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Zur Beurteilung der Situation

16. August 1954
Informationsdienst Nr. 2288 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Die Diskussionen über politische Tagesfragen sind weiterhin gering. Oft erfolgen Diskussionen nur infolge Versammlungen oder durch Befragen der Kollegen. Im Vordergrund der Diskussionen steht die Streikbewegung in Westdeutschland.1 Oft erklären sich die Arbeiter, etwas weniger Angestellte, mit den Streikenden solidarisch und unterstützen sie in ihrem Kampf durch Geldspenden. Man bringt dabei zum Ausdruck, dass die Streiks eine Bestätigung für die schlechte wirtschaftliche Lage in Westdeutschland sind. Nur ganz vereinzelt wird von fortschrittlichen Arbeitern in diesem Zusammenhang der Sturz der Adenauer-Regierung2 gefordert.

Die negativen Diskussionen sind im Verhältnis zu den positiven weiterhin gering. Hierin wird meist eine Unterstützung der Streikenden abgelehnt, da ihre Lebenslage noch besser sei als die der Werktätigen in der DDR. Ein Kollege aus der Lederfabrik Hirschberg, [Bezirk] Gera: »Die im Westen streiken und denen geht es doch viel besser als uns.« Eine ähnliche Meinung vertrat eine Kollegin aus der Druckerei des Karl-Marx-Werkes Magdeburg, die vor kurzer Zeit aus der SED ausgeschlossen wurde. Einige Arbeiter aus dem Fischkombinat Rostock: »Die im Westen streiken und essen trotzdem Butter und wir arbeiten und haben Margarine auf dem Brot.«

In diesem Zusammenhang erklären einzelne feindliche Elemente, dass man in der DDR nicht streiken dürfe.3 Ein parteiloser Kollege aus dem VEB Werkzeugmaschinenfabrik Zeulenroda, [Bezirk] Gera: »Wir können hier in der DDR auch nicht streiken und sind über viele Dinge, vor allem über die Preise, auch nicht zufrieden.« (Dieser Kollege verdient zusammen mit seiner Frau monatlich DM 800.) Ähnlich äußerte sich ein parteiloser Tischlergeselle aus Aue.

Zur bevorstehenden Volkskammerwahl ist der Umfang der Diskussionen noch ganz gering.4 Oft schenkt man den Vorbereitungen noch wenig Beachtung, was folgende Beispiele zeigen: Ein Arbeiter aus Olbernhau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich habe mir bisher über die Volkswahl überhaupt noch keine Gedanken gemacht und kümmere mich auch nicht darum. Mich interessiert nur, wann die Besatzungsmächte endlich mal aus Deutschland abziehen.«

Im VEB Strumpfwarenfabrik Heiligenstadt, [Bezirk] Erfurt, ist unter den Werktätigen noch keine Aufklärungsarbeit zu den Volkskammerwahlen geleistet worden.

Vereinzelt spricht man sich in positiven Stimmen für die einheitliche Kandidatenliste aus und versichert, dass die Wahlen den Friedenswillen des deutschen Volkes beweisen werden.5

Die Kollegen der Werkstatt des Kalischachtes »Glückauf« in Sondershausen, [Bezirk] Erfurt, sind der Meinung: »Unsere Politik ist richtig. Zu den Volkswahlen werden wir beweisen, dass wir alle hinter der Regierung stehen und das deutsche Volk für den Frieden ist.«

In einzelnen negativen Meinungen tritt man für Parteiwahlen ein. Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Blechwalzwerk Olbernhau: »Ich finde es nicht richtig, dass sämtliche Blockparteien auf eine gemeinsame Kandidatenliste kommen. Nach meiner Meinung müsste den breiten Massen gezeigt werden, welche Partei die stärkste ist.«

Ein parteiloser Stricker aus dem VEB Strumpfwarenfabrik Heiligenstadt: »Warum gemeinsame Liste? In Westdeutschland ist man bei jeder Wahl für Parteiwahlen. Übrigens ist die Regierung der DDR gar nicht gewählt.«

Mehrfach wird von Arbeitern bemängelt, dass ihr Lohn zu niedrig und dies ein Zeichen der »schlechten wirtschaftlichen Lage der DDR« sei.

