Zur Beurteilung der Situation
28. Januar 1954
Informationsdienst Nr. 2090 zur Beurteilung der Situation
Die Stimmung der Bevölkerung in der DDR
Neue Erscheinungen und Argumente sind in der Stimmung nicht festgestellt worden.
Zu den sogenannten Schweigeminuten1 sind noch einige Beispiele bekannt geworden. In der Bürstenfabrik Halle kursierte an dem betreffenden Tage eine Parole, man solle drei Minuten Arbeitsruhe einlegen. Die Urheber dieser Forderung versuchten sich herauszureden, sie sagten, sie hätten davon in der Straßenbahn gehört und dachten, es handele sich um eine Forderung aller Arbeiter. In den mechanischen Werken Dessau-Waldersee, [Bezirk] Halle, forderten einige Arbeiter den Parteisekretär auf, dass drei »Schweigeminuten« eingelegt werden sollen.
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter und Postwurfsendungen nur gering im Kreis Stolberg, Bezirk Karl-Marx-Stadt, und in Bernau, [Bezirk] Frankfurt/Oder.
RIAS Propaganda: der RIAS polemisiert in einem Abendkommentar am 27.1.1954 gegen die Berichterstattung unserer Presse von der Viererkonferenz.2 Lang und breit werden darin die westlichen Nachrichtenorgane als die objektiven Berichterstatter angepriesen, und der demokratischen Presse wird vorgeworfen, sie entstelle die wörtlichen Auszüge aus den Reden der westlichen Außenminister, die sie ohnehin nur sehr spärlich bringen. Es sind bereits in der Bevölkerung einzelne Stimmen laut geworden, die eine wörtliche Veröffentlichung der Reden der westlichen Außenminister in unserer Presse verlangen.
Vermutliche Feindtätigkeit
Am 27.1.1954 wurde im Kohlenbunker des Kombinates Böhlen,3 Bezirk Leipzig, die Leiche des Genossen [Vorname Name] aus Böhlen gefunden. Der Tote war als aktiver Genosse bekannt, der stets die Linie der Partei im Werk vertrat.
Die Stimmung der Bevölkerung im demokratischen Sektor von Berlin
Obwohl sich zur Viererkonferenz Arbeiter aus den Betrieben und auch Teile der übrigen Bevölkerung durchaus positiv und zuversichtlich äußern, gibt es jedoch einen großen Teil der Bevölkerung, der in der Stimmung eine abwartende, zweifelnde Haltung zum Ausdruck bringt. Die zuversichtlichen Teile sehen die Möglichkeit der Lösung des deutschen Problems nur in den Vorschlägen des Außenministers Molotow4 und äußern sich auch zur vorgeschlagenen Tagesordnung positiv.5
Die negativen Diskussionen drücken die Unzufriedenheit aus, dass man das deutsche Problem nicht auf den ersten Punkt der Tagesordnung gesetzt hat,6 und betonen, dass die Erörterung der Frage Chinas und einer Fünfmächtekonferenz nebensächlich sei.7 So äußerten sich bei einer durchgeführten Agitation am 26.1.1954 im Berliner Bremsenwerk einige Schlosser zu der Rede des Außenministers Molotow,8 dass die Viererkonferenz nur die Deutschlandfrage behandeln solle und die Teilnahme Chinas ihrer Meinung nach überflüssig wäre.9
Eine Kollegin der Abteilung Schreibzimmerverkauf des VEB Kabelwerk Köpenick sagte, auf der Konferenz die Frage der Republik China anschneiden ist nur eine Ablenkungsmaßnahme. Es wäre Unsinn damit anzufangen, denn das interessierte überhaupt nicht. Wir leben hier in Deutschland und wollen freie und geheime Wahlen. Jetzt aber lenken sie ab, indem sie von China anfangen. Wenn sie mit China nicht durchkommen, packt Molotow seinen Koffer und fährt nach Hause.
Ein Schlosser aus dem Elektro-Apparate Treptow10 sagte: »Dass Molotow China als Großmacht an den Besprechungen teilnehmen lassen will, verstehe ich nicht, denn China hat doch gar nichts mit Europa zu tun.«
Diese Frage wird in breiten Kreisen der Bevölkerung diskutiert, wofür die genannten Beispiele charakteristisch sind.
Der Verlauf der Viererkonferenz und die Reden der Außenminister werden mit großem Interesse verfolgt.
