Zur Beurteilung der Situation
14. August 1954
Informationsdienst Nr. 2287 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Über politische Tagesfragen wird weiterhin nur in geringem Maße diskutiert. Ein größerer Teil der Werktätigen verhält sich interesselos, was folgendes Beispiel zeigt. Am 12.8.1954 fand im Karl-Marx-Werk für ca. 1 000 Kollegen ein Ausspracheabend über den Entwurf des Familiengesetzes statt.1 Es beteiligten sich jedoch nur 13 Kollegen daran.
Im Vordergrund der Diskussionen stehen die Streiks in Westdeutschland.2 Die positiven und auch die negativen Äußerungen haben an Umfang etwas zugenommen. Ein größerer Teil der Werktätigen erklärt sich mit den Streikenden solidarisch und beweist dies teilweise durch finanzielle Unterstützung.3 Bezeichnend hierbei ist, dass man meist nur die wirtschaftliche Seite des Streiks sieht.
Von der Transportkolonne und den Kollegen der Materialplanung des VEB Sachsenwerk in Radeberg, [Bezirk] Dresden, wurde je ein Stundenlohn gespendet. Im VEB Phospatwerk Steudnitz, [Bezirk] Gera, wurden bisher DM 400 gesammelt. Die Glasarbeiter der Bärenhütte in Weißwasser, [Bezirk] Cottbus, überwiesen den Streikenden 1 000 DM.
Eine negative Haltung nimmt ein geringerer Teil von Werktätigen ein. Meist wird darin die Unterstützung abgelehnt, da die Arbeiter in Westdeutschland besser leben würden als wir in der DDR. Solche Meinungen vertreten: ein Teil der Arbeiter des VEB Simson Werkes Suhl, ein großer Teil der Arbeiter der Abteilung Fotoschneiderei in der Flachglashütte Uhsmannsdorf, [Bezirk] Dresden, einige Neubürger aus dem Sachsenwerk Radeberg, ein nicht unbedeutender Teil der Arbeiter des VEB Phönix in Rudolstadt, [Bezirk] Gera.
Mehrere Kollegen der Kammgarnspinnerei Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, äußerten: »Die in Westdeutschland können alles kaufen. Uns würde niemand unterstützen, wenn wir mal streiken möchten – außerdem dürfen wir ja auch nicht streiken.«4
Einzelne Arbeiter des Emailierwerkes Geithain, [Bezirk] Leipzig: »Jetzt führen sie wieder für die streikenden Arbeiter Geldsammlungen durch. Dabei wird das Geld bei uns viel nötiger gebraucht, denn es herrscht noch genügend Not.« Ähnlich äußerte sich ein Kollege aus dem VEB Waggonbau Görlitz.
Im Zusammenhang hiermit wird vereinzelt gesagt, dass man bei uns gar nicht streiken darf, was man als Unfreiheit bezeichnet. So äußerten z. B. mehrere Arbeiter in einem Arbeiterzug von Gera nach Weimar: »Ja das ist Freiheit, die können streiken, aber was macht man bei uns, wir werden eingesperrt.« Daneben wurden noch andere negative Meinungen geäußert, wie folgende Beispiele zeigen.
Mehrere Kollegen der Abteilung Werkzeugbau im »Karl-Liebknecht«-Werk Magdeburg sind der Meinung, dass die Zeitungsberichte über die Streikbewegung nur Propaganda seien. Mit dem Streik sei es gar nicht so schlimm. Im Lohnbüro des gleichen Betriebes äußerten einige Kollegen: Der DGB sei bestimmt in der Lage, aus seinen Mitteln den Streikenden zu helfen. Deshalb seien Solidaritätsaktionen noch nicht nötig.
Im VEB Sternradio Sonneberg, [Bezirk] Suhl, ist vielen Kollegen die Bedeutung des Streiks nicht klar, wodurch verschiedentlich negativ diskutiert wird.