In einigen volkseigenen Betrieben des Kreises Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, ist die Mehrzahl der Arbeiter über ihre wirtschaftliche Lage unzufrieden. Ein Arbeiter aus dem VEB Feinprüf Schmalkalden äußerte: »Mir kommt es vor, als würde man wieder mal nicht aufpassen, sonst wären in der letzten Zeit die Arbeiter über ihre wirtschaftliche Lage nicht so unzufrieden. Es hat keinen Zweck viel zu reden, sondern man muss den Arbeitern beweisen, dass es bei uns aufwärtsgeht und nicht, dass die Verkaufsstellen immer leerer werden.«

Ein Arbeiter aus Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es ist alles schön und gut, aber wir in den blechverarbeitenden Betrieben verdienen zu wenig. Daher ist unter den Arbeitern auch eine schlechte Stimmung vorhanden.«

Vereinzelt nutzt man solche Diskussionen für hetzerische Äußerungen aus. Ein Arbeiter von der Baufirma Adler in Schwarzenberg:6 »Wir werden ja alle ausgebeutet und verraten. Das sieht man am allerbesten an den alten Leuten, die ja nur einen Notpfennig bekommen.«

Ein Kollege von der Abteilung Ausschneiderei beim VEB Fleisch- und Fettverarbeitung, Berlin-Weißensee, äußerte gegenüber anderen Kollegen: »Wir werden erst dann höhere Löhne erhalten, wenn alle Arbeiter geschlossen die Arbeit niederlegen und zum Rathaus marschieren werden.«

In einigen Betrieben kam es zu Missstimmungen wegen verschiedener Betriebsfragen.

Im Gummiwerk Elbe, Kreis Wittenberg,7 [Bezirk] Halle, kann wegen mangelhafter Arbeitsorganisation die Tagesnorm nicht immer erfüllt werden, wodurch die Löhne geringer sind. Darüber besteht Missstimmung unter den Kollegen.

Im VEB Kalikombinat »Ernst Thälmann« in Merkers, [Bezirk] Suhl, fordern unberechtigterweise die Kraftfahrer unter Tage die Auszahlung der Planerfüllungsprämien. (Der Plan wurde nicht erfüllt.) Die Kraftfahrer drohen bei Nichtzahlung mit Kündigung.

In der Peene-Werft Wolgast, [Bezirk] Rostock, sind die E-Schweißer darüber unzufrieden, dass die Lüftungsanlagen der Schweißerei unzureichend sind, wodurch die Krankenziffer ständig steigt. Dieser Zustand wurde bereits seit längerer Zeit bemängelt, jedoch nicht abgestellt.

Über den zu langen Weg zur Arbeitsstelle sind die Kumpels vom Wismut-Schacht 298 unzufrieden, die jetzt im Schacht 78 in Annaberg arbeiten (Schacht 29 wurde eingestellt). Bis zu ihrer Arbeitsstelle müssen sie fast eine Stunde unter Tage laufen.

Im VEB Schachtbau Doberlug-Kirchhain,9 [Bezirk] Cottbus, mangelt es durch die schlechte Planung des Schachtleiters beim Bau eines Dammfundamentes auf der 407-Metersohle an Materialien. Dadurch kann nicht tiefer gebohrt werden, worüber die Kumpels missgestimmt sind.

Produktionsschwierigkeiten wegen Material- und Arbeitskräftemangel und schlechter Qualität

Im VEB Werk Magnesit Aken, Kreis Köthen, [Bezirk] Halle, ist das Energiebauprogramm gefährdet, da 20 000 Schrauben vom VEB Feuerungs- und Behälterbau Köthen fehlen.

In der Peene-Werft Wolgast kommt es immer wieder zu Produktionsstockungen, da die Zulieferbetriebe mangelhaft arbeiten.

Bei der volkseigenen Reparaturwerkstatt Greifswald, [Bezirk] Rostock, fehlen Ersatzteile für EMW-Motorräder.10

Im RAW Greifswald mangelt es an Material (besonders Eisen und Schrauben). Dadurch werden Schwierigkeiten in der Warenbereitstellung auftreten.

