Zur Beurteilung der Situation
9. Februar 1954
Informationsdienst Nr. 2113 zur Beurteilung der Situation
Die Stimmung in der DDR
In der Stimmung der Bevölkerung hat es nach den Berichten der Bezirke keine wesentlichen Veränderungen gegeben.
Feindtätigkeit
In Mannsfeld, [Bezirk] Halle, wurden mehrere Flugblätter gefunden, welche auf Stenoblockpapier mit einem Handdruckkasten bedruckt folgende Aufschriften enthielten: Wahlen in Freiheit nach Molotows1 Muster?2 Pfui – Nein – Unterschriften müssen frei sein.3 Einzelne Flugblätter (SPD-Stimmzettel)4 wurden im Bezirk Frankfurt und Potsdam gefunden. In Hirschberg, [Bezirk] Gera, wurden auf westlicher Seite 30 Ballons mit Flugblättern hochgelassen, welche durch den Wind in das Gebiet der DDR geweht wurden.
Aus dem Bezirk Halle und Leipzig5 wird gemeldet, dass vom »Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen«6 folgendes Flugblatt durch die Post an Personen in der DDR versandt wird: »Ungestörter Rundfunkempfang – Praktische Ratschläge«. Diese Hetzschrift enthält Material und Anleitung zur Verbesserung der Empfangstätigkeit von westlichen Sendern.
In Schönebeck, [Bezirk] Magdeburg, wurde die Scheibe eines Schaukastens der »Volksstimme«7 beschmiert.
Vermutliche Feindtätigkeit
In Leipzig wurde durch einen VP-Angehörigen ein VP-Wachtmeister erschossen. Der Täter ist flüchtig. Die genauen Ursachen für diese Tat sind noch nicht bekannt. Nach den bisherigen Ermittlungen jedoch liegt keine Fahrlässigkeit, sondern bewusste Handlung vor.
Stimmung der Bevölkerung im demokratischen Sektor von Berlin
Große Teile der Bevölkerung des demokratischen Sektors von Berlin drücken ihre Zweifel darüber aus, dass der Verlauf der Konferenz8 noch zu einem positiven Ergebnis führen könne.9 In den Diskussionen kommt zum Ausdruck, dass die Konferenz nach diesem verheißungsvollen Beginn, aufgrund der Initiative des sowjetischen Außenministers Molotow, nun doch in ein Stadium eingetreten ist, dass alle Erwartungen enttäuscht [werden] und dem deutschen Volke wiederum keinen Friedensvertrag bringen wird. Viele Arbeiter und auch andere fortschrittliche Kräfte hoffen jedoch, dass aufgrund der konsequenten Haltung des Genossen Molotow, der die Fortsetzung der Debatte über das Deutschlandproblem fordert und entschiedene klare Antworten der Westmächte auf die gestellten Fragen verlangt, doch noch in einigen Fragen eine Einigung erzielt wird.
Eine Kollegin vom Ministerium für Eisenbahnwesen sagte, dass man bei den Reden des Außenministers Molotow den Eindruck gewinnt, dass nicht ein ausländischer Diplomat spricht, sondern ein Deutscher, der die Interessen aller Deutschen ganz entschieden vertritt. Es sei bewundernswert, mit welcher Zähigkeit und Entschiedenheit er immer wieder den Stand der deutschen Werktätigen vertritt.
