Zur Beurteilung der Situation
9. Januar 1954
Informationsdienst Nr. 2064 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Viermächtekonferenz1 steht weiterhin im Mittelpunkt der Diskussionen (siehe Anhang).
Eine Kürzung der Produktionsauflage für das 1. Quartal 1954 erfolgte bei der Schuhfabrik VEB Bella, Groitzsch, [Bezirk] Leipzig. Dadurch bestehen Schwierigkeiten bei der Vollbeschäftigung der Arbeiter. Es mussten 100 Arbeitskräfte entlassen werden.
Absatzschwierigkeiten bestehen im Knochenaufschlusswerk Mühlhausen,2 [Bezirk] Erfurt. Es lagern hier 200 t Eiweißkonzentrate, zu denen weitere 50 t täglich hinzukommen. Für diese Waren fehlt jeglicher Lagerraum im Betrieb. Sie können aber auch nicht weiter verschickt werden, da die Versandvorschriften fehlen. Es bedarf einer baldigen Klärung dieser Angelegenheit, da hier die Gefahr des Verderbens besteht, weil diese Eiweißkonzentrate nur eine kurze Lagerungsfähigkeit aufweisen. Durch diesen schlechten Absatz treten finanzielle Schwierigkeiten auf. Der Betrieb ist gezwungen, einen Kredit von 80 000 DM aufzunehmen, um die Löhne der Arbeiter zahlen zu können.
Zur Gasversorgung des Bezirkes Magdeburg wird bekannt, dass am 6. und 7.1.1954 wieder Kohle eintraf und weitere Lieferungen erwartet werden. Seit dem 7.1.1954, 12.00 Uhr sind wieder mehrere Gaskammern in Betrieb. Die Industrie ist wieder am Gasnetz angeschlossen. Der Gasdruck ist zzt. jedoch noch schwach. Anfang der nächsten Woche wird voraussichtlich alles wieder normal laufen. Im VEB Gießerei und Modellbau Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg, ist bis jetzt dadurch ein Produktionsschaden von 66 000 DM entstanden.
Schwierigkeiten beim VEB Kraftverkehr Aue, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, bestehen dadurch, dass gleichzeitig mehrere Fahrer und Schaffner gekündigt haben. Ursache sind die zu »niedrigen Löhne« gegenüber denen der Kraftfahrer der Wismut.3 Dazu kommt noch, dass durch Ausfall von 22 Omnibussen, die sich in Reparatur befinden, der Verkehr weiter behindert wird.
Über Prämienauszahlungen bestehen in der Schiffswerft Fürstenberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder, unter den Arbeitern negative Einstellungen. Die Hauptverwaltung Schiffsbau hat dem Betrieb eine Prämie von 1 900 DM überwiesen, die an drei Funktionäre der Werkleitung gezahlt werden sollte. Die Arbeiter sind der Meinung, dass dies nicht richtig sei, die leitenden Funktionäre hätten eine Prämie nicht verdient, da sie ihre Verpflichtung im Betriebskollektivvertrag nicht erfüllt haben und ebenfalls vor kurzer Zeit bereits eine Prämie von 400 bis 500 DM erhielten.
Unstimmigkeiten auf dem Dampfer »Vorwärts«4 bestehen über die Haltung des Genossen Salomon5 vom Staatssekretariat für Schifffahrt, welcher bei einer Diskussion über die Erhöhung der Verpflegung äußerte: »Welcher Idiot diskutiert überhaupt noch über das Essen, bei einer solchen Einstellung muss man sich überlegen, ob auch nur ein Besatzungsmitglied der ›Vorwärts‹ für die Besatzung der neuen Schiffe infrage kommt. Der Verpflegungssatz wird nicht erhöht.« Durch solche Dinge besteht eine Arbeitsunlust auf dem Dampfer. Der erste Offizier sowie die Ingenieure und Besatzungsmitglieder wollen sich deshalb eine andere Stellung suchen.
Handel und Versorgung
Gefahr des Verderbens von größeren Mengen Schmalz. Bei dem Kontor für Import und Lagerung Zweigstelle Rostock lagern 500 t Schmalz Freiverkauf und 500 t Schmalz Staatsreserven, die nicht absetzbar und dem Verderb ausgesetzt sind.
