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Zur Beurteilung der Situation

30. Juni 1954
Informationsdienst Nr. 2249 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Über politische Tagesfragung wird im geringen Umfange gesprochen. Im Mittelpunkt dieser Diskussionen steht die Volksbefragung.1 Ganz vereinzelt wurden uns Stimmen zum Überfall auf Guatemala [bekannt].2 Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Spinn- und Zwirn-Werk,3 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Aggression der Amerikaner in Guatemala ist eine große Gemeinheit. Dadurch hat sich der Imperialismus erneut vor der Weltöffentlichkeit entlarvt.«

Die meisten Diskussionen der Werktätigen werden über verschiedenartige betriebliche Angelegenheiten geführt. Missstimmungen bestehen in einigen Betrieben über Lohnfragen. In der Mathias-Thesen-Werft Wismar, [Bezirk] Rostock, herrscht unter den Konstrukteuren Missstimmung, da die vom Leiter des Konstruktionsbüros vorgeschlagene Gehaltserhöhung von der Werftleitung abgelehnt wurde.

Im IFA-Phänomenwerk Zittau, [Bezirk] Dresden, sind die Reinigungsfrauen verärgert, da man ihren Monatslohn von 189 DM auf 166 DM monatlich gekürzt hat. Eine parteilose Putzfrau sagte: »Unsere Regierung hat im neuen Kurs beschlossen, die Löhne und Gehälter nicht zu kürzen.4 Hier sieht man, wie die Beschlüsse der Regierung eingehalten werden, wenn sie die unteren Stellen nicht achten.«

Im VEB Schlepperwerk Schönebeck, [Bezirk] Magdeburg, herrscht unter den Drehern eine Unzufriedenheit und Missstimmung über die schlechte Arbeitsorganisation sowie über die unzureichende Bereitstellung von geeignetem Werkzeug, welches zu vielen Wartezeiten oder Übergangsarbeiten und somit zu Lohnminderungen führt. Die Dreher diskutieren, dass sie in diesem Betrieb kündigen wollen.

Produktionsschwierigkeiten, die wegen Materialmangel entstanden. Dem VEB Falgard in Falkenstein,5 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurde am 28.6.1954 mitgeteilt (von der VVB Deko Plauen), dass er für das III. und IV. Quartal 1954 keine Feingarne erhalten kann, da angeblich der Import von Kermakbaumwolle6 eingestellt sei. Dies bedeutet, dass alle bereits geplanten und abgeschlossenen Verträge, wo diese Feingarne mit eingerechnet sind, abgeändert werden müssen. Weiterhin wird alles, was bei den vergangenen Submissionen vertraglich festgelegt wurde, durch diese Maßnahmen ungültig.

Im VEB Kraftverkehr Plauen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, besteht ein Mangel an Reifen in der Größe 1 200 × 22, sodass bereits am 28.6.1954 ein Bus stillgelegt werden musste. Der Betriebsleiter vom VEB Kraftverkehr erklärte hierzu, dass dies auch bei den anderen Fahrzeugen noch eintreten kann, wenn nicht baldigst neue Bereifung eintrifft.

Im Glaswerk Kamenz, [Bezirk] Dresden, liegt in diesem Monat die Planerfüllung bei 50 Prozent. Die Ursache ist der Ausfall von Häfen7 und schlechtes Material.

Im Landmaschinenwerk Barth, [Bezirk] Rostock, macht sich ein Engpass in der Materialversorgung bemerkbar. Hierdurch konnte die Planauflage an Düngerstreuern und Rübenschneidern, die sich durch die Beschlüsse des IV. Parteitages noch erhöht haben,8 nicht erfüllt werden. Zum Teil können halbfertige Maschinen nicht fertiggestellt werden, weil beispielsweise für die Düngerstreuer Winkeleisen 50 × 50 × 7, welche vom Walzwerk Riesa geliefert werden, nicht geliefert wurden. Die gleichen Schwierigkeiten treten in der Produktion von Wiesenwalzen auf.

In der Schiffsbauwerft in Stralsund, [Bezirk] Rostock, fielen am 25.6.1954 177 und am 26.6.1954 157 Wartestunden an. Dadurch ist ein Planrückstand der beiden Gefrierschiffe mit insgesamt 16 000 Stunden zu verzeichnen.