Ein Arbeiter äußerte sich, wer die Einheit Deutschlands will oder nicht, wussten wir im Voraus. Die Westmächte winden sich wie die Würmer, vor allem der Ami. Aber Molotow gibt es ihnen ganz schön, ihm müssen wir unser ganzes Vertrauen schenken. Von der SU wurde der Vorschlag gemacht, im Oktober den Friedensvertrag zu unterzeichnen. Also im Jahre 1955 müssten die Besatzungsmächte abziehen.10
Im VEB Finkenrath,11 Bezirk Pankow, zeichneten sich nach einer regen Diskussion über die Viererkonferenz alle 37 Belegschaftsmitglieder in die Liste mit der Forderung nach Durchführung einer Volksbefragung ein.12
Ein Arbeiter sagte: »Eben habe ich wieder spannend die Nachrichten gehört und muss feststellen, dass es bedauerlich ist, es kommt doch keine Einigung zustande. So sollen wir ewig so getrennt weiterleben. Es ist nicht auszudenken, nach neun Jahren immer noch ein geteiltes Deutschland. Da muss man an allem zweifeln. Wo ist da noch Menschlichkeitsgefühl.«
Ein Arbeiter aus Berlin-Pankow: »Die Außenministerkonferenz dauert schon 14 Tage. Leider ist jetzt kein Fortschritt in unserer Angelegenheit zu verzeichnen. Schade, sie machten zum Anfang so gute Ansätze. Ich hatte bestimmt gehofft, dass ein positives Ergebnis das Ende dieser Besprechung wäre. Aber vielleicht wird doch noch alles gut. Wir wollen sehr hoffen.«
Von den negativen Kräften wird nach wie vor die Frage nach westlichen Wahlen aufgeworfen, über die auch bei einem nicht unbedeutenden Teil aller Bevölkerungsschichten Unklarheit herrscht. Besondere Interesselosigkeit oder negative Äußerungen treten bei Angestellten und Personen hervor, die am 17.6.[1953] bereits negativ in Erscheinung traten. So äußert sich ein Kollege aus den Berliner Gaswerken: »Dulles13 und Eden14 könnten auf Molotows Vorschläge nicht eingehen,15 weil sie das System in der DDR nicht anerkennen können. Freie Wahlen könnten hier nicht zugelassen werden, da sich hiermit die Regierung das eigene Grab schaufeln würde.«
Ein Angestellter äußerte: »Ich hoffe und wünsche bloß noch, dass die vier Alliierten sich [zu] unseren Gunsten einigen werden, es sieht sehr böse aus. Uns kann nur eine wirkliche freie Wahl nach Dulles Muster einen Frieden sichern.«
Aus dem VEB Entwurfsbüro für Industriebau diskutiert die Brigade Gütekontrolle folgendermaßen: »Warum lässt man denn keine freie Wahlen zu, so wie es der Westen fordert, dann wird man sehen, wer das Volk hinter sich hat. Die Wahlen im Westen haben ja bewiesen, wie die Bevölkerung hinter Adenauer16 steht.17 Warum überhaupt Viererkonferenz, Russland gibt ja doch nie nach, und wird immer eine Konferenz zum Scheitern bringen.«
Ein Kollege von der Wechselstromtelegrafie der Fernmeldemeisterei Berlin Ostbahnhof sagt, dass der Abzug der Besatzungstruppen einen Haken hat. »Die Amerikaner haben einen viel weiteren Weg als die Russen. Wenn dann dem Russen etwas nicht passt, sind sie gleich wieder da, bleiben aber diesmal nicht an der Elbe stehen.«
Am 7.2.1954 predigte ein Pfarrer in der Paul-Gerhardt-Gemeinde, Wisbyerstraße vor 180 Frauen, 80 Männern und 40 Jugendlichen. Er bat die Gemeinde, für das Gelingen der Viererkonferenz zu beten, da sonst, falls diese ohne Erfolg ausgeht, über die christliche Gemeinde des Ostens ein tiefes Dunkel hereinbricht. Weiter sagte er, dass wiederum verschiedene Geistliche aus den KZ entlassen wurden, sich aber noch viele in Haft befinden, für die man beten müsste.
Welche Unsicherheit noch unter gewissen Teilen der Arbeiter aufgrund der feindlichen Hetze herrscht, zeigt, dass ein Vertreter des VEB Schultheiss18 äußerte: »Von unseren Arbeitern will keiner in die Stalinallee ziehen, sie haben Angst, es könnte mal anders kommen.19 Betriebe, die z. B. 20 Wohnungen zur Verfügung gestellt bekamen, reichten höchstens 16 Vorschläge ein mit der Begründung, dass den Arbeitern die Wohnungen zu teuer sind. Dafür wurden für den Bezug der Wohnungen Hauptbuchhalter, Betriebsleiter u. a. vorgeschlagen.«((??))
