Zur Beurteilung der Situation
11. Januar 1954
Informationsdienst Nr. 2065 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Zum Jahr der großen Initiative1 rief die Schicht Ruprecht des Braunkohlenwerkes Plessa, [Bezirk] Cottbus, alle Abteilungen und Brigaden des Betriebes zu einem Wettbewerb auf. Man stellte folgende Aufgaben: Allseitige Erfüllung des Planes bei strengster Einhaltung der Qualität, systematische Kontrolle der Qualität in allen Abteilungen, regelmäßige Produktionsberatungen und verstärkte Anwendung neuer Arbeitsmethoden.
Unzufriedenheit unter Wismut-Kumpeln2 tritt in einigen Schächten und Betrieben, besonders im Bezirk Gera auf, da verschiedene Bauten nicht winterfest gemacht wurden und dadurch einfrieren. Es entsteht eine Stockung in der Erzförderung und Schwierigkeiten in der Entladung der Waggons. Dadurch haben die Kumpel Verdienstausfall, welcher dann zu dieser schlechten Stimmung führt. Es besteht die Gefahr, dass das Plansoll nicht voll erfüllt werden kann.
Reorganisation bei der Bau-Union Stalinstadt,3 [Bezirk] Frankfurt/Oder, da aufgrund des neuen Kurses4 das Eisenhüttenkombinat »J. W. Stalin« weiter ausgebaut wird.5 Aus diesem Grunde werden ca. 3 000 Arbeiter und Angestellte in andere Gegenden versetzt. Unter den Arbeitern und Angestellten befürchtet man, dass eine Arbeitslosigkeit eintritt. Ein Teil der Angestellten bemüht sich bereits selbst nach neuen Arbeitsstellen. Von Arbeitern wird geäußert, warum die Kollegen, die hier aufgebaut haben, wegkommen sollen, während Kollegen, die keine Ahnung davon haben, nach Stalinstadt geholt werden.
Landwirtschaft
Durch Mangel an Ersatzteilen bestehen Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Winterreparaturplanes der MTS Zschölkau, [Bezirk] Leipzig.
Zur Erfassung landwirtschaftlicher Produkte wird aus Erfurt berichtet, dass Bauern mit allen möglichen Argumenten versuchen, die Restablieferung hinauszuzögern. Teilweise ist die Auffassung vorhanden, dass ihnen dies von der Regierung erlassen wird. Wie aus Schwerin berichtet [wird], sind bei Großbauern die größten Rückstände in der Sollablieferung zu verzeichnen.
Über die Verhaftung eines Großbauern, der 45 Ztr. Weizen zum Preis von 35,00 DM pro Ztr. verkaufte, mit seinem Ablieferungsprotokoll aber weit im Rückstand ist, treten im Kreis Torgau, [Bezirk] Leipzig, Diskussionen auf, dass die Verhaftung von Bauern schon wieder losgeht.
Für eine »freie Wirtschaft« einzutreten verlangt ein Großbauer aus Koppelow,6 [Bezirk] Schwerin, im Namen der Bauern dieser Gemeinde vom neugewählten Vorstand der VdgB.
Zum Anbauplan 1954 äußern sich drei Mittelbauern in Naundorf, [Bezirk] Dresden, dass die Futtergrundlage unzureichend ist und dadurch die Sollerfüllung und die Viehaufzucht leidet.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Parteischädigendes Verhalten: In einer VdgB-Versammlung in Langnow,7 [Bezirk] Potsdam, forderten einige Mitglieder die »freie Wirtschaft«. In einem Artikel der »Märkischen Volksstimme« wurde dazu Stellung genommen.8 Vier Genossen VP-Helfer mit dem 2. Kreissekretär der Partei begaben sich zu einem Gemeindevertreter, der ebenfalls diese Forderung gestellt hatte, und baten ihn zu einer Aussprache auf die Straße. Dort wurde er niedergeschlagen.9 Ein ähnlicher Fall ereignete sich schon in der Silvesternacht, wo die gleichen Genossen VP-Helfer10 mit Armbinden, KK-Gewehren und Gummiknüppeln im Lokal Jacobs in Pritzwalk als Lokalkontrolle von einem Arbeiter, welcher Eintrittskarten verkaufte, nicht ohne Eintritt hineingelassen wurden. Die Ausweise zu zeigen, verweigerten sie und forderten den Arbeiter auf, mit auf die Straße zu kommen, wo er so geschlagen wurde, dass er sich in ärztliche Behandlung begeben musste. Der 2. Kreissekretär wurde seiner Funktion enthoben. Die Bevölkerung nimmt zu diesem Verhalten sehr scharf Stellung und es werden in Pritzwalk und Umgebung keine Versammlungen mehr besucht.
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter traten verstärkt in den Bezirken Potsdam und Berlin, schwächer in den Bezirken Frankfurt/Oder und Cottbus auf.