Zur bevorstehenden Volkskammerwahl5 wird erst ganz vereinzelt Stellung genommen. Teilweise unterschätzt man die Bedeutung der Wahlen und vertritt die Ansicht, dass die vorbereitenden Arbeiten noch Zeit hätten. Ein Mechaniker aus dem VEB Glashütte, Kreis Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden: »Wir hatten gestern eine Versammlung wegen der Wahl, wo das Gleiche gesagt wurde, was wir in der Zeitung lesen und im Radio hören. Die Versammlungen haben Zeit, bis wir wissen, wer kandidiert. In der gestrigen Versammlung waren innerhalb [von] 20 Minuten alle Kollegen gegangen, sodass der Referent abbrechen musste.«
Ein parteiloser Arbeiter aus dem VEB Rheinmetall, [Bezirk] Erfurt: »Die Aufklärung im Werk lässt viel zu wünschen übrig. Dadurch können die Kollegen in ihren Wohnorten und in den Hausgemeinschaften nicht viel diskutieren.«
Neben den meist positiven Stimmen, die die einheitlichen Kandidatenlisten begrüßen, werden in negativen Diskussionen Parteiwahlen gefordert.6
Im VEB Drahtwebstuhlbau Neustadt, [Bezirk] Gera, sind verschiedene Kollegen der Meinung, dass die einheitliche Liste nicht richtig sei und man jetzt schon sagen könne, wer bei der Wahl gewinnt. Das wäre bei Parteiwahlen anders. Ein Schweißer aus der Volkswerft Stralsund setzte sich ebenfalls für Parteiwahlen ein.
Vereinzelt äußern sich auch Arbeiter negativ aus Unkenntnis des Wahlgesetzes,7 wie folgendes Beispiel zeigt. Ein Kollege aus dem VEB Jenapharm, [Bezirk] Gera: »Man setzt uns einfach Kandidaten vor, ob wir damit einverstanden sind oder nicht, das spielt gar keine Rolle, wir werden nicht danach gefragt.«
Zum Schritt Dr. John8 wurden nur einzelne Stimmen bekannt, die meist positiv sind und sich gegenüber den Vortagen im Inhalt nicht verändert haben. Man betrachtete den Schritt Dr. Johns als ein Zeichen des Zerfalls der Kriegspolitik Adenauer9 und hofft, dass noch mehr leitende Angestellte Westdeutschlands in die DDR kommen. Zur Pressekonferenz liegen nur folgende positiven Stimmen vor.10
Ein Schlosser aus dem VEB Nordhausen, [Bezirk] Erfurt: »Die Pressekonferenz hat bei den Westmächten große Bestürzung hervorgerufen, denn alle haben Beweggründe von Dr. Johns Übertritt gehört, dass er nämlich nicht verschleppt wurde.«
Ein Kollege aus dem Bau 44 des Buna-Werkes, [Bezirk] Halle: »Wenn John das hält, was er auf der Pressekonferenz versprochen hat, dann ist es gut, wenn er nach hier gekommen ist.« Eine Kollegin aus dem gleichen Bau meinte: »Dr. John wird seinen Schritt nicht bereuen, denn er bekommt hier bestimmt einen guten Posten.«
Vereinzelt kam es in den Betrieben zu Missstimmungen.
Im VEB Zeiss Jena sind die Transportarbeiter und Kollegen des Heizkraftwerkes unzufrieden. Von den Transportarbeitern wollen 51 Prozent in die Produktion gehen, weil sie dort mehr verdienen, jedoch fehlen dieser Abteilung noch 25 Arbeitskräfte. Im Heizwerk fehlt eine Anzahl Arbeitskräfte, sodass dort die Kollegen schon [ein] ¼ Jahr lang keinen Sonntag mehr haben und unter diesen Umständen nicht weiterarbeiten wollen. Im Nordwerk des Werkes sind die besten Kohlenarbeiter magenkrank. Die Ursache liegt vermutlich in der Ausdünstung der Grundkohle.
Die Kumpel aus dem Hermann-Danz-Schacht im Eisenmanganerzbau in Schmalkalden, [Bezirk] Suhl, sind über die schlechte Arbeitsorganisation unzufrieden. Ein Hauer äußerte dazu: »Die SED wird bei den Herbstwahlen eine große Pleite erleben, wenn es so weitergeht. Das heißt, wenn die Partei nur immer registriert, jedoch nichts abändert. Diese Meinung vertreten viele Kollegen.«
Wegen Materialmangel besteht eine Fluktuation unter den Kollegen des VEB Kirow-Werkes und VEB Bleichert [in] Leipzig.11
Im RFT Funkwerk Dresden Werk II bestehen bei der Intelligenz erhebliche FDGB-Beitragsrückstände, bei Einzelnen über ein Jahr. In einer Belegschaftsversammlung forderte ein Intelligenzler eine Herabsetzung der Beitragssätze des FDGB, dem fünf andere Intelligenzler zustimmten.