Stimmen aus Westdeutschland
Die uns vorliegenden Stimmen aus Westdeutschland geben fast ausschließlich ihren Wunsch nach der Herstellung der Einheit Deutschlands Ausdruck. Jedoch sind hierbei die Ansichten über die sich aus der Viererkonferenz ergebenden Möglichkeiten sehr verschieden. Ein Teil hofft auf eine Lösung dieses Problems im Sinne der Vorschläge der sowjetischen Delegation. Der größere Teil erwartet jedoch auf der Konferenz keine Einigung.20 Einerseits wegen der vorhandenen großen Gegensätze und der negativen Haltung der Westmächte, andererseits sieht man in der sowjetischen Delegation keine Bereitschaft zur Einigung. Hierbei macht sich die westliche Beeinflussung stark bemerkbar.
Ein Arbeiter, SPD aus Westdeutschland: »Ich begrüße die Volksbefragung. Die westdeutsche Regierung hat vor dieser Volksbefragung Angst, weil der größte Teil der Arbeiter in Westdeutschland gegen den EVG-Vertrag ist.«
Eine Hausfrau aus Hörbach: »Aber wie die Konferenz ist, sieht es mal wieder böse aus. Immer und immer wieder macht der Russe einen Strich durch die Rechnung. Ich glaube, im Guten kommt es nicht zu einer Einheit.«
Ein Arbeiter aus Münster: »Die Konferenz in Berlin wird aber sicher keine Lösung für eine Änderung finden, denn ich bin der Meinung, dass alle Partner es gar nicht ehrlich mit der Wiedervereinigung meinen. Der eine schimpft auf den anderen und nachgeben will keiner. Die Verhandlungen werden sich bestimmt so in die Länge ziehen, wie seinerzeit in Korea.«21
Der Mitinhaber einer Ex- und Importfirma in Hamburg und in Westberlin erklärte Folgendes: Dulles werde es auf keinen Fall zu einer Einigung auf der Konferenz kommen lassen. Er werde gerade so viel tun, um einer akuten Kriegsgefahr vorzubeugen. Er wolle es aber auf keinen Fall zu einer völligen Entspannung im Kalten Krieg kommen lassen, da er die Kriegspsychose unbedingt zur Erhaltung der amerikanischen Konjunktur brauche. Auch England sei an einer Einheit Deutschlands nicht interessiert. Ein geeintes Deutschland würde mit seiner wirtschaftlichen Macht einen bedrohlichen Faktor auf dem Weltmarkt darstellen und vermutlich zu einem schärferen Konkurrenten werden denn je zuvor. Die Westmächte sehen im Falle einer Wiedervereinigung Deutschlands eine gewisse Gefahr in der SPD. Es sei außer Zweifel, dass in einem Gesamtdeutschland die SPD wieder die stärkste Partei würde. Führende Politiker der Westmächte sehen dann eine Gefahr in einem möglichen Zusammengehen zwischen SPD und KPD, respektive SED, weshalb man von westlicher Seite alles daransetze, der SPD die marxistische Basis zu nehmen, damit man nicht mehr auf die gemeinsame marxistische Basis zwischen SPD und KPD/SED hinweisen könne.