Landwirtschaft
Viermächtekonferenz siehe Anhang.
Zum Jahr der großen Initiative6 schloss sich die Schweinezuchtbrigade des VEG Lüssow,7 [Bezirk] Rostock, der Frida-Hockauf-Bewegung8 an und verpflichtet sich, 100 Ferkel über den Ferkelaufzuchtplan aufzuziehen.
Ersatzteilschwierigkeiten bestehen in den MTS des Kreises Langensalza, [Bezirk] Erfurt. Die Erfüllung des Winterreparaturplanes ist deshalb infrage gestellt.
Mit 50 000 DM Defizit hat die LPG Taubenheim,9 [Bezirk] Dresden, im vergangenen Jahr abgeschlossen. Von der Bauernbank wurde dem Vorstand der LPG mitgeteilt, dass vom Kreisrat die Anweisung gegeben wurde, den LPG mit Defizit die Mittel bis zur Bestätigung des Produktionsplanes zu kürzen. Dies wirkt sich so aus, dass die Genossenschaftsbauern alle zehn Tage nur 35,00 bis 40,00 DM ausgezahlt bekommen. Ein Teil trägt sich mit dem Gedanken, aus der LPG auszutreten.
Saatkartoffeln sollen als Speisekartoffeln für Berlin verladen werden. Im Herbst 1953 erhielt die BHG Sangerhausen, [Bezirk] Halle, Saatkartoffeln, die gegen Rücklieferung von Speisekartoffeln an die Bauern abgegeben werden sollten. Von der Tauschmöglichkeit wurde kein Gebrauch gemacht, da die Auffassung besteht, dass die Abgabe von Saatkartoffeln im Frühjahr auch ohne Gegenlieferung erfolgt. Diese Saatkartoffeln sollen nun als Speisekartoffeln nach Berlin verladen werden. Abgesehen von der jetzigen Witterung wird dies von Angestellten der BHG, vom Standpunkt der Saatgutversorgung, als unverantwortlich angesehen.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Die Diskussionen über die bevorstehende Viermächtekonferenz halten weiterhin an (Einschätzung siehe Anhang).
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter wurden verstärkt im Bezirk Potsdam (4 300 Stück) und in geringer Zahl in den Bezirken Frankfurt/Oder und Karl-Marx-Stadt verbreitet.
Postwurfsendungen wurden sehr vereinzelt in den Bezirken Neubrandenburg, Frankfurt/Oder, Halle und Dresden festgestellt. Neue Arten von Flugblättern und Hetzsendungen sind nicht aufgetreten.
Gefälschte Rundschreiben mit dem Absender: Minister für Land- und Forstwirtschaft wurden an LPG des Bezirkes Schwerin gesandt, wo zwei Vertreter der LPG zu einer Besprechung am 8.1.1954 nach Berlin eingeladen werden.
Versuchte Diversion: Am 6.1.1954 wurde in einem Schacht der Wismut bei Freital, [Bezirk] Dresden, zwischen einer Schiene und Weiche eine eingeklemmte Sprengpatrone mit Schläger und Zünder gefunden. Diese Sprengpatrone wurde rechtzeitig gefunden und es entstand kein Schaden.
Vermutlich organisierte Feindtätigkeit
Brände: Am 4.1.1954 brach in der Lehrlingswerkstatt des VEB Maschinenfabrik Schmachtenhagen, [Bezirk] Potsdam, ein Brand aus. Er wurde rechtzeitig entdeckt, es entstand kein nennenswerter Schaden. Ursache: Vermutlich Brandstiftung.
Am 8.1.1954 brannten bei einem Bauern in Tanna, [Bezirk] Gera, Scheune und Stallungen vollständig nieder. Schaden: 23 000 DM.
Gerücht: Im Lokal »Zittauer Keller« in Görlitz, [Bezirk] Dresden, wurde das Gerücht verbreitet, dass im Februar ein neuer 17.6.[1953] folgt, welcher besser organisiert würde.
Einschätzung der Situation
Das Interesse der Bevölkerung an der Viermächtekonferenz ist groß. Die Forderung zur Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West10 wird in zunehmendem Maße unterstützt. Die verstärkte und umfangreiche Aufklärung wirkt dabei besonders positiv und vermindert gleichzeitig den Einfluss der feindlichen Elemente auf die Bevölkerung.