Im BKW »Glück auf« Hoyerswerda, [Bezirk] Cottbus, bestehen Schwierigkeiten in der Versorgung mit Schienen und Schwellenmaterial. Durch den Einsatz von 75 t E-Loks und 40 t Kohlenwagen, häufen sich die Schienenbrüche. Vermutliche Ursache: schlechte Stahlproduktion.

In verschiedenen Betrieben besteht ein Mangel an Arbeitskräften. Auf der Kohlenbanze im Bw-Stralsund, [Bezirk] Rostock, ist ein Mangel an Arbeitskräften vorhanden. Unter den Beschäftigten besteht eine Verärgerung, da aus diesem Grunde der Jahresurlaub nicht abgewickelt werden kann.

Im VEB Zellwolle Wittenberge, [Bezirk] Schwerin, fehlen ca. 100 Arbeitskräfte. Dies wirkt sich negativ auf die Planerfüllung aus.

Im VEB Schreibmaschinenwerk Dresden fehlen Transportarbeiter. In fast allen VEB im Kreis Sonneberg, [Bezirk] Suhl, mangelt es an Arbeitskräften.

Produktionsstörung: Durch die Oberzugleitung Cottbus wurde gemeldet, dass aus dem Sonderzug 19.156 von Neupetershain nach Holland acht Waggons, welche mit Kohle beladen waren, wegen Heißläufer ausgesetzt werden.

Handel und Versorgung

Aus dem Bezirk Halle wird berichtet, dass die Versorgung der Bevölkerung mit HO-Fleischwaren, Butter und Margarine verschiedentlich noch unzureichend ist. Zum Beispiel steht die Bevölkerung im Kreis Aschersleben Schlange vor den HO-Fleischgeschäften.

In Magdeburg bestehen weiterhin große Schwierigkeiten im Absatz von Schlachtfetten. Bei einer größeren Menge besteht die Gefahr des Verderbens.

Im Kreis Ilmenau, [Bezirk] Suhl, lagern ca. 8 t Schokoladenerzeugnisse, die verderbgefährdet sind. Im Bezirk Suhl besteht eine große Nachfrage nach Stärkeerzeugnissen, Haferflocken, Käse und Tee. Außerdem fehlt es an Textilien, Frottierhandtüchern und Bettwäsche sowie an Emaillewaren und Motorrädern.

Im Kreis Perleberg, [Bezirk] Schwerin, mangelt es an Emaille-Geschirr sowie an Sommerstoffen und Konfektion.

Landwirtschaft

Im Vergleich zu den Vortagen hat sich in der Stimmung der Landbevölkerung keine wesentliche Veränderung ergeben. Im Mittelpunkt der gering geführten, politischen Diskussionen steht die Volksbefragung, darüber wird im Anhang berichtet. Nach wie vor besteht ein größeres Interesse für die wirtschaftlichen Fragen.

Im Kreis Calau, [Bezirk] Cottbus, sind Bauern verärgert, weil das Ablieferungsgewicht von Kälbern von 40 auf 50 kg heraufgesetzt wurde. Sie sind der Meinung, dass dadurch sehr viel Milch benötigt wird, die bei der bestehenden Futterknappheit dringend zur Sollerfüllung gebraucht wird.9

Im Kreis Grimmen, [Bezirk] Rostock, wird über Landhelfer aus Thüringen geklagt. Sie benehmen sich flegelhaft und bei dem geringsten Anlass verlassen sie die Arbeitsstelle.10

Von den LPG und MTS

In der LPG Polenz, [Bezirk] Dresden, besteht ein großer Mangel an Arbeitskräften, sodass die zu bearbeitenden Flächen (46 ha) nicht ordnungsgemäß bearbeitet werden können. Auf der LPG Bernitt, [Bezirk] Schwerin, wurde der Arbeitsablauf schlecht organisiert, sodass ein großes Durcheinander herrscht, was auf das Fehlen von Fachkräften zurückzuführen ist.

Von den MTS wird immer wieder über den Mangel an Ersatzteilen geklagt, z. B. kann die Reparaturwerkstatt der MTS Seehausen, [Bezirk] Magdeburg, durch das Fehlen von Ersatzteilen fünf Dreschmaschinen und mehrere Raupen KS 62 nicht reparieren.11

Den Reparaturwerkstätten im Kreis Aschersleben, [Bezirk] Halle, fehlen Ersatzteile für die Spezialgeräte, wie z. B. für den Schlepper KS 52 und Stalinez 4.12

Der MTS Taubenheim,13 [Bezirk] Dresden, wurden im II. Quartal nicht die erforderlichen Maschinen geliefert, die von der MTS schon eingeplant waren. Dadurch entstehen Schwierigkeiten in der Planerfüllung.