Im VEB Maschinenwerk Wittenberge,11 [Bezirk] Schwerin, mangelt es immer noch an verschiedenen Drehstahlarten. Außerdem fehlen dem Betrieb Arbeitskräfte.

Die Brikettfabrik Völpke aus Oschersleben, [Bezirk] Magdeburg, bekommt derartig sandige Rohkohle von der Grube Nachterstedt geliefert, dass sie keine Qualitätsbriketts erzeugen kann. Der jetzige Aschegehalt beträgt 26 Prozent (normal 8–10 Prozent), wodurch die Briketts den Betrieben oder der Bevölkerung nicht angeboten werden können.

Produktionsstörung: Im Braunkohlenwerk »John Schehr« [Laubusch], [Bezirk] Cottbus, fiel am 13.8.1954 infolge Wellenbruchs das Nasspresshaus aus. Produktionsausfall 233 t Briketts.

Handel und Versorgung

Örtliche Mängel in der Warenbereitstellung zeigten sich in nachstehenden Bezirken an folgenden Waren.

Im Bezirk Schwerin: billige Zigaretten, Frisch- und Gefrierfleisch, sämtliche Stärkeerzeugnisse (Kindernährmittel). Im Kreis Perleberg wurden im Juli nur 50 Prozent Margarine des Quartalskontingents verkauft. Im gesamten Bezirk fehlt es an Käse und Margarine.

Im Bezirk Suhl: billige Zigaretten, Kraftstoff (Benzin) und Reifen.

Im Bezirk Neubrandenburg: Nährmittel, Fleisch und Fleischkonserven.

In Plönen,12 [Bezirk] Schwerin, ist die Butterverteilung auf Marken sehr schlecht.

Bezirk Dresden: Durch die schlechte Benzinversorgung ist die Frühkartoffelbelieferung mangelhaft.

Bezirk Erfurt: Die schlechte Belieferung mit Fisch durch die DHZ Mühlhausen an den Kreis Langensalza, [Bezirk] Erfurt, wird von den Privatunternehmen ausgenutzt, indem diese den überschüssigen Fisch in Döllstedt aufkaufen und mit einem Aufschlag in Langensalza weiterverkaufen.13

Schwerin: Hamstereinkäufe durch die zeitweise auftretenden Engpässe in der Zigarettenbelieferung (billige Sorten). In den Kreisen Parchim, Lübz und Bützow wurden in Gadebusch Hamstereinkäufe in Zigaretten festgestellt.

Halle: Ein verstärkter Ankauf von Roggenbrot und Haferflocken ist festzustellen, vermutlich für Futterzwecke.

Leipzig: Bei der Bilanzabrechnung wurde im Konsum Eilenburg, [Bezirk] Leipzig, ein Defizit von 100 000 DM festgestellt, wodurch die Rückzahlung der Mitgliederprozente infrage gestellt ist.

Landwirtschaft

Über politische Tagesfragen wird von der Landbevölkerung wenig gesprochen. Lediglich über die Pressekonferenz mit Dr. John14 und zur Volkskammerwahl wird vereinzelt diskutiert.

Bei den Rechenschaftslegungen der Volkskammerabgeordneten werden kaum negative Diskussionen politischer Art,15 dafür aber Diskussionen in wirtschaftlicher Beziehung in überwiegendem Maße geführt. Dabei werden die verschiedensten Mängel aufgezählt, wie die schlechte Belieferung mit Lebensmitteln, Textilien und Industriewaren. Das Fehlen von Ersatzteilen für landwirtschaftliche Maschinen und Traktoren, ferner über die Leistungen der Sozialversicherungskassen, die […]16 Bauern vom Krankengeld ausschließen, über die Wildschweinplage und andere örtliche Belange.