Westberlin
Neben positiven Stimmen, in denen die sowjetischen Vorschläge unterstützt und Hoffnungen auf eine günstige Lösung gehegt werden, nehmen zweifelnde Stimmen an einem günstigen Verlauf der Konferenz, die jedoch meist für uns eingestellt sind, etwas zu. Ein Arbeiter von einem Westberliner Baugeschäft stellt fest, dass unter der Belegschaft in den letzten Tagen entschieden besser über die Vorschläge der sowjetischen Delegation diskutiert wird, was vorher nicht der Fall war. Weiterhin führt er aus: »Durch seine klaren Formulierungen schafft Molotow klare Fronten. Ich freue mich darüber, wenn Dulles hier in Berlin eine Abfuhr bekommt.«
Ein Elektriker aus Westberlin ist der Meinung, dass deutsche Vertreter zur Konferenz hinzugezogen werden müssen, da es sich um eine deutsche Angelegenheit handelt.
Ein Taxifahrer aus Westberlin: »Ich würde begrüßen, wenn es zu einer Einigung käme, weil ich dann mehr Arbeit und Verdienst erhalte.«
Eine Geschäftsfrau aus Berlin-Wilmersdorf: »Viel Hoffnung hat man nach dem jetzigen Resultat nicht. Drücken wir die Daumen, dass es doch noch zu einem Zusammenschluss kommt. Für uns wäre es auch in geschäftlicher Hinsicht nur begrüßenswert.«
Negative Stimmen enthalten meist RIAS-Argumente und sprechen sich gegen die sowjetischen Vorschläge aus. Ein Arbeiter aus Westberlin: »Nach 14 Tagen ist zzt. die Konferenz auf einem toten Punkt angelangt. Der Russe will natürlich seine Sowjet-Allüren auch im deutschen Staate anbringen. Na, wir können sowieso nichts ändern.«
Eine Lehrerin erklärte in einer Westberliner Schule zu ihrer Klasse: »Die Konferenz ist bereits als gescheitert anzusehen. Der Russe stellt Forderungen, die nicht anzunehmen sind. Er will keinen Frieden für Deutschland.«
Ein Kellner aus Berlin-Wedding: »Freie Wahlen und eine Einigung können nur erzielt werden, wenn Molotow [sich] mit seinen Forderungen zurückhält.«
Eine Angestellte aus Berlin-Dahlem: »Edens Plan22 auf freie Wahlen hätte Molotow annehmen sollen. Jedoch schlug er statt freier Wahlen eine Volksabstimmung vor. Das ist ein neuer Trick von Molotow.«
Ein Funktionär vom »Stahlhelm«23 in Westberlin: »Wenn infolge der Konferenz die EVG-Verträge wegfallen sollten, wäre es noch besser. Dann bekämen wir eine Nationalarmee und die Westmächte würden ihre Stützpunkte in Europa verstärken.«
Von einigen fortschrittlichen Westberlinern wird bei fruchtlosem Verlauf der Konferenz erwartet, dass wenigstens die Lage in Westberlin geändert wird. Das sei sehr schnell möglich durch einigermaßen geschickte Zusammenarbeit zwischen den Behörden des demokratischen Sektors und den 100 000en Westberliner Arbeitslosen.
Wie bekannt wurde, versucht das Komitee »17. Juni«24 Streifen der Trapo25 auf den Westberliner S-Bahnhöfen durch Steinwürfe zu provozieren. Dadurch soll ein zweiter S-Bahnputsch inszeniert werden.26
In einer SPD-Versammlung in Westberlin wurde über die kommenden Einsätze in Ost- Westberlin gesprochen, die gestartet werden sollen wenn die Konferenz ohne Erfolg abgeschlossen wird. Man verlässt sich dabei vor allem auf die »Flüchtlinge«.
Am 5.2.1954 wurde in Berlin-Zehlendorf eine Aussprache über die Viererkonferenz für »Flüchtlinge« durchgeführt, auf der der Leiter der KgU,27 Tillich,28 sprach. Er brachte zum Ausdruck, dass die Konferenz bereits gescheitert sei und die Deutschen zur Selbsthilfe greifen müssen. Auf die Frage, wie er sich die Befreiung vorstelle, sagte er: Das lasst unsere Sorgen und die der alliierten Freunde sein.