Ein Arbeitskräftemangel besteht im VEB Baubetrieb Plauen und Karl-Marx-Stadt. Es fehlen 200 Arbeitskräfte. (Sowie im VEB Schraubenfabrik Zerbst, [Bezirk] Magdeburg, fehlen ca. 40 Produktionsarbeiter, was sich auf die Planerfüllung auswirkt.)
Produktionsstörung: In der Papierfabrik Großenhain, [Bezirk] Dresden, musste infolge natürlichen Verschleißes ein Mitnehmerbolzen ausgewechselt werden. Der Produktionsausfall beträgt ca. 12 t Zeitungsdruck.
Handel und Versorgung
Überplanbestände, dem Verderb ausgesetzte bzw. verdorbene Waren
Bei der DHZ Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg, lagern 1 800 Dosen hochwertiger Fleischkonserven mit der Haltbarkeitsdauer bis 31.7.1954, die am 17.7.1954 vom Konsum Demmin wegen Absatzschwierigkeiten an die DHZ zurückgeschickt wurden.
Bei der DHZ Textil Bad Salzungen, [Bezirk] Suhl, lagern seit Februar 1954 Textilien aller Art für DM 1 Million, die noch nicht ausgepackt sind.
Der VEB Nordstern, Kreis Görlitz, [Bezirk] Dresden, erhielt im Juli 1954 107 t stark verunreinigte Importgerste, wodurch ein hoher Verlust entstand.
Örtliche Mängel in der Warenbereitstellung
Im Kreis Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg, mangelt es an Nährmittel, einschließlich Kleinkindernährmittel und Zigaretten. Im Bezirk Gera fehlt es an Zigaretten, besonders billige Sorten. In verschiedenen Kreisen des Bezirkes an Benzin. Am 11. und 12.8.[1954] war z. B. der gesamte Kreis Saalfeld ohne Benzin. Außerdem fehlen Gurken, Tomaten, Fischwaren und verschiedene Textilien.
In einigen Kreisen des Bezirkes Suhl Benzin, Autoreifen, billige Zigaretten. In den Kreisen Zittau und Sebnitz, [Bezirk] Dresden, ist die Versorgung gefährdet, da sämtliche Tankstellen kein Benzin haben.
Im Bezirk Halle ist eine anhaltende schlechte Belieferung mit Hülsenfrüchten, Kindernährmittel, Käse, Fleisch, Wurstwaren und Zigaretten (0,08 und 0,10 DM).
In Magdeburg Fleisch, Bettwäsche, Handtücher, Emaillegeschirr und andere Massenbedarfsartikel.
In Berlin, auf den Ladestraßen der Läger des Kommunalen Großhandels Berlin, lagerten am 11.8.[1954] 4 600 t Kartoffeln. Bis jetzt wurden aber nur täglich 4 t durch den Handel abgezogen. Die lagernden Kartoffeln haben eine Lagerfähigkeit von 7 bis 10 Tagen und es besteht die Gefahr des Verderbs. Außerdem mussten bereits 25 000 DM Standgeld bezahlt werden.
Landwirtschaft
Die Beteiligung an politischen Tagesfragen in der Landbevölkerung ist nach wie vor durch die Inanspruchnahme bei der Ernte sehr schwach. Nur einige wenige Stimmen wurden zur Volkskammerwahl im Zusammenhang mit der Rechenschaftslegung12 und zur Pressekonferenz mit Dr. John bekannt. Die Meinungen hierzu sind meist positiv und stammen hauptsächlich aus dem sozialistischen Sektor der Landwirtschaft. So verpflichteten sich z. B. die Genossenschaftsbauern der LPG Morgenrot Gröditsch, [Bezirk] Cottbus, anlässlich der Volkswahlen aus ihrer Privatwirtschaft vier Schweine, 800 Liter Milch, 100 Eier und 2 kg Wolle zur Verfügung zu stellen. Ähnliche Verpflichtungen sind auch aus dem Bezirk Erfurt, z. B. aus der LPG Aktivist Kirchengel, Kreis Sondershausen und aus dem Bezirk Suhl aus der LPG Heubisch, Kreis Sonneberg, bekannt geworden.