Oft beeinflussen Groß- und Mittelbauern diese Versammlungen und fordern die »freie Wirtschaft«. So sagte ein ehemaliger Bürgermeister aus Kummerow, [Bezirk] Schwerin,17 z. B.: »Was nützen uns freie Wahlen, wir wollen frei wirtschaften und keinen deutschen Kommunismus.«

Ein Bauer aus Saupersdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, sagte: »Ich bin und bleibe unpolitisch, für mich steht nur meine bäuerliche Frage im Vordergrund. Ihr wollt nur die gesamten Bauern ausrotten und nach eurer Art MTS und LPG in die Dörfer setzen.«

Wirtschaftliche Fragen stehen nach wie vor im Vordergrund der Diskussionen unter der Landbevölkerung.

In der Gemeinde Stülpe, [Bezirk] Potsdam, beschwerten sich zehn Kleinbauern, dass die MTS Lüdersdorf ihre Verträge nicht einhält und sie dadurch in Abhängigkeit der Großbauern kommen, weil sie ihre Maschinen benutzen müssen.

Im Kreis Bützow, [Bezirk] Schwerin, beschweren sich Mittelbauern über die Arbeit des Referats Landwirtschaft im Kreis, das ihnen keine landwirtschaftlichen Geräte liefert, weil die Mittel dafür 14 000 DM vor längerer Zeit schon verausgabt wurden. Es liegen dort über 100 Anträge von Mittelbauern für landwirtschaftliche Geräte aller Art vor.

In vielen Kreisen des Bezirkes Suhl werden negative Diskussionen über die Wildschweinplage geführt. Der Regierung wird vorgeworfen, dass sie nichts dagegen unternimmt; die eingesetzten Jagdkommandos seien angeblich viel zu gering. Die Bauern fordern mehr Jagdkommandos, um dieser Plage ein Ende zu bereiten.18

Der erste Einsatz des Stalinetz 419 auf den Feldern des örtlichen landwirtschaftlichen Betriebes Gädebohm,20 [Bezirk] Neubrandenburg, wurde für die Bauern des Ortes zu einem Erlebnis, das sie sich nicht entgehen ließen. Die Bauern begrüßten es und sprachen ihre Anerkennung über die saubere Arbeit dieses Gerätes, das uns die SU liefert, aus. Ein Bauer, dessen Getreide in wenigen Stunden gemäht und gedroschen wurde, sagte: »Diese Einrichtung ist eine gute Sache, sie erleichtert uns die Arbeit und das verdanken wir den sowjetischen Freunden.«

Im Kreis Karstädt,21 [Bezirk] Schwerin, ist der Nachtdrusch wegen Kräftemangel, wegen schlechter Organisation und wegen Weigerung der Großbauern erst zu 47 Prozent erfolgt.22

Die Großbauern sagen, dass man sie bei den Bezugscheinen nicht berücksichtigt, aber für das Ablieferungssoll da sollen sie geradestehen, oder man könne nicht verlangen, dass sie Tag und Nacht arbeiten.

Materialschwierigkeiten und Mangel an Ersatzteilen, die zur Verzögerung der Ernte und zur Verärgerung der Bauern führen, bestehen nach wie vor im Bezirk Magdeburg und im Bezirk Neubrandenburg. In der MTS Warnitz, [Bezirk] Neubrandenburg, z. B. fehlen Treckerreifen. Nach Aussagen eines Brigadiers der MTS hat die DHZ sowie die Bezirks-MTS genügend Decken und Schläuche, die nicht freigegeben werden. Am 5.8.1954 sind dort vier Traktoren wegen Reifenschäden ausgefallen.

In der MTS Zettemin, [Bezirk] Neubrandenburg, fehlen Faserklemmer, Knöpferwannen und Knotenapparate und in der MTS Altentreptow Holzschrauben und Bandeisen.

Übrige Bevölkerung

Die Anteilnahme der übrigen Bevölkerungsschichten an dem politischen Geschehen ist weiterhin verhältnismäßig gering. Über politische Tagesfragen wie z. B. über die Pressekonferenz mit Dr. John, Volkskammerwahlen oder die Streikbewegung in Westdeutschland wird wenig diskutiert. Meist fortschrittliche Kräfte nehmen zur bevorstehenden Volkskammerwahl Stellung und bringen zum Ausdruck, dass sie für die Kandidaten der Nationalen Front stimmen werden.23 Des Weiteren, dass die Volkswahlen 1954 mehr noch als frühere Wahlen ihrem demokratischen Charakter nach für die Einheit Deutschlands wirken werden.