Der MTS Weißkeißel,14 [Bezirk] Cottbus, mangelt es an Benzin, sodass die Maschinen nicht voll eingesetzt werden können. Dadurch können die Verträge nicht eingehalten werden und die Bauern sind darüber empört.

Negative bzw. feindliche Stimmen wurden nur vereinzelt bekannt. Ein Mittelbauer aus Wildenhain, [Bezirk] Dresden, sagte: »Die Regierung der DDR hat in der folgenden Zeit die Absicht, uns Bauern zu liquidieren.«15

In der Gemeinde Milda, [Bezirk] Gera, wurde von großbäuerlichen Elementen eine Unterschriftensammlung durchgeführt, zwecks Herabsetzung der Strafe eines Großbauern, der am 17. Juni 1953 beteiligt war.

Übrige Bevölkerung

Weiterhin ist zu verzeichnen, dass unter der übrigen Bevölkerung ein geringes Interesse für politische Tagesfragen vorherrscht. Vorwiegend wird über wirtschaftliche Probleme gesprochen. Im Bezirk Suhl wird von Hausfrauen bemängelt, dass das Gemüse in Konsum und HO teurer als beim Einzelhandel ist. Dazu äußerte ein Kollege vom Konsum in Suhl: »Hoffentlich wird der Plan im Jahre 1955 so aufgestellt, dass der Bezirk Suhl sein Gemüse nicht mehr in Sachsen holen muss, sondern auch wie der Privathändler in Erfurt. Der lange Anmarschweg verteuert die Ware und vermindert sie in der Qualität. Der staatliche Handel bringt seine Waren dadurch nicht nur teurer, sondern bedeutend später auf den Markt, als der Einzelhandel.«

In der Konsumverkaufsstelle Rosenow, [Bezirk] Schwerin, herrschen äußerst unhygienische Zustände in der Lagerung der Ware. Zum Beispiel wird das Brot im Büro des Bürgermeisters gelagert und leicht verderbliche Waren werden nur im Keller aufbewahrt. Außerdem ist die Verkaufsstelle so klein, dass die Kunden auf dem Flur stehen müssen und keine Möglichkeit der Auslegung des Warensortiments vorhanden ist.

Im Kreis Herzberg, [Bezirk] Cottbus, geht die Versorgung mit Rohnbraunkohle nur schleppend voran. Deshalb soll jetzt Förderkohle zur Hausbrandversorgung ausgegeben werden, die aber von der Bevölkerung nicht abgenommen wird.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriftenverteilung

SPD-Ostbüro:16 Schwerin 14 500, Cottbus 61 200, Wismutgebiet17 62, Suhl 4 000, Halle 10 200, Gera 51, Dresden 131, Magdeburg 35, Rostock 11 970, Frankfurt/Oder 50 000, Neubrandenburg 42 230.

In tschechischer Sprache: Dresden 38.

Aus den Bezirken Lichtenberg, Prenzlauer Berg, Mitte, Friedrichshain und Weißensee wurde am 29.6.1954, gegen 16.00 Uhr eine starke Flugblatttätigkeit gemeldet. Es handelt sich um Flugblätter der KgU,18 die in einem Briefumschlag ohne Absender nach Westdeutschland geschickt werden sollen. In Wilhelmshagen, Groß-Berlin, wurden ca. 1 500 Flugblätter in der Größe einer Fahrkarte aufgefunden. Sie enthalten die Forderung: »Kämpft mit uns für die Befreiung der Gefangenen des kommunistischen Verbrechersystems.«

Antidemokratische Tätigkeit

In Schwerin und Rostock wurden Hetzlosungen angeschrieben. In Wiek auf Rügen, [Bezirk] Rostock, wurde ein Mauerstein in ein Wahllokal geworfen.

Einem Mitglied des Wahlvorstandes der Gemeinde Fehrow, [Kreis] Cottbus, der mit seinem Motorrad zum Schlepperdienst eingesetzt war, wurde dieses umgekippt und der Tank mit Wasser gefüllt. In Retzlow,19 Kreis Strausberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder, wurde das Motorrad eines Instrukteurs, der zur Volksbefragung eingesetzt war, schwer beschädigt.