Negativ zur Volkskammerwahl äußerte sich ein Bauer aus Reuthen, [Bezirk] Cottbus, wie folgt: »Eine Regierung wie die von Ebert13 und Noske14 müsste wieder an der Macht sein. Ich habe bis jetzt noch keinen Fortschritt gesehen und bin der Meinung, dass der Staatsapparat zu viel aufgebauscht wurde.«
Über die Pressekonferenz mit Dr. John sagte ein Genossenschaftsbauer aus dem Bezirk Neubrandenburg: »Ich habe bisher noch immer nicht an die Schlechtigkeit Adenauers geglaubt, aber wenn schon Regierungsmitglieder in die DDR kommen, dann muss in Westdeutschland doch etwas faul sein. Ich begrüße die klare Stellungnahme von Dr. John, da sie viel zur Aufklärung über Westdeutschland beiträgt.«
Der Streik in Westdeutschland wird im Bezirk Neubrandenburg teilweise mit besonderem Interesse verfolgt. Ein Kollege aus der MTS Kletzin sagte: »Die Adenauer-Regierung wird immer mehr in die Enge getrieben. Jetzt wird es an den Arbeitern liegen, ob sie es schaffen werden, die Aktionseinheit herzustellen und die Adenauer-Regierung zu stürzen.«
Wie bereits gestern berichtet wurde, verstärkt der Klassenfeind auf dem Lande seine Tätigkeit und wendet sich mit Äußerungen und Handlungen gegen die Sollablieferung und den Anbauplan. Dabei fordert er die »Freie Wirtschaft«.15
In einer Bauernversammlung in Narsdorf, [Bezirk] Leipzig, forderten die Bauern, dass der Anbauplan für 1955 geändert werden soll. Sie wollen sich nicht bevormunden lassen und verlangen, dass sie frei wirtschaften können wie sie wollen.
Ein Bauer aus Schwansee,16 [Bezirk] Rostock, sagte: »Das bolschewistische System macht uns Bauern nur kaputt. Es wird so gewirtschaftet, dass alles so schnell wie möglich Kolchose wird.«17
Ein Gast- und Landwirt aus Heuredorf,18 [Bezirk] Leipzig, ließ das abgeerntete Stroh tagelang auf den Feldern liegen und einen großen Teil davon verfaulen. Einen weiteren Teil verschenkte er an Einwohner, obwohl er noch keinen Zentner von seinem Soll an Stroh abgeliefert hat. Vor zehn Tagen hat die MTS bei ihm ein Roggenfeld gemäht. Die Garben stehen heute noch auf dem Felde und verderben. Ähnliche Erscheinungen sind auch in den Bezirken Halle und Rostock teilweise zu verzeichnen.
Die wirtschaftlichen Fragen stehen nach wie vor im Vordergrund der Diskussionen unter der Landbevölkerung.
Über gute Zusammenarbeit bei der Ernte zwischen Stadt und Land wird aus dem Kreis Hettstedt, [Bezirk] Halle, berichtet.
Eine schlechte Arbeitsmoral stellten Erntehelfer bei der ÖLB Plötzin, der LPG Neues Leben und der MTS im Bezirk Potsdam fest. Die Erntehelfer wurden dort auf die 48-Stunden-Woche verwiesen und ausgelacht,19 weil sie sonntags zur Arbeit erschienen sind.
Ersatzteilmangel für landwirtschaftliche Maschinen und Traktoren besteht nach wie vor in den MTS Kauern, [Kreis] Gera, im Bezirk Magdeburg, Leipzig. Treibölmangel zur Durchführung der Erntearbeiten und Schälfurche hat der Kreis Artern, [Bezirk] Halle. Für den Monat August werden 20 000 kg Treiböl benötigt, wovon bis zum heutigen Tag noch keine Zuteilung erfolgte. Wenn sie in den nächsten Tagen nicht erfolgt, müssen ca. 95 Treibölschlepper aussetzen.
