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Zur Beurteilung der Situation

25. Januar 1954
Informationsdienst Nr. 2084 zur Beurteilung der Situation

Die Stimmung in den Bezirken der DDR

Veränderungen in der Stimmung sind nicht festgestellt worden. Zu Arbeitsniederlegungen kam es nicht,1 lediglich wurde von den Bahnhöfen Burg, [Bezirk] Magdeburg, und Aschersleben, [Bezirk] Halle, bekannt, dass einige negative Elemente unter dem Bahnpersonal Versuche unternahmen, die jedoch nicht zur Durchführung kamen.

Die Stimmung im demokratischen Sektor von Berlin

Auch hier sind keine Veränderungen in der Stimmung der Bevölkerung festgestellt worden. Zu Arbeitsniederlegungen kam es nur vereinzelt in einigen Abteilungen von Betrieben.2 In der Abteilung Werkzeugbau des VEB Wälzlagerfabrik Lichtenberg fiel um 9.30 Uhr angeblich wegen eines Defektes der Strom aus. Dadurch konnte die Abteilung vorübergehend nicht arbeiten. Im RAW Schöneweide3 führten zwei Arbeiter an der Schiebebühne die sogenannten Schweigeminuten aus. Im Trafo-Werk Oberschöneweide4 (Transformatorenwerk) wurde um 9.30 Uhr im Konstruktionsbüro das Licht ausgelöscht und die Arbeit von den dort beschäftigten 20 Personen eingestellt.

In der 3. Oberschule in Weißensee wurde in der Klasse 9 auf Anweisung der Lehrerin eine sogenannte Gedenkminute durch Erheben von den Plätzen durchgeführt.5 Einige FDJler machten die Lehrerin darauf aufmerksam, dass dies nicht richtig gewesen sei.6

An den Durchfahrtsstraßen der sowjetischen Delegation im demokratischen Sektor befand sich wenig Publikum.

Weitere Beispiele von Schweigeminuten:

Um 9.26 Uhr gab der Stadtfunk in der Stalinallee,7 der im Klubhaus der Bauarbeiter stationiert ist, bekannt: »Wir lassen jetzt eine Sendepause eintreten und kommen um 9.35 Uhr wieder.« Die Berliner Handelszentrale Spirituosen in Treptow wurde um 8.00 Uhr angerufen, angeblich von der übergeordneten Dienststelle, dass um 9.30 Uhr die Arbeit eingestellt werden soll. Sofortige Überprüfung ergab, dass der Anruf fingiert war. Die Arbeitsruhe wurde nicht durchgeführt.

Vereinzelt wurden Stimmen bekannt, die die Absperrmaßnahmen kritisieren.

Im VEB Tiefbau Chausseestraße8 verbreitete ein ehemaliges NSDAP-Mitglied, es sei großer Quatsch, dass die Straße Unter den Linden gesperrt ist, die Außenminister brauchen doch keine Angst zu haben.9

In einem Lokal in Friedrichshain sagte der Wirt: »Die geben ja ganz schön an. Die Stalinallee ist abgesperrt, an jedem U-Bahneingang stehen Posten. Das Café »Warschau«10 wird man bestimmt auch noch absperren, denn die haben doch Angst hier, dass die Ausländer mit der Bevölkerung zusammenkommen und die wahre Meinung hören.«

Stimmung in Westberlin

Die Schweigeminuten wurden nur teilweise durchgeführt. Der Reichsbahn und S-Bahnverkehr verlief ohne Aufenthalt.11 In den Bezirken Schöneberg und Wilmersdorf waren die Geschäfte nur teilweise geschlossen. Einige Fahrzeuge wurden durch Provokateure an der Weiterfahrt gehindert. In der Nähe des Kontrollratsgebäudes wurde um 9.30 Uhr der Verkehr durch Stummpolizisten12 drei Minuten unterbrochen. Die Passanten verhielten sich dazu völlig teilnahmslos. Am Bahnhof Zoo wurde eine Straßenbahn und einige Fahrzeuge durch Stummpolizisten an der Weiterfahrt gehindert. Währenddessen fuhren aber andere Fahrzeuge unbekümmert weiter. Am U-Bahnhof Seestraße hielten nur die Fahrzeuge der BVG,13 während alle anderen Fahrzeuge weiterfuhren. Am S-Bahnhof Spandau West blieb nur die Straßenbahn stehen, die Fahrgäste empörten sich darüber. Die Geschäfte in der Umgebung des Bahnhofes waren nicht geschlossen, Taxis und andere Autos fuhren weiter.