Die Durchfahrt der sowjetischen Delegation am Potsdamer Platz und die Ankunft am Kontrollratsgebäude verliefen ohne Zwischenfälle.29 Publikum befand sich auf beiden Seiten der Potsdamer Straße Es waren weniger als in der ersten Konferenzwoche. Bei- oder Missfallensäußerungen wurden nicht bekannt.
Anlage 1 (o. D.) zum Informationsdienst Nr. 2113
Auszüge aus Westberliner Pressemeldungen vom 9. Februar 1954
»Telegraf«:
Mitteldeutschland fordert freie Wahlen.
Unterdessen wächst die Zahl der Meldungen aus der Sowjetzone über Protest- und Widerstandsaktionen der Bevölkerung gegen die starre Haltung des sowjetischen Außenministers Molotow zu der Frage freier gesamtdeutscher Wahlen. Die Vopo-Streifen in den größeren Städten sind verstärkt worden, um etwaigen Unruhen zu begegnen. In Großbetrieben werden auf Handzetteln freie Wahlen gefordert. In Leipzig und Altenburg wurden des Nachts Wahlparolen an Häuser und Zäune gemalt.30 Im Reichsbahnausbesserungswerk Engelsdorf bei Leipzig sowie bei dem früheren Leipziger SAG-Betrieb Bleichert31 kam es zu heftigen Diskussionen mit SED-Agitatoren, in deren Verlauf einige Arbeiter vom SSD verhaftet wurden. Handgeschriebene Flugzettel tauchten in den Leipziger Eisen- und Stahlwerken, den Leipziger Verkehrsbetrieben und im Leipziger Hauptbahnhof auf.32
Der Kurier:
Die SED muss zur Wahl gestellt werden. In deutschen Kreisen gewinnt die Ansicht an Boden, dass alles unternommen werden müsse, um die SED in einem gesamtdeutschen Wahlakt zu stellen. Mit welchen Opfern man dieses Ziel erreiche, sei verhältnismäßig unwichtig. Man könnte es der Zonenbevölkerung überlassen, vorauszusehende Betrugsmanöver der SED rechtzeitig zu unterbinden. Es werde ohnehin schwer sein, diese Bevölkerung von Vergeltungsakten gegenüber ihren bisherigen Machthabern abzuhalten.33
Die Neue Zeitung:
Die Abteilung Presselenkung des ZK und die SED-Bezirksleitungen haben Anordnung erlassen, die in der Sowjetzone und zum Teil auch in Ostberlin vorgekommenen Protestaktionen totzuschweigen und durch tendenziöse Stimmungsberichte zu dementieren …34
In mehreren Orten sind bereits öffentliche Parteiversammlungen abgesagt worden, um Zwischenfälle zu vermeiden. Aus Kreisen der Mitgliedschaft der SED wurde dagegen protestiert, dass alle Personen, die freie Wahlen gefordert hätten, als »Faschisten« oder »Reaktionäre« bezeichnet wurden. Im Stahlwerk Hennigsdorf traten zwei Abteilungen in den »Arbeite langsam«-Streik, um gegen die geplante Volksabstimmung zu protestieren. In den Lowa-Waggonfabriken Ammendorf musste unter dem Drängen der Belegschaft ein Arbeiter freigelassen werden, der wegen der Forderung nach freien Wahlen verhaftet worden war. Im VEB Bergmann-Borsig in Ostberlin wurden drei Arbeiter festgenommen, die als Sprecher der Belegschaft in einer Versammlung auftraten, in der der Sprecher der sowjetischen Regierung Staatssekretär Albert Norden35 die Vorschläge Molotows propagierte. In anderen Betrieben forderten die Arbeiter die Zulassung der Sozialdemokratischen Parteien in der Sowjetzone, die nach der Zwangsvereinigung mit der KPD verboten worden war. Auch vor Geschäften der HO und des Konsums kam es zu Zwischenfällen wegen des völlig unzureichenden Warenangebotes. In Brandenburg/Havel wurde SED-Funktionären erklärt: »Hättet Ihr nicht alles zur Konferenz nach Berlin geschafft, könnten wir jetzt wenigstens das Nötigste kaufen.