Die negativen Argumente meist kleinbürgerlicher Kreise richten sich vorwiegend gegen die Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste, dabei werden oft Vergleiche mit der Weimarer Zeit angestellt. So sagte z. B. eine Angestellte vom Rat des Kreises Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt: »Die Volkswahlen sind niemals freie Wahlen, da ja nur eine Wählerliste ausliegt. Wogegen in der Weimarer Zeit jede Partei ihre Liste hatte. Man kann eben heute nicht frei entscheiden, wen man gern in der Regierung hätte.«

Ein Arzt aus dem Kreis Bischofswerda, [Bezirk] Dresden: »Hört auf mit euren Wahlen. Auch die von 1950 waren keine Wahlen.24 Wenn ich an frühere denke, wo jeder seine Partei wählen konnte, da konnte man von wirklichen Wahlen sprechen.«

Verschiedentlich kommt bei Mitgliedern der bürgerlichen Parteien ihre feindliche Einstellung gegenüber der SED zum Ausdruck: So sagte z. B. ein Mitglied der NDPD in Plauen: »Ich bin mit der Einheitsliste nicht einverstanden. Es müssen Parteien und Kandidaten gewählt werden können. Der durch die Einheitsliste zum Ausdruck kommende Wille ist nur Schein. In Wirklichkeit hat es doch nur die SED angeordnet.«

Verschiedentlich wird zur Streikbewegung in Westdeutschland überwiegend positiv Stellung genommen. So erklärte z. B. ein Zigarrenhändler aus Beierfeld, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Arbeiter in Westdeutschland streiken berechtigt, dies sagte auch Adenauer in seiner Rede.25 Man soll doch den Arbeitern den Groschen zulegen, von den Privatunternehmern wird aber diese Forderung immer wieder abgelehnt.«

Ein Tischler (parteilos) aus Gielow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die Streiks stärken meinen Glauben, dass es drüben nicht so aussieht, wie es im Rundfunk erzählt wird. Wenn die Arbeiter drüben laufend streiken, können sie nicht mit ihrem Leben drüben zufrieden sein, obgleich sie in den Berichten von guten Verhältnissen erzählen, werden es nur die Herren sein, denen es gut geht.«

Die Menschen, welche glauben, dass in Westdeutschland bessere Lebensbedingungen für die Werktätigen bestehen als in der DDR, stehen den Streiks zum Teil verständnislos gegenüber. So äußerte z. B. eine Hausfrau aus Bützow, [Bezirk] Schwerin: »Ich verstehe nicht, wieso die Arbeiter drüben streiken, sie bekommen doch schon alles billiger als wir.«

Die verschiedenen oft nur örtlich auftretenden Mängel im Handel sind vielfach Ursache für Missstimmungen unter der Bevölkerung, wie aus nachstehenden Beispielen zu ersehen ist. In Gera beschwert sich die Bevölkerung über die schlechte Verpackung von Waren. Die HO Wismut26 erhält viel zu wenig Verpackungsmaterial. (Über diesen Mangel beklagen sich auch die sowjetischen Freunde, die dort einkaufen.)

Im gesamten Kreis Eisleben besteht eine Missstimmung darüber, dass zzt. nur Hammelfleisch zum Verkauf gelangt. Viele Hausfrauen sagen, dass sie lieber die Marken verfallen lassen, aber Hammelfleisch kaufen sie nicht. (Bei dem Hammelfleisch handelt es sich um Exportware aus Volkspolen.)

Die Belieferung mit Fischwaren ist im Kreis Langensalza, [Bezirk] Erfurt, schlecht. Darüber sind die Bewohner verärgert, weil in den Nachbarorten reichlich Fisch vorhanden ist. Die Privatleute nützen diese Gelegenheit, kaufen diese Ware in Döllstedt (Nachbarort) und verkaufen sie in Langensalza mit einem Aufschlag weiter.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:27 Gera 2 500, Karl-Marx-Stadt 1 130, Potsdam 10 000, Rostock 50, Halle 90.

KgU:28 Neubrandenburg 5 000.