Die verbesserte Lebenslage der Bevölkerung hat bewirkt, dass die Unzufriedenheit nur noch verhältnismäßig geringen Umfang hat und der größte Teil ihrer Ursachen in den verschiedensten örtlichen Mängeln, teilweise vorübergehender Art, zu suchen ist.
Anlage vom 8.1.1954 zum Informationsdienst Nr. 2064
Anhang zur Stimmung über die bevorstehende Viererkonferenz
Die bevorstehende Viermächtekonferenz in Berlin ist weiterhin Grundlage zahlreicher Diskussionen. Wie an den Vortagen, ist auch heute die Mehrzahl der bekannt gewordenen Meinungsäußerungen positiv. Die bereits bekannten Argumente (ständige Bemühungen der SU, Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West, besonders aber die Hoffnung auf friedliche Lösung der Deutschlandfrage) stehen weiterhin im Mittelpunkt. Angeregt und positiv beeinflusst wird die Diskussion über die Viermächtekonferenz durch die Unterschriftensammlung, durchgeführte Versammlungen und Aufklärungseinsätze.11 Ein parteiloser Arbeiter der Bau-Union Riesa, [Bezirk] Dresden: »Mit der Außenministerkonferenz, die durch die Hilfe der SU und Unterstützung der anderen friedliebenden Völker zustande kommen wird, können wir endlich auf einen Friedensvertrag und Herstellung der Einheit Deutschlands rechnen, zumindest ist damit der Anfang gemacht.«
In fast allen MTS des Bezirkes Suhl wurden Belegschaftsversammlungen durchgeführt. In Entschließungen wurde die Forderung, Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West gestellt. Traktoristen verpflichteten sich, die Sichtwerbung durch entsprechende Losungen an den Fahrzeugen zu verstärken.
Ein Arbeiter aus Bitterfeld: »Die Viererkonferenz kann nur erfolgreich sein, wenn deutsche Vertreter daran teilnehmen. Wir haben als Deutsche ein Recht darauf, da es um unser Vaterland geht.«
Eine Landarbeiterin aus Hanshagen, [Bezirk] Rostock: »Ich wünsche mir nur, dass die vier Mächte sich so einigen, dass es ohne Krieg ein einheitliches Deutschland gibt.«
Wie bereits am Vortage berichtet, treten Stimmen, die an einem positiven Ausgang der Viermächtekonferenz, z. B. Herstellung der Einheit Deutschlands, zweifeln, etwas stärker in Erscheinung. Direkt negative Stimmen, deren Inhalt meist feindliche Argumente sind, wurden nur in geringem Maße bekannt. Inhaber eines Konfektionsgeschäftes in Saalfeld, [Bezirk] Gera: »An eine Einheit Deutschlands noch glauben, klingt wie ein Märchen. Ob bei der Viererkonferenz etwas Positives herauskommt, bezweifle ich noch, obwohl dies zu begrüßen wäre.«
Schlosser der Warnow-Werft Warnemünde, [Bezirk] Rostock: »Wenn auf der Konferenz die Einheit Deutschlands erreicht wird, werden wir arbeitslos, da in Kiel und Hamburg genügend und bessere Werften vorhanden sind als hier.«
Einwohner aus Zehlendorf, [Bezirk] Schwerin: »Die Einheit wollen wir haben, aber die Oder-Neiße-Grenze stört Euch nicht. Ihr könnt ruhig für die Einheit Deutschlands sein, ich werde für ein Deutschland kämpfen, das bis zum Atlantik reicht.«
Großbauer aus Brietz, [Bezirk] Magdeburg: »Hast Du das noch nötig zur Schule zu gehen. Bis zur Außenministerkonferenz wird sich noch vieles ändern, willst Du Dich denn da noch aufhängen lassen.«
Angestellter beim Magistrat von Groß-Berlin: »Die bisherige Verzögerungstaktik der Russen ist nun zu Ende. Jetzt müssen sie nun zu den guten Vorschlägen der Westmächte Farbe bekennen. Die Einheit Deutschlands ist sehr nahe, denn wir Deutschen sind ja keine Kommunisten.«