« Am Leipziger HO-Kaufhaus wurde nachts ein Transparent mit der Inschrift: »Ware ausverkauft, wird zurzeit in Berlin ausgestellt« angebracht.36 Für die Ostberliner SED wurde Ende der vergangenen Woche »verschärfte Wachsamkeit« angeordnet. In allen Betrieben, in denen die SED »Kampfgruppen« aufgestellt hat,37 wurden Waffen und Lebensmittel eingelagert. Die Betriebsparteileitungen müssen täglich Stimmungsberichte zusammenstellen. Um Unruhen zu vermeiden, darf Propagandamaterial, das von der Bezirksleitung gedruckt und in denen freie Wahlen als »Nazi-Wahlen« bezeichnet wurden, vorläufig nicht ausgegeben werden. Alle zur Viererkonferenz nach Ostberlin beorderten Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes werden seit Sonnabend laufend in ihre Standorte zurückberufen, um dort bei Zwischenfällen eingesetzt zu werden.38
Der Tag:
Für die Einheiten der Volkspolizei in der Sowjetzone ist vor einigen Tagen erhöhte Alarmbereitschaft angeordnet worden.
Wie aus übereinstimmenden Berichten, so vom »Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen«, hervorgeht, ist in Großstädten der Sowjetzone, vor allem in Dresden, Chemnitz, Jena, Magdeburg und in den Industriebezirken, eine verstärkte Streifentätigkeit der Volkspolizei festgestellt worden. Vor größeren Industriebetrieben seien Doppelposten aufgestellt worden. Linientreue SED-Funktionäre müssten regelmäßig die Betriebe nachts bewachen … die Arbeiter der Buna-Werke bei Magdeburg hätten die Zustimmung zur Volkskammerrede des Sowjetzonen-Ministerpräsidenten verweigert …39
Die Welt:
SED beugt Unruhen vor. Wachsende Missstimmung unter der Bevölkerung der Ostzone.
… Aufklärer der sogenannten Nationalen Front beklagen sich,40 dass ihnen bei ihren Hausbesuchen zur Propagierung des Pankower Memorandums41 und des Molotow-Plans zumeist die Tür gewiesen wird. Die Bevölkerung zeige ihnen gegenüber eine passive Resistenz.
Von der »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit« und dem »Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen« wird mitgeteilt, dass in lebhaften Diskussionen über den Verlauf der Viererkonferenz überall freie gesamtdeutsche Wahlen gefordert werden. Verschiedentlich seien SED- und FDJ-Funktionäre, die eine gegensätzliche Haltung vertraten, verprügelt worden.42
Anlage 2 (o. D.) zum Informationsdienst Nr. 2113
Die Tätigkeit der Westsender
Nachstehende Ausschnitte zeigen, wie die Sender London, Paris, Hamburg43 und der RIAS Provokationen in der DDR verbreiten.
Sender London 8.2.1954: Wenn die Berliner Konferenz scheitert, hätte das sicherlich eine tiefe, weitreichende Wirkung auf die Ostzone selbst. Man braucht nur die »Tägliche Rundschau« vom Sonnabend zu lesen,44 um zu erkennen, dass die SED oder vielmehr die Handlanger der Russen in der SED schwer besorgt sind, und ich bin persönlich sicher, dass auch Molotow besorgt ist. Er steht unter Druck – nicht nur vom Westen, sondern auch von hinter dem »eisernen Vorhang« her.