Die Inhaberin eines Lebensmittelgeschäfts in Berlin-Müggelsee äußerte sich zuversichtlich zur Konferenz. Diese meinte, dass die Kunden ebenfalls positiv über die Viererkonferenz sprechen, ja dass vor allem die Reden des Herren Molotow große Hoffnungen aufkommen lassen. Einige Frauen sagten, wenn die Außenministerkonferenz nur gut für uns ausgehen möge, lieber wollen wir noch mit den Lebensmittelkarten auskommen, wenn uns nur der Frieden erhalten bleibt. Arbeiter äußerten, Genosse Molotow wird es ihnen schon zeigen, hier liegt es nicht an Geld, sondern am Köpfchen.
Bei der gestrigen 20.00-Uhr-Kinovorstellung im Kulturhaus der Bauarbeiter in der Stalinallee klatschen bei der Ankunft des sowjetischen Außenministers Molotow mehr als 50 Prozent der Besucher Beifall.
Die Zeitungshändler des Revierbereiches 87, VPI Friedrichshain, erklärten, dass seit Beginn der Außenministerkonferenz erheblich mehr Zeitungen verkauft würden als vorher.
In der Abteilung 101 und 103 des VEB Kabelwerk Köpenick waren die Kollegen mit der Rede Molotow einverstanden. Sie begrüßten auch die Rede des französischen Außenministers Bidault,11 nun sind die auf die Rede des Außenministers Amerika gespannt.
80 Prozent der Angestellten der HO Lebensmittel Leipziger Straße 126 äußerten sich negativ zur Konferenz. Sie sind der Meinung, dass es zu keiner Einigung kommt, denn der Russe wolle in ganz Europa die Macht haben. Verschiedene sagen, dass die Russen in der DDR wieder Wohnungen räumen lassen.
Wiederholt sprach man unter bestimmten Kreisen der Bevölkerung darüber, dass es verwunderlich sei, dass unsere Presse sowie Rundfunk nichts von den Reden der westlichen Außenminister veröffentlicht. In dieser Frage nahm auch der RIAS bereits in einem Kommentar Stellung. Es ist anzunehmen, dass RIAS-Hörer diese Diskussion bewusst und verstärkt führen.
Im Elektro-Kabelwerk12 in der Abteilung Verkauf äußerte ein Kollege, dass bei uns in der Presse und Rundfunk über die Reden Bidault und Eden13 nichts berichtet wird, während die Rede Molotow ausführlich wiedergegeben wird. Er ist der Meinung, um sich ein klares Bild machen zu können, muss man die andere Seite auch hören. Die Kollegen meinen, sagte er, dass es eine gewisse Absicht ist uns das vorzuenthalten, sonst könnten wir vielleicht von dem überzeugt werden, was die anderen sagen und deshalb vermeidet man die wörtliche Wiedergabe.
Weitere Diskussionen führt man über die Frage der Oder-Neiße-Grenze und das Problem der freien Wahlen, so wie es von den westlichen Außenministern vorgeschlagen wurde.14
Zwei Genossen der SED, beschäftigt im Zentralen Konstruktionsbüro, diskutierten im Zusammenhang mit der Außenministerkonferenz über die Oder-Neiße-Grenze. Des Weiteren sprachen sie vom Volk ohne Raum und brachten zum Ausdruck, dass die schlesische Kultur zum Untergang verurteilt sei. Beide Genossen wünschen, von der Parteiarbeit befreit zu werden.
Im Nationale Autogesellschaft Oberschöneweide15 sagte ein Meister aus der Abteilung I, man soll doch erst freie Wahlen durchführen, die Amerikaner müssen bleiben, das hat doch der 17. Juni [1953] bewiesen.
Ein Abschnittsbevollmächtigter versuchte mit 30 Maurern und Zimmerleuten in der Baubude Oberschöneweide, der Bau-Union Berlin örtliche Industrie Berlin C 2 über die Viererkonferenz eine Diskussion zu führen. Ein Kollege antwortete, auch da kommt doch nichts heraus. Ein anderer lehnte die Diskussion mit der Bemerkung ab, jetzt ist Mittagspause und meinte, wir würden uns nur über unsere Arbeit oder über unsere Normen unterhalten können. Auf die Frage des ABV, was sie denn von freien Wahlen halten, wurde ihm die Gegenfrage gestellt, was er selbst davon halte. Auf seine Antwort freie Wahlen ja, aber auf demokratischer Grundlage, sagte einer der Anwesenden, na denn wissen wir Bescheid.