Gegen 14.30 Uhr passierte die sowjetische Delegation die Sektorengrenze14 und befuhr die Potsdamer Straße in Richtung Kontrollratsgebäude. An beiden Seiten der Potsdamer Straße hatte sich viel Publikum angesammelt, das sich jedoch diszipliniert verhielt.15 Lediglich Fotografen und Reporter waren enttäuscht, weil die Fahrzeuge nicht anhielten, da sie Aufnahmen machen wollten. Auch bei der Durchfahrt der westlichen Delegationen verhielt sich das Publikum in der Potsdamer Straße passiv. An der Pallas- und Goebenstraße wurde die sowjetische Delegation von dort versammelten Arbeitern mit Bravorufen begrüßt. Verschiedentlich wurde geäußert, »hoffentlich bringt uns die Viermächtekonferenz eine Erleichterung in der gespaltenen Lage Berlins und Deutschlands«. Beim Passieren der westlichen Delegationen verhielt sich das dortige Publikum vollkommen ruhig und passiv. An der Brunnen- Ecke Bernauer Straße standen größere Diskussionsgruppen. Das Vorbeifahren eines sowjetischen Panzerspähwagens wurde in Diskussionen mit der Bemerkung quittiert: »Anlässlich der Viererkonferenz kann es ja wieder zu Provokationen von den Westmächten kommen.«

Als am 22.1.[1954] kurz nach 12.00 Uhr Außenminister Dulles16 in Begleitung von fünf Panzerwagen den Flughafen Tempelhof verließ, gab es Missfallensäußerungen unter der Bevölkerung. Am Hause der Agentenzentrale »Venedig« in Berlin-Lichterfelde West, Enzianstraße, wurde starker Schutz festgestellt. Stündlich werden drei Personen abgelöst. Wie bekannt wurde, hat Außenminister Dulles in Berlin-Dahlem, Miquelstraße, in einer Villa Quartier bezogen,17 Bidault18 wohnt in Waidmannslust, Dianastraße,19 Eden20 vermutlich in Grunewald.21

Feindtätigkeit

Flugblätter: Verstärkt im Bezirk Leipzig besonders Kreis Grimma (SPD-Ostbüro).22 Weniger im Bezirk Potsdam und Frankfurt/Oder (KgU23 und NTS24) und Magdeburg (SPD-Ostbüro).

Terror: In Brieselang, Kreis Nauen, [Bezirk] Potsdam, entstand ein Brand in der Wohnlaube des Ministers Benjamin25 und war auf dem Grundstück ein Galgen errichtet.

Diversion: Am 23.1.1954 wurde auf dem Güterbahnhof Blankenburg, [Bezirk] Magdeburg, hinter einem Prellbock ein kleiner Stromverteiler zerschlagen, wodurch ein Einfahrtssignal lahmgelegt wurde.

Am 24.1.1954 wurden von zwei Jugendlichen vor der HO-Gaststätte »Orangerie« in Neustrelitz, [Bezirk] Neubrandenburg, zwei Fahnen heruntergerissen und in den Schmutz getreten.

In Hohenerxleben, [Bezirk] Magdeburg, wird unter der Bevölkerung ein Gerücht verbreitet, dass niemand ab 18.00 Uhr die Straße betreten darf, da der Belagerungszustand bestehe.

In Stockhausen und im Kalischacht »Glückauf« in Sondershausen, Bezirk Erfurt, wurden Plakate mit der Aufschrift: »Vorsicht RIAS Gift« in größeren Mengen abgerissen bzw. abgebrannt.

Der Konsumverband in Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt, hat Plakate in Druck und herausgegeben, in denen unter den Vorschlägen der SU zur Viermächtekonferenz u. a. freie Wahlen gefordert werden.26

Entlang der Demarkationslinie bei den Orten Hohengandern, Kirchgandern, Asbach und Sickenberg,27 [Bezirk] Erfurt, ist eine verstärkte Streifentätigkeit vonseiten des Westens durch Zöllner festzustellen.

Im Dorf Sickenberg, Kreis Heiligenstadt, wurde gestern Abend die VP-Streife folgendermaßen angerufen: »Na ihr Kommunistenschweine, wartet nur, in kurzer Zeit wird es sowieso anders.«

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