Paris 8.2.1954: In Ostdeutschland ist unter dem Vorsitz Grotewohls45 ein Dringlichkeitskomitee geschaffen worden, damit sich in der Sowjetzone die Ereignisse vom Juni vorigen Jahres nicht wiederholen. Beschlossen wurde, die Ausnahmegesetze, die nach dem 17. Juni [1953] in Kraft waren, wieder anzuwenden, falls dies erforderlich wäre.46 In mehreren großen Städten Ostdeutschlands verlangten Demonstranten auf improvisierten Versammlungen freie Wahlen. Redner der SED wurden misshandelt und Sowjettruppen kamen der Volkspolizei zur Hilfe. Es wurden zahlreiche Verhaftungen vorgenommen. So namentlich in Rostock und Stralsund.
Volkspolizei griff auch in Bitterfeld, im Elektrokombinat47 und in den Thälmannwerken48 ein. Ferner in den Dimitroff-Fabriken in Magdeburg,49 bei den IFA-Betrieben in Wernigerode.50 Mehr als 50 Personen sollen verletzt worden sein und die Zahl der Verhafteten beträgt 352.
Seit Samstag werden alle Eisenbahnbrücken und Bahnhöfe militärisch bewacht. Ebenso die meisten öffentlichen Gebäude. Es sind ferner Bewegungen von Sowjettruppen im Gange. Zwei Russische Divisionen sind nach Sachsen beordert worden, eine in die Werftenstädte an der Ostsee und eine andere nach Berlin.
Bei den Siemenswerken in Berlin und den Metallwerken in Leipzig verhaftete die Polizei Versammlungsteilnehmer, die aus ihrer Opposition keinen Hehl machten.
Hamburg 9.2.1954: In zahlreichen Orten des sowjetischen Besatzungsgebietes hat seit einigen Tagen eine Verhaftungswelle eingesetzt, nachdem es in den Betrieben und auf politischen Versammlungen häufig zu Auseinandersetzungen zwischen kommunistischen Funktionären und der Bevölkerung gekommen war. Auf einer Betriebsversammlung in der Maschinenfabrik Polysius in Dessau haben die Arbeiter eine Volksbefragung zur Wiedervereinigung Deutschlands abgelehnt und freie Wahlen gefordert. Die Versammlung musste abgebrochen werden. Transparente mit der Forderung nach freien Wahlen sind am Wochenende über Nacht auch in den Volkseigenen Leuna- und Buna-Werken angebracht worden.
In Suhl und Erfurt sind fünf kommunistische Bezirksräte abgesetzt worden. Sie wurden beschuldigt, den Wiedervereinigungswillen des deutschen Volkes sabotiert zu haben. Die Bezirksräte hatten sich für freie Wahlen ausgesprochen und die Unterschriftensammlung für eine Resolution, in der die sowjetische Deutschlandpolitik befürwortet werden sollte, als Betrug bezeichnet.
Gesamtberliner Arbeiterkonferenz in Berlin-Treptow.51 Es sollte ein Aufruf an die Arbeiter Berlins verfasst werden, der die sowjetische Deutschlandpolitik begrüßt und sich Molotows Vorschläge zu eigen macht.52
Zwei Westberliner Arbeiterdelegierte widersetzten sich nämlich und forderten wirkliche freie Wahlen. Sie wurden gewaltsam von Funktionären abgedrängt und entfernt. Und als die vorbereitete Entschließung angenommen werden sollte, da war nur noch eine Minderheit von Delegierten vorhanden. Die Mehrzahl hatte unter Protest den Saal verlassen.
Auch in Mitteldeutschland häufen sich die Fälle, in denen sich Arbeiter einzeln oder geschlossen gegen die Kampagne des FDGB zur Unterstützung der sowjetischen Deutschlandpolitik wenden und stattdessen oft unter einem noch größeren Risiko als in Ostberlin nachdrücklich freie Wahlen fordern. So ist es in Erfurt gewesen und in Apolda, in Dessau und in Suhl, in den Leuna-Werken und beim Buna-Werk in Strehlitz.53 Sogar Spitzenfunktionäre kommunistischer Bezirksverwaltungen haben sich der Forderung nach freien Wahlen angeschlossen und sich gegen die sowjetischen Deutschlandpläne geklärt.