DGB-Ostbüro: Karl-Marx-Stadt 300.

UFJ:29 Karl-Marx-Stadt 206, Potsdam 150.

NTS:30 Schwerin 10 000.

Versch[iedener] Art: Potsdam 9 000, Dresden 180.

Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt und gelangten nicht in die Hände der Bevölkerung.

Antidemokratische Tätigkeit: In Erfurt wurden sechs handgeschriebene Hetzzettel in Postbriefkästen geworfen, die zum Streik wegen zu hoher HO-Preise aufrufen.

In Sonneberg, [Bezirk] Suhl, und im VEB Waggonbau Niesky, [Bezirk] Dresden, wurden Hakenkreuze angeschmiert.

Diversionen: Im VEB Buntweberei und Färberei Neugersdorf, Kreis Löbau, [Bezirk] Dresden, wurde an einem Webstuhl die Kette einige Zentimeter mit einer Schere durchschnitten.

Vermutliche Feindtätigkeit

In der letzten Zeit ist auf der Baustelle Block 108–114 (VEB Hochbau) in Berlin festgestellt worden, dass während der Nachtschichten Hexen31 und Mischer entzweigegangen sind, so z. B. in der Nacht vom 5. zum 6.8.1954 zwei Hexen und ein Mischer. Ein Brigadier berichtete, dass vor 14 Tagen während der Nachtstunden von einem Wasserschlauch das Anschlussstück abgeschnitten worden ist.

Anlage vom 16. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2288

Stimmen zu den Ausführungen Dr. Johns auf der Pressekonferenz

Die Diskussionen über die Ausführungen Dr. Johns auf der Pressekonferenz haben unter allen Schichten der Bevölkerung nur einen geringen Umfang. Die bekannt gewordenen Stimmen sind überwiegend positiv. Darin wird zum Ausdruck gebracht, dass die Äußerungen Dr. Johns ein schwerer Schlag für die Adenauer-Regierung sind. Und weiterhin habe die Pressekonferenz eindeutig gezeigt, dass Dr. John freiwillig in die DDR gekommen ist und dass somit die Lügenmeldungen der Westpresse geplatzt sind.32 So sagte z. B. ein Arbeiter aus Lobenstein, [Bezirk] Gera: »Die Schritte von Dr. John sind mir verständlich. Nachdem er in Amerika gewesen ist und die wahre Politik der USA als Präsident des Verfassungsschutzamtes kennengelernt hat. Die westliche Zeitungspropaganda, wonach er entführt worden sein soll, sehe ich als plumpe Lüge an und durch die Pressekonferenz dürfte sie geplatzt sein.«

Ein Angestellter von der DHZ Metallurgie Leipzig: »Der Übertritt Dr. Johns und vor allem die Pressekonferenz sind bisher die schwersten Schläge für die Adenauer-Clique und sie werden sich noch weiter auswirken.«

Eine Angestellte aus dem Albert-Kuntz-Kombinat Wurzen, [Bezirk] Leipzig: »Die Pressekonferenz ist ein gewaltiger Schlag gegen die Adenauer-Regierung und sie wird wesentlich dazu beitragen, die Verständigung zwischen Ost und West herzustellen. Die Ausführungen Dr. Johns über die Geheimklauseln des EVG sind von großer Bedeutung in unserem Kampf.«33

Ein TAN-Sachbearbeiter34 (parteilos) vom VEB Blema in Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Ich war erst immer der Meinung, dass unsere Zeitungen etwas zu negativ über die Verhältnisse in Westdeutschland und über die EVG berichteten. Nachdem aber Dr. John, welcher als eine führende Persönlichkeit in Westdeutschland galt, auf der Pressekonferenz klar zu diesen Verhältnissen Stellung nahm, wurde ich eines anderen belehrt.«

Ein Monteur aus dem VEB Zellstoffwerk Pirna, [Bezirk] Dresden: »Der Artikel von Dr. John im ›ND‹ ist prima und hat allen Kollegen die Wahrheit über Adenauers Spiel gesagt.«35