Zwischen Landwehr und Falkenhain,20 Kreis Luckau, [Bezirk] Cottbus, wurde eine Telefonleitung, die von der Sowjetarmee an die Deutsche Post übergeben wurde, durchgeschnitten. Am Mast befand sich oben ein blauer Dreieckwimpel und unten eine Hetzlosung in russischer Schrift.

Anlage 1 vom 30. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2249

Stimmung zur Volksbefragung

Industrie und Verkehr

Die Diskussionen zur Volksbefragung haben im Vergleich zu den Vortagen etwas abgenommen. Die bekannt gewordenen Stimmen sind überwiegend positiv und stammen meist von Arbeitern. Man erwartet, dass sich der größte Teil für den Frieden entschieden hat. Vereinzelt wurden negative bzw. feindliche Stimmen bekannt. Hierzu einige Beispiele.

Ein Schieferarbeiter aus Heberndorf, [Bezirk] Gera, sagte im Abstimmungslokal, als er seinen Stimmzettel erhielt, Folgendes: »Für mich kommt nur die EVG infrage.« (Gemäß seinen Worten stimmte er öffentlich für die EVG.)21

Ein Angestellter der Reichsbahn aus Lößnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt (Anhänger der Sekte »Zeugen Jehovas«):22 »Ich gehe nicht zur Volksbefragung, ich lehne jede Politik ab. Nur Gott macht Gesetze und schwache Menschen glauben auch, Gesetze machen zu können. Ihr könnt machen was ihr wollt, meinen Gott verlasse ich nicht und ich gehe nicht zur Wahl.«

Ein Kollege vom Steuerungsbau des LEW Hennigsdorf suchte ein für ihn nicht zuständiges Wahllokal mit seiner Ehefrau auf. Er erhielt dort auch einen Stimmschein. Als er die Wahlkabine verlassen hatte, war inzwischen festgestellt worden, dass er im Sonderwahllokal abstimmen müsste, da er staatenlos ist. Er wurde aufgefordert, die ausgefüllten Stimmscheine zu vernichten. Später wurde festgestellt, dass er, wie auch seine Ehefrau, für die EVG gestimmt hatten.

Ein Kraftfahrer (parteilos) aus Rodewisch, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Volksbefragung ist ohne Friedenstauben, denn die sind alle fortgeflogen und kommen auch nicht wieder. Sie sind dorthin, wo mehr Frieden ist und wo sie mehr zu fressen haben als bei uns. Nun müssen wir wieder neue züchten und deshalb die Volksbefragung.«

Landwirtschaft

Die Stimmung und Beteiligung der Landbevölkerung an der Volksbefragung ist gut. Überwiegend wird positiv diskutiert und dabei zum Ausdruck gebracht, dass sie gern ihre Stimme für den Frieden geben, weil sie den Krieg verabscheuen. So sagte z. B. ein Kollege der MTS Basedow, [Bezirk] Neubrandenburg: »Es wird doch wohl Sache eines jeden aufrechten Deutschen sein, für einen Friedensvertrag zu stimmen. Wir wollen doch unsere Felder in Frieden und Glück bestellen, wir werden nie zulassen, dass unser Boden wie in Westdeutschland für Übungsgelände und später vielleicht als Kriegsschauplatz dient. Aus diesem Grunde stimme ich bei der Volksbefragung für den Friedensvertrag und den Abzug aller Besatzungstruppen.«23

Nur vereinzelt wurden negative bzw. feindliche Stimmen bekannt, die es ablehnten, zur Abstimmung zu gehen. Entweder aufgrund ihrer feindlichen Einstellung, oder auch weil sie über irgendwelche wirtschaftlichen Dinge verärgert sind. Größtenteils stammen diese Stimmen aus den Kreisen der Groß- und Mittelbauern sowie von ehemaligen Umsiedlern. Ein Bauer aus Altentreptow, [Bezirk] Neubrandenburg: »In der DDR gibt es keine persönliche Freiheit. Außerdem erkenne ich als Umsiedler die Oder-Neiße-Friedensgrenze nicht an und habe den Wunsch, meine Heimat wiederzubekommen.«24

Eine Bäuerin aus Cölpin, [Bezirk] Neubrandenburg, äußerte: »Keiner dürfte zur Volksbefragung gehen, sondern alle müssten vor das Wahllokal gehen und ihre Heimat zurückfordern.« (Sie ist eine ehemalige Umsiedlerin.)

