter konnte nicht ermittelt werden.

Vermutliche Feindtätigkeit

Gerüchte: Bei den Grenzkommandanturen Weitisberga und Brennersgrün, [Bezirk] Gera, wird von westlicher Seite aus das Gerücht verbreitet, dass die Grenze wieder geöffnet sei.

Der Kreisausschuss der Nationalen Front40 Berlin-Mitte machte Mitteilung, dass das Ostbüro der SPD beabsichtige, am 25.1.1954 um 9.30 Uhr in den Produktionsbetrieben eine drei Minuten lange Arbeitsruhe durchzuführen.41 Die Arbeitsruhe soll in Betrieben des demokratischen Sektors durch Sirenengeheul ausgelöst werden. Eine Demonstration ist ebenfalls geplant (unüberprüfte Meldung).42

Stimmen aus Westberlin

Zur Viermächtekonferenz: 1. Kreissekretär der SPD Wedding: »Sämtliche Veranstaltungen und Versammlungen und Demonstrationen sind bis auf Weiteres verschoben, auch die der CDU. Was aber die Kampfgruppe43 und die Flüchtlingsorganisation44 tun wird, weiß ich nicht. Diese sind parteipolitisch nicht gebunden. Wir behalten uns vor, zu einer machtvollen Freiheitskundgebung mit dem Senat und allen Organisationen aufzurufen, wenn die Konferenz platzt. Die Konferenz wird platzen, weil die Russen an den Potsdamer Beschlüssen festhalten.45 Wir lassen uns nicht darauf ein. Die Oder-Neiße-Linie muss revidiert werden. Der Tag wird kommen, wo sich Berlin zu einer machtvollen Kampfdemonstration zusammenfinden wird. Uns stehen noch schwere Tage bevor, aber wir werden die Einheit Berlins schaffen.«

Ein Lebensmittelhändler aus Berlin N 65:46 »Erst müssten einmal freie Wahlen in freier Wirtschaft sein. Die Pankower Regierung47 müsste die volkseigenen Betriebe ihren Besitzern zurückgeben. Damit würde sie erst einmal den guten Willen zeigen.«

Einschätzung der Situation

Die Lage hat sich gegenüber den Vortagen nicht verändert.

  1. Zum nächsten Dokument Zur Beurteilung der Situation

    25. Januar 1954
    Informationsdienst Nr. 2084 zur Beurteilung der Situation

  2. Zum vorherigen Dokument Zur Beurteilung der Situation

    24. Januar 1954
    Informationsdienst Nr. 2082 zur Beurteilung der Situation