Ein Jugendlicher aus dem Stahlwerk Frankleben, [Bezirk] Halle: »Ich habe durch die Ausführungen Dr. Johns erkannt, dass die Politik in Westdeutschland nicht die Wiedervereinigung Deutschlands zum Inhalt hat. Ich begrüße deshalb die Erklärung Dr. Johns und glaube, dass wir dadurch der Einheit Deutschlands wieder einen Schritt nähergekommen sind.«

Ein Arbeiter aus Großenhain, [Bezirk] Dresden: »Durch die Pressekonferenz wurde der Adenauer-Regierung ein weiterer Schlag versetzt. Ich bin aber der Meinung, dass man trotzdem mit solchen Leuten vorsichtig sein muss, es kann ja sein, dass diese Personen nach hier geschickt werden, um hier Spionage zu treiben.«

Der Leiter des Instituts für Pflanzenforschung aus Quedlinburg,36 [Bezirk] Halle: »Ich bin überzeugt, dass Dr. John ohne Zwang die Pressekonferenz gegeben hat. Das zeigten seine Antworten, die sofort gegeben wurden. Adenauer führt laufend Besprechungen, mit dem Ziel, die wahren Gründe des Schrittes Dr. Johns zu verwischen.«

Ein Berufsschullehrer aus dem Kreis Lobenstein, [Bezirk] Gera: »Ich war vor Kurzem in Westberlin und habe in den Zeitungen, die ich mir besorgte, die unmöglichsten Dinge über John gelesen. Die Pressekonferenz hat aber eindeutig gezeigt, dass John aus Überzeugung zu uns gekommen ist.«

Ein Rentner aus Suhl: »Dr. Adenauer hat schon geglaubt, seine Bäume wachsen in den Himmel. Die Flucht von Dr. John muss deshalb wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewirkt haben. Seine Ausführungen auf der Pressekonferenz haben allen guten Aufschluss gegeben.«

Nur vereinzelt wurden negative Stimmen bzw. feindliche Äußerungen bekannt. Dabei wird zum Ausdruck gebracht, dass die Personen die Aufnahme Dr. Johns in der DDR verurteilen, da sie ihn als Verräter betrachten. So erklärte z. B. ein Einwohner aus Brück, [Bezirk] Potsdam: »Dr. John konnte sich im Westen nicht mehr halten, da er etwas bei der Adenauer-Regierung ausgefressen hat. Auch von der DDR flüchten diejenigen Personen nach dem Westen, die sich wegen vergangener Verbrechen nicht mehr halten können. Genauso verhält es sich mit Dr. John.«

Ein Neubauer aus Folbern, [Bezirk] Dresden: »Ich kann nicht begreifen, dass man solche Menschen wie den John aufnimmt und rumlaufen lässt. Er hat doch bis jetzt nur gegen uns gehetzt und gearbeitet.«

Ein Angestellter aus Bad Freienwalde, [Bezirk] Frankfurt: »Unsere sollten erst einmal ihre Spione und Agenten aus Westdeutschland zurückziehen und nicht so viel Besprechungen und Konferenzen über die Agenten Westdeutschlands machen.«

Ein Bauer aus Hobeck, [Bezirk] Magdeburg: »Unsere sollen lieber den Mund halten und sollen uns erzählen, wie viele von uns nach drüben gehen. Von Dr. John halte ich nichts, denn es kommen doch nur Verbrecher von drüben nach hier.«

Der Planungsleiter im VEB Kalichemie Berlin: »Ich möchte gern das Geld haben, was die ›Stasi‹ dem Dr. John für seinen Verrat gezahlt hat.« Ein Kollege des gleichen Betriebes: »Für solche Zwecke wird nun das Geld unserer Steuerzahler hinausgeworfen.«

Aus Westberlin liegen nur eine positive und eine negative Stimme vor. So äußerte z. B. eine Westberliner Kollegin aus dem VEB Kalichemie: »Die Enthüllungen Dr. Johns sind den Faschisten ganz schön auf den Magen gegangen.«

Ein Richter vom Amtsgericht Charlottenburg erklärte: »Nachdem Dr. John nach seinen eigenen Angaben freiwillig in die DDR gegangen ist, hat er meiner Meinung nach Landesverrat begangen.«

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