Postwurfsendungen wurden vereinzelt aus den Bezirken Frankfurt/Oder und Karl-Marx-Stadt bekannt. Neuerscheinungen wurden nicht gemeldet.
Vermutlich organisierte Feindtätigkeit
Zerstörung: Am 8.1.1954 wurde auf dem Flussfahrgastschiff »Baikal« in Rostock das Vollstromaggregat unbrauchbar gemacht,11 indem man nach dem Probelauf des Aggregats, am 29.12.1953, das Kühlwasser nicht entfernte. Durch Einsetzen des Frostes platzten der Zylinderkopf und Zylinderblock. Der verantwortliche Meister wurde republikflüchtig.
Explosion: Am 8.1.1954 explodierte in der Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« in Bogensee,12 [Bezirk] Frankfurt/Oder, der Hochdruckkessel für die Trinkwasserversorgung, der Sachschaden beträgt 2 500 DM. Ursache unbekannt.
Gerücht: In Görlitz, [Bezirk] Dresden, wurde das Gerücht verbreitet, dass der 25.1.1954 ein »neuer Tag X« wird.13 Dieser würde nicht so schlecht organisiert werden wie der letzte, da der ganze Stahlhelm14 mit auf den Beinen sei.
Einschätzung der Situation
Die Lage hat sich gegenüber den Vortagen nicht verändert.
Anlage (o. D.) zum Informationsdienst Nr. 2065
Anhang zur Stimmung über die bevorstehende Viererkonferenz
Die Diskussionen zur bevorstehenden Viermächtekonferenz halten weiterhin an.15 Eine Änderung in der Argumentation gegenüber den Vortagen ist in den bekannt gewordenen Meinungsäußerungen nicht zu verzeichnen. Das ständige Eintreten der SU für die Interessen des deutschen Volkes, die Forderung, Teilnahme deutscher Vertreter aus Ost und West (besonders durch Unterschriftensammlung),16 vor allem aber die Hoffnung auf Entspannung und Lösung der Deutschlandfrage, sind Argumente, die meist in Erscheinung treten. [Ein] Elektriker (parteilos) vom VEB ABUS Gießerei und Maschinenfabrik Berlin: »Ich glaube jetzt auch daran, [dass] die SU den Frieden will, sonst hätte sie sich nicht so für eine Viererkonferenz eingesetzt.«
Arbeiter aus dem VEB Berger, Pößneck,17 [Bezirk] Gera: »Jetzt sind acht Jahre vorbei und da muss doch endlich durch Verhandlungen etwas Positives erreicht werden. Vor allen Dingen müssen deutsche Vertreter dazu auf dieser Konferenz sprechen.«
Angestellter der Bau-Union Stralsund, [Bezirk] Rostock: »Ich hoffe, dass man auf dieser Konferenz einen Weg zur Einheit Deutschlands findet, dann werden unsere wirtschaftlichen Erfolge noch weit größer werden.«
Eine nicht gerade geringe Zahl nehmen solche Stimmen ein, die an einem positiven Ausgang der Viermächtekonferenz Zweifel äußern. Negative Stimmen wurden nur in geringem Maße bekannt. Hier zeigen sich Argumente, wie zum Beispiel, dass an der Oder-Neiße-Grenze die Konferenz scheitern müsse, teils wird auch von Umsiedlern die Hoffnung auf Rückkehr in ihre ehemalige Heimat damit in Zusammenhang gebracht. Neben der Forderung nach freien Wahlen, wurden vereinzelt Stimmen bekannt, welche die Unterschriftensammlung als Zwangsmaßnahme bezeichnen, sowie andere hetzerische Argumente, die sehr unterschiedlich sind, sich aber meist gegen Partei und Regierung oder die SU richten.18
Lehrlingsausbilder vom VEB Transformatorenwerk »Karl Liebknecht« Berlin: »Bei solchen Dingen, wie diese Konferenz, bin ich sehr skeptisch. Bis zum 25.1.1954 ist noch lange Zeit. Ich glaube nicht eher an ein Gelingen, bis sie sich zusammensetzen und sich wirklich einigen.«
Einwohner aus Cottbus: »Die Konferenz wird an der Frage der Oder-Neiße-Grenze scheitern, da der Osten sie nicht zurücknehmen will, ich erkenne sie auch nicht an, da ich hoffe, bald wieder in meine Heimat zurückzukehren.«
Bäuerin aus Alt-Rosenthal,19 [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Ich will vor allem bei uns eine freie Wahl haben. Bei der jetzigen Regierung stecken wir sowieso in einer Zwangsjacke. Ich will frei leben wie im Westen.«
Schauspieler, Theater der Freundschaft Berlin: »Ich empfinde die Unterschriftensammlung als einen Zwang. Dies ist wieder das Gleiche wie vor dem 17.6.1953. Die Partei bestimmt und alles soll sich fügen.«
Angestellter aus Görsdorf,20 [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Ich unterschreibe nicht, ich will meine Ruhe haben und verhalte mich lieber neutral.«