Aus Diskussionen der Bevölkerung ist zu entnehmen, dass Unklarheit und Unzufriedenheit darüber herrschen, wie in den Tagen der Außenministerkonferenz die Beflaggung vorgenommen werden soll.16 Keiner weiß richtig was los ist. Beim Rat des Stadtbezirkes Friedrichshain äußerte man sich: »Einmal sollen die Fahnen hereingenommen werden, weil die Beflaggung nur der Begrüßung und Ankunft des Genossen Molotow diente, dann sollen die Fahnen wieder während der Dauer der ganzen Konferenz hängen bleiben. In dieser Frage sollte man von zentraler Stelle eine einheitliche Regelung treffen, um aufkommende Unzufriedenheit zu vermeiden.«
Stimmen aus Westdeutschland
Aus den vorhandenen Stimmen aus Westdeutschland zur Viererkonferenz ist zum überwiegenden Teil der Wille zur Einheit ersichtlich. Dabei bringen die positiven Stimmen ihre Hoffnung auf den Erfolg der Viererkonferenz zum Ausdruck und erkennen die Bestrebungen der SU als ehrlich gemeint an. Ein Arbeiter aus Hamburg: »Dieser Monat wird ein sehr gewichtiger für uns alle werden. Ein Jammer ist es nur, dass ein Volk, das zusammen will, erst durch andere Mächte zusammengeführt werden soll, wobei ich nicht im Zweifel darüber bin, dass nur ›Russland‹ das ehrliche Bestreben dazu hat.« Ein Intelligenzler aus Hettdorf:17 »Ich nehme an, dass die Berliner Konferenz, die in einigen Tagen beginnt, hier uns doch einige Erleichterungen bringen wird. Ich hoffe, sie werden wenigstens aus Prestige-Gründen einige Konzessionen zu unseren Gunsten machen. So hoffe ich, dass die Wiedervereinigung Deutschlands endlich erfolgen wird.«
Die negativen Stimmen drücken neben dem Zweifel am Erfolg der Konferenz den Wunsch aus, dass die Einheit Deutschlands im westlichen Sinne erfolgen möge und die Umsiedler die Möglichkeit zur Rückkehr erhalten sollten.18 Ein Arbeiter aus Bremen: »Hoffentlich verläuft die Berliner Konferenz positiv und wir sind recht bald wieder in Frieden und Freiheit vereint. Wie wäre es schön, wenn der eiserne Vorhang recht bald fiele und man wieder ohne ein unbehagliches Gefühl in die alte Heimat fahren könnte.« Eine Hausfrau aus Hamburg: »Meine Gedanken sind viel in der Heimat und möge der Herrgott geben, dass bei der Viererkonferenz etwas Positives herauskommt, damit der Druck, der auf dem größten Teil der Deutschen liegt, nachlässt und dass vor allen Dingen unsere Gefangenen befreit werden.«
Stimmen zu den ersten Ergebnissen der Konferenz liegen noch nicht vor.19 Eine genaue Einschätzung der einzelnen Schichten ist auf der Grundlage des geringen vorhandenen Materials nicht möglich.
Stimmen aus Westberlin
Im Allgemeinen spricht man innerhalb der Westberliner Bevölkerung mehr über die Äußerlichkeiten bei der Konferenz, als über die politischen Probleme. Aus bekannt gewordenen Stimmen zu den Problemen der Konferenz ist Folgendes zu ersehen:
Von Arbeitern wird erwartet, dass die Konferenz ein Schritt vorwärts zur Schaffung der Einheit Deutschlands ist. Ein Arbeiter aus Westberlin: »Wollen wir hoffen, dass uns diese Konferenz einen Schritt vorwärts zur Wiedervereinigung bringt. Ein Fortschritt wird doch wohl dabei herauskommen.«
Unter den Angestellten ist die Hoffnung auf einen positiven Erfolg der Konferenz gering,20 wobei man vonseiten der SU nur Negatives erwartet. Ein Angestellter aus Westberlin: »Nach meiner Ansicht kommt nichts Gutes heraus. Der ›Iwan‹ wird immer ›njet‹ sagen. Hauptthema sind ja freie Wahlen in ganz Deutschland. Damit werden sich die östlichen Machthaber nicht einverstanden erklären. Ich glaube, der amerikanische Außenminister ist zu uns Deutschen sehr freundlich eingestellt. Ich sah gestern, wie er mit dem Hut winkte und uns zulachte.« Ein Angestellter aus Westberlin: »Wir sind uns fast alle darüber einig, dass nichts oder nicht viel herauskommt. Molotow ist auch gekommen und hat uns etwas mitgebracht, nämlich die russische Kälte. Mehr hat er für uns nicht übrig.«
Von einem anderen Teil Angestellten und Hausfrauen wird angenommen, dass die Konferenz ohne Entscheidung verläuft und vertagt werden wird.
Nach einer Belehrung der Stupo21 durch Revier Vorsteher wird jetzt »illegale Propaganda« nicht mehr als Vergehen, sondern als Übertretung angesehen. So ist bei nichterlaubten Versammlungen nur der Verantwortliche festzustellen und erhält eine Übertretungsanzeige.