Übrige Bevölkerung
Über politische Tagesfragen wird unter der übrigen Bevölkerung nur vereinzelt diskutiert. Zur Volkswahl im Oktober wurden uns nur wenige Diskussionen bekannt. Eine Hausfrau, die aus Westdeutschland zurückgekehrt ist, äußerte sich wie folgt: »Für mich als DFD-Freundin ist Eines selbstverständlich, dass ich bei den kommenden Wahlen für unsere, von uns gewählten Volksvertreter stimme. Denn wer wie ich den Unterschied kennengelernt hat, kann gar nicht anders handeln.«
In negativen Diskussionen zur Volkswahl nimmt man gegen die Aufstellung einer gemeinsamen Kandidatenliste Stellung.
Ein Angestellter aus Pechtelsgrün,20 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Einheitsliste ist keine Wahl. Ich wünsche eine freie und geheime Wahl, wie sie früher während der Systemzeit21 stattgefunden hat.«
Ein Rentner (parteilos) aus Sondershausen, [Bezirk] Erfurt: »Adenauer wird es schon durchsetzen und mit den Amerikanern in China den Krieg anzetteln, und zu einer Einheit Deutschlands könnte es nur dann kommen, wenn die Delegationen vom Volke gewählt würden, aber nicht so wie die Wahlen bei uns, dass alle Parteien zu einem Block zusammengefasst werden. Alle Parteien müsste man zulassen, vor allem die SPD.«
Ein Kolonialwarenhändler aus Halle: »Die Volkskammerwahl ist doch bloß alles Blödsinn. Den Menschen hier bleibt ja gar keine Wahl. Da braucht man doch gar nicht hinzugehen. Aber geht man nicht oder sagt die Wahrheit, läuft man Gefahr, eingesperrt zu werden. Es ist überhaupt alles Mist.«
Organisierte Feindtätigkeit
Hetzschriftenverteilung
SPD-Ostbüro:22 Karl-Marx-Stadt 130, Rostock 5 000, Neubrandenburg 30, Dresden 9.
KgU:23 Dresden 1 481.
NTS:24 Dresden 5, Neubrandenburg 20.
UFJ:25 Rostock 10.
Versch[iedener] Art: Dresden 1 646, Karl-Marx-Stadt 28.
Die Hetzschriften wurden in den meisten Fällen sichergestellt und gelangten nicht in die Hände der Bevölkerung.
Diversion: Am 10.8.1954 wurden an einem Mähbinder, welcher auf einem Feld bei Gollmitz, Kreis Prenzlau, [Bezirk] Neubrandenburg, stand, zwei Keilriemen, eine Decke und ein Ventil zerschnitten. Der Mähbinder gehört einem ÖLB.26 Gesamtschaden 500 DM.
Vermutliche Feindtätigkeit
Am 12.8.1954, gegen 6.00 Uhr entstand in dem städtischen Kinderhort in Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, ein Brand infolge vermutlicher Brandstiftung. Der Schaden war nur geringfügig, da der Brand sofort gelöscht wurde.
Lage in Westberlin
Die Stimmen zum Fall Dr. John sind weiterhin zahlenmäßig gering und bringen verschiedene Meinungen zum Ausdruck.
Ein Personalleiter im braunschweigischen Kohlenkonzern aus Helmstedt,27 Mitglied der SPD: »Der Fall Dr. John hat in der internationalen Presse großes Echo gefunden. In westdeutschen Kreisen ist über die Flucht Johns eine große Bestürzung zu verzeichnen.«28
Angestellte der Berliner Bank und Diskonto-Gesellschaft brachten zum Ausdruck: Wenn der derzeitige Innenminister Schröder29 versucht die Flucht Johns zu bagatellisieren, so ist ein derartiges Unterfangen geradezu lächerlich und fehl am Platze.30 Ein Mann von einer derartigen Position muss nach seinen bisherigen Lebenswandel und Charaktereigenschaften tadellos und völlig einwandfrei sein. Immerhin hat John in seiner Eigenschaft als Präsident des Bundesverfassungsschutzamtes eine unerhörte Stellung und folgedessen auch unerhörte Verantwortung. Wenn