Ein Mittelbauer aus Pechtelsgrün, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Vor dem Kaiser musste man strammstehen, dann später vor Hitler und beide mussten abtreten. Was wird mit dieser Regierung? Aus diesem Grunde gehe ich nicht zur Volksbefragung.«

Ein Großbauer aus Niederlandin in Frankfurt: »Es wird ein Theater wegen dieser Abstimmung gemacht. Ich würde meine Stimme sofort geben, wenn es darum ginge, dass die Russen abziehen.«

Im Kreis Jena diskutierten einige Großbauern, dass der EVG-Vertrag durchkommen müsse, damit die Russen einen Pflock zurückstecken, anderenfalls müssten noch viele Großbauern im Herbst ihre Wirtschaft im Stich lassen.25

Eine Mittelbäuerin aus Bebendorf, [Bezirk] Gera,26 sagte zum Vorsitzenden der Nationalen Front:27 »Ich gehe nicht zur Abstimmung, denn diese Idioten kommen auch nicht zu mir und helfen mir in der Landwirtschaft.« Eine Landarbeiterin, beschäftigt bei einen Großbauern im Kreis Stralsund: »Es ist doch alles Quatsch, es kommt doch, wie es kommen soll. Ich gehe nicht zur Abstimmung.«

In der Gemeinde Orlamünde, [Bezirk] Gera, erklärte der Bürgermeister (CDU), dass er es ablehnt, zur Abstimmung zu gehen und außerdem äußerte er, wenn es gegen die SED geht, muss [sic!] die CDU und LDP zusammenhalten. (Er wurde seiner Funktion enthoben.)

Der Bürgermeister der Gemeinde Pragsdorf28 und dem Ortsteil Georgendorf, [Bezirk] Neubrandenburg, war am 26. und 27.[6.1954] betrunken und die Stimmscheine wurden von ihm erst mit einer halben Stunde Verspätung in das Abstimmungslokal gebracht, was zur Verärgerung der Einwohner führte.

Im volkseigenen Gut Kittendorf, [Bezirk] Neubrandenburg, verpflichteten sich alle Arbeitskollegen, ihre Frauen zur Abstimmung mitzubringen. Als von Jugendfreunden die Frau des Betriebsleiters, der sich auch dazu verpflichtet hatte, aufgefordert wurde,29 zur Abstimmung zu kommen, erklärte dieser: »Meine Frau kommt heute noch nicht, denn wir haben bis Dienstag Zeit für die Abstimmung und außerdem geht ihr [sic!] der Beschluss der Belegschaft des volkseigenen Gutes gar nichts an.«

Übrige Bevölkerung

Während sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung an der Abstimmung beteiligte, lehnte ein geringer Teil die Stimmabgabe ab. Hierzu gehören besonders Pfarrer. Ferner hat sich der größte Teil der Anhänger der verbotenen Sekte »Zeugen Jehova« an der Abstimmung nicht beteiligt. Andere, vereinzelt bekannt gewordene ablehnende Äußerungen stammen aus kleinbürgerlichen Kreisen sowie von ehemaligen Umsiedlern (Beispiele von Pfarrern siehe Anhang).30

In Golßen, [Bezirk] Cottbus, lehnten sechs Personen, die als Anhänger der »ZJ« bekannt sind, ihre Teilnahme an der Volksbefragung ab. In der Gemeinde Schwarzburg, [Bezirk] Gera, erschienen sechs Personen (ZJ) nicht zur Abstimmung. Ein Anhänger der »ZJ« aus Frohburg, [Bezirk] Leipzig, äußerte: »Die Volksbefragung vereinbart sich nicht mit unserem Glauben. Ich gehe deshalb nicht zur Abstimmung.«

Ein Fuhrunternehmer aus Liebke,31 [Bezirk] Cottbus: »Lieber 50 Jahre Besatzung als die Einheit Deutschlands. Da kann ich wenigstens noch 50 Jahre leben.«32

Eine Geschäftsfrau aus Berlin, Schönhauser Straße verweigerte die Teilnahme an der Abstimmung unter dem Vorwand, krank zu sein.

Ein Zahnarzt aus Berlin, Schöhauser Allee: »95 Prozent haben bereits abgestimmt, da brauche ich meine Stimme nicht mehr abzugeben.«

Ein SPD-Abgeordneter aus Berlin-Friedrichshain erklärte, dass er mit der Volksbefragung nicht einverstanden ist und seine Stimme nicht abgibt.

Einige Umsiedler aus dem Kreis Hildburghausen, [Bezirk] Suhl, brachten zum Ausdruck: »Wir brauchen eine EVG, um wieder in die Heimat zu kommen.«

Zwei Frauen aus Berlin, Chrysanthemenstraße: »Gebt uns erst unsere Heimat jenseits der Oder-Neiße wieder, dann wählen wir.«

Anlage 2 vom 29. Juni 1954 zum Informationsdienst Nr. 2249

Über die negative Einstellung von Pfarrern aus der DDR zur Volksbefragung

Neben positiven Beispielen, in denen Pfarrer bereits am 27.6.[1954] ihre Stimme zur Volksbefragung abgaben und sich in Gesprächen für den Frieden aussprachen, wird mehrfach aus fast allen Bezirken berichtet, dass ein Teil der Pfarrer es ablehnt, sich an der Volksbefragung zu beteiligen bzw. eine feindliche Haltung dazu einnimmt. Hierzu folgende Beispiele. (Die Äußerungen wurden größtenteils gegenüber Wahlhelfern getätigt, die die Pfarrer zur Stimmabgabe aufforderten.)

Der Pastor aus Greifswald lehnte es auch nach mehrmaliger Aufforderung ab, zur Abstimmung zu gehen.

Die Frau des Pastors aus Boltenhagen, [Kreis] Grevesmühlen, [Bezirk] Rostock, stellte bei der Abstimmung, als sie ihren Stimmzettel in die Urne stecken wollte, fest, dass er etwas eingerissen war. Sie bat um einen neuen und warf den alten zerknüllt in eine Ecke. Als man nachsah, stand auf dem Stimmzettel: »nur für EVG

Der Pfarrer aus Zecherin,33 [Kreis] Wolgast, [Bezirk] Rostock, ließ am 27.6.[1954] 15 Arbeiter im Wald für sein Haus Holz schlagen. Es war zu verzeichnen, dass außer diesen 15 Arbeitern alle Einwohner des Ortes ihre Stimme abgegeben hatten.

In der Gemeinde Warthe, [Kreis] Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, haben bis auf den Pfarrer und seine Frau sämtliche Personen abgestimmt.

Der Pastor der Gemeinde Kieve, [Bezirk] Neubrandenburg, erschien bis 28.6.[1954] noch immer nicht zur Wahl. Er ist die einzige Person aus Kieve, die ihre Stimme noch nicht abgegeben hat.

In Leuna, [Bezirk] Halle, wurde festgestellt, dass am 27.6.[1954] bis 20.00 Uhr kein einziger Pfarrer zur Wahl war. Des Weiteren weigern sich zwei »Zeugen Jehovas« zur Wahl zu gehen.

Der Pfarrer aus der Gemeinde Micheln, [Bezirk] Halle, lehnt es ab, seine Stimme für die Volksbefragung zu geben.

Der Pfarrer aus Zaue,34 Kreis Lübben, [Bezirk] Cottbus, lehnte die Teilnahme an der Volksbefragung ab, dass er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne, da aus seinem Wirkungsbereich 60 Kriegsgefangene bisher noch nicht zurückgekehrt sind. Die übrigen Familienangehörigen des Pfarrers lehnten es ebenfalls ab, an der Volksbefragung teilzunehmen.

In Müglenz, [Kreis] Wurzen, [Bezirk] Leipzig, äußerte der Pfarrer: »Unsere vorgesetzten kirchlichen Dienststellen wünschen nicht, dass wir uns an der Wahl beteiligen.« Eine ähnliche Ansicht vertrat der Pfarrer aus Nemt, Kreis Wurzen.

Der Pfarrer aus Kalbe, Kreis Milde,35 [Bezirk] Magdeburg, äußerte, als man ihn aufforderte, zur Abstimmung zu kommen, dass er sich nicht zwingen lässt und zum anderen auch noch bis Dienstag Zeit dazu habe.

Der Pfarrer aus Großsächtingen,36 Kreis Stendal, [Bezirk] Magdeburg: »Der Adenauer37 ist der Politiker unserer Zeit. Man sollte wählen, die Regierung der DDR oder die Regierung Westdeutschlands.«

Ein Pfarrer aus Glaubitz, [Bezirk] Dresden: »In dieser Abstimmung stehen sich zwei Lager gegenüber, Kommunismus und Kapitalismus, und deshalb gehe ich nicht zur Abstimmung, denn ich bin unpolitisch.«

Ein Pfarrer aus Peritz, Kreis Riesa, [Bezirk] Dresden: »Ich lehne die Volksabstimmung ab, da sie ein Verstoß gegen die Verfassung ist.«

Der Katholische Pfarrer aus Bischofswerda, [Bezirk] Dresden: »Meine Stimme allein ist nicht entscheidend und es wird übrigens auch nicht von der Menschheit entschieden, ob Krieg, oder Frieden ist. Der Frieden wird vielleicht nur durch den Krieg gebracht. Es bedarf bei mir keiner Aufklärung mehr, mein Weg ist klar und ich verzichte auf die Volksbefragung.«

Der Superintendent aus Blumberg, Kreis Angermünde, [Bezirk] Frankfurt/Oder, erschien im Wahllokal und äußerte, dass er sich nicht an der Abstimmung beteiligen wird und für sein Verhalten auch keine Begründung abgibt.

Ein Pfarrer aus Schöndorf, Kreis Schleiz, [Bezirk] Gera, weigerte sich, an der Volksbefragung teilzunehmen mit der Begründung, dass er dies mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne. Die beiden Pfarrer aus Zeulenroda, [Bezirk] Gera, wurden ebenfalls angesprochen. Dabei erklärte der eine Pfarrer, dass er nicht kommen könne, da er sich krank fühle.

Der Pfarrer aus der Gemeinde Fahren,38 [Bezirk] Potsdam, ließ die Aufklärer einfach stehen.

Der Kreisjugendpfarrer aus Beveringen,39 Kreis Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, erklärte: »Die Christen brauchen vor der Atombombe keine Angst zu haben, Gott hält schützend seine Hand über sie.«

Der Pfarrer aus Manker, Kreis Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, gebrauchte die Ausrede, dass die Formulierung der Fragen so sei, dass er sich kein klares Bild machen könne und er somit auch keine Entscheidung treffen kann.

Anlage 3 (o. D.) zum Informationsdienst Nr. 2249

Stimmung zur Volksbefragung unter Westberlinern, die im demokratischen Sektor von Berlin arbeiten

Von den im St. Hedwigskrankenhaus beschäftigten 48 Westberlinern, haben sich nur drei an der Abstimmung beteiligt. Die anderen Beschäftigten erklärten, dass sie kein Geld mehr in Westberlin umgetauscht bekommen, wenn sie sich hier an der Abstimmung beteiligten.

Im Städtischen Krankenhaus Buch wurde eine Versammlung mit den in Westberlin wohnenden Ärzten durchgeführt (einschl. Pflegepersonal). Von den eingeladenen 23 Mitarbeitern nahmen 13 an der Versammlung teil. Darunter befanden sich eine Oberärztin und fünf Assistenzärzte. Alle Anwesenden stimmten durch Erheben ihrer Hand für den Abschluss eines Friedensvertrages und den Abzug der Besatzungstruppen. In den Diskussionen kam zum Ausdruck, dass die Ärzte wirtschaftliche Repressalien vonseiten des Senats befürchten und aus diesem Grunde ihre Unterschrift bei der Abstimmung nicht geben möchten. [Name] äußerte, dass bei Bekanntwerden ihrer Teilnahme an der Volksbefragung mit Entzug des Geldumtausches zu rechnen sei.

Im VEB Schering stimmten 29 Westberliner Kollegen, davon sechs öffentlich, für den Abschluss eines Friedensvertrages. Ein Kollege bat, von einer Veröffentlichung des Wahlergebnisses im VEB Schering Abstand zu nehmen.

Ein großer Teil der Professoren und Angestellten der Humboldt-Universität, die in Westberlin wohnen, wollen nicht an der Volksbefragung teilnehmen. Sie bringen das Argument, dass es gesetzwidrig ist, als Westberliner an der Volksbefragung teilzunehmen, da es nicht im Gesetzblatt der DDR geschrieben steht.

Die auf dem Nordbahnhof Berlin beschäftigen 15 Arbeiter aus Westberlin erklärten sich bereit, ihre Stimme zur Volksbefragung abzugeben. Ein Westberliner Kollege erklärte, dass er lange Jahre Soldat war und nichts mehr wissen will von einem Krieg.

Ein Westberliner Stellwerkmeister auf dem Bahnhof Pankow sagte: »Selbstverständlich geben wir auch als Westberliner unsere Stimme für den Frieden, denn in dieser Situation gibt es keine Frage der Situation.«

Ein parteiloser Westberliner Schlosser vom Bahnbetriebswerk Schöneweide: »Ich werde meine Stimme abgeben und gleich zur Wahlurne gehen, denn dieser Saubande in Westberlin muss doch endlich einmal das Handwerk gelegt werden.« Ein Westberliner parteiloser Lokführer vom Bahnbetriebswerk Schöneweide sagte am 24.6.[1954] zur Volksbefragung: »Ich begrüße die Volksbefragung und werde von meinem Stimmrecht Gebrauch machen, da ich in Westberlin nicht die Möglichkeit dazu habe.«

Ein Westberliner Kollege, Rangierer auf dem Bahnhof Pankow: »Was geht das uns als Westberliner an, damit haben wir doch nichts zu tun. Wir können sowieso nichts machen, wir sind ja viel zu klein.«

Über die Volksbefragung in Westberlin

Am 26.6.[1954] wurde im BW Grunewald mit der Durchführung der Volksbefragung begonnen. Bereits in den ersten Stunden beteiligte sich der größte Teil der Kollegen an der Stimmabgabe. Gegen 9.00 Uhr erschienen im BW Grunewald drei Mannschaftswagen mit ca. 100 Stupos,40 die versuchten, die Durchführung der Volksbefragung zu verhindern. Der Betrieb wurde von ihnen sofort abgeriegelt. Ein Kommando von 20 Polizisten unter Führung von fünf Offizieren versuchte, in die Räume der Verwaltung einzudringen und die Tür des Personalbüros gewaltsam zu öffnen. Durch den Widerstand der anwesenden Kollegen wurde dies verhindert. Es wurden sofort alle Sirenen in Tätigkeit gesetzt. Die Kollegen legten ihre Arbeit nieder und stellten sich vor die Stupos. Die wurden aufgefordert, dass Gelände zu verlassen. Durch die entschlossene Haltung der Kollegen und Genossen wurde das Kommando zurückgezogen.

Der Dienstvorsteher der Bahnmeisterei Wannsee führte eine Versammlung durch und ließ dabei auch geheim abstimmen. Noch während der Versammlung wurde der Dienstvorsteher von der Stummpolizei festgenommen. Die Wahlurne wurde ebenfalls von der Stummpolizei mitgenommen.

Bei der auf dem Güterbahnhof Spandau durchgeführten Volksbefragung haben von 67 Wahlberechtigten nur 36 Personen teilgenommen. Von den übrigen Kollegen wurde die Meinung vertreten, dass auch in diesem Jahr Namenlisten über die Volksbefragung, genau wie über das Verbot der Atomwaffen im vorigen Jahr im »Spandauer Volksblatt«41 veröffentlicht werden und für die die Gefahr bestehe, keinen Geldumtausch zu bekommen.

Der Dienststellenleiter vom Bahnhof Staaken sagte zur Volksbefragung: »Ich kann es verstehen, wenn unsere Westberliner Kollegen bei der Volksbefragung anders stimmen, als wir möchten, denn die Kollegen haben Angst, dass sie eventuell vom Geldumtausch ausgeschlossen werden, wenn der Westen erfährt, dass sie für einen Friedensvertrag gestimmt haben.«

Die im RAW Revaler Straße durchgeführte Volksbefragung bei den Rentnern ergab Folgendes: von 10 000 Befragten gaben 3 390 ihre Stimme ab. Davon 2 183 für einen Friedensvertrag, 258 für die EVG und 966 waren ungültig.

Ein ehemaliger SS-Mann, der als Hauswart in Neukölln tätig ist, führte in seinem Häuserblock die Volksbefragung durch. Als er an den Hausverwalter herantrat und ihm den Stimmzettel vorlegte, sagte der Hauswart: »Wenn sie wollen, können sie mich von der Polizei verhaften lassen.« Darauf sagte der Hausverwalter: »Ich bin für den Frieden, wie Sie und viele andere.« Von 53 Mietern des Hauses stimmten 49 für den Friedensvertrag.

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