Von Journalisten wird als störend empfunden, dass die Pressekonferenzen abends fast zu gleichen Zeitpunkten stattfinden. Darunter fällt auch die der sowjetischen Delegation, wodurch die Teilnahme an diesen nicht immer möglich ist.
Die Durchfahrt der Delegationen: Die sowjetische Delegation hat heute um 14.50 Uhr mit acht Fahrzeugen den Potsdamer Platz passiert und sich zum Kontrollratsgebäude begeben.22 In der Nähe des Potsdamer Platzes befanden sich ca. 500 Personen. Bei der Durchfahrt der sowjetischen Delegation verhielten sie sich meist passiv und ruhig.
Ca. 200 m von der Sektorengrenze entfernt in der Potsdamer Straße ertönten mehrere Heilrufe, begleitet durch Erheben der rechten Hand beim Vorbeifahren der Delegation. Die dort postierten Stupo schritten gegen diese Personen nicht ein.
Zwei Angestellte von Coca Cola sagten beim Vorbeifahren der Delegation: »Die dort stehenden Personen sollen sich lieber umdrehen und den Molotow den Hintern zeigen.« Bei den Umstehenden fanden sie mit ihrer Äußerung keinen Beifall, sondern erweckten nur Kopfschütteln.
Auf der Überführung Bülow-Potsdamer Straße der Hochbahn befanden sich während der Durchfahrt zahlreiche Stupos. Die Züge standen alle. Die Bevölkerung äußerte sich, dass sie mächtige Angst haben müssten.
An der Pallasstraße äußerte eine Person in gutbürgerlicher Kleidung bei der Durchfahrt der Delegation zu mehreren Umstehenden: »Die erste Runde haben die ›Russen‹ gewonnen.«23
Bei der Absperrung in der Potsdamer Straße sagte ein Verkehrspolizist: »Ich wünsche mir nur, dass sie nicht mit Krach auseinandergehen, dann kommt nämlich bestimmt der große Krach, und wer den letzten Krieg mitgemacht hat, hat die Schnauze voll. Ich bin nur froh, dass sich die Konferenz schon über die Tagesordnung geeinigt hat.«
Ein Angestellter aus Westberlin: »Die Viererkonferenz wird sich sicherlich noch mehr als vier bis sechs Wochen hinziehen, aber der amerikanische Außenminister hat bereits angekündigt, dass er zunächst nicht länger als drei bis vier Wochen bleiben kann. Dann wird sicherlich in Untersuchungsausschüssen weiterverhandelt werden.«
Eine Hausfrau aus Westberlin: »Man hat so seine Gedanken über die Konferenz und nicht allzu große24 Hoffnungen, dass diesmal schon etwas Positives für Berlin und den Zusammenschluss herauskommen wird. Günstigenfalls eine Vertagung dieser Fragen auf ein Vierteljahr später.«
Ein Geschäftsmann aus Berlin-Neukölln: »Die Konferenz wird keine großen Erfolge haben. Jedoch in einem Punkt wird völlige Übereinstimmung herrschen und zwar in der Frage der Einigung Berlins. Es wird ein geeintes Berlin geben und zwar unter einschließlich westlicher Besatzung. Die Regierung der DDR wird nach Leipzig verlegt.«
Ein Rentner aus Westberlin sagte Folgendes: »Die Deutschen haben auf der Konferenz nichts zu suchen. Die Vier sollen erst die in Jalta und Potsdam vorgenommene Zerreißung wieder flicken.25 Dann kann Deutschland an den endgültigen Friedensverhandlungen teilnehmen.«
Ein Stummpolizist an der Potsdamer Brücke machte über die SU abfällige Bemerkungen. Dabei wurde er von anwesenden Menschen zur Ordnung gerufen.
Ein amerikanischer Reporter äußerte, dass die SU zur Viererkonferenz erstmalig zurückweichen muss, da Dulles am 26.1.1954 Molotow die erste Abfuhr erteilt hat.26
Zur Teilnahme Chinas an der Viermächtekonferenz traten in einer kleinen Diskussionsgruppe in der Nähe des Potsdamer Platzes zwei Meinungen auf. Ein Teil der Versammelten erklärte, dass die Teilnahme Chinas berechtigt und richtig sei, da hierdurch die internationale Lage wesentlich entspannt werden könnte.27 Der andere Teil war der Meinung, dass China nicht berechtigt sei teilzunehmen, weil ja die vier Mächte die Sieger sind und über das weitere Schicksal Deutschlands und Österreichs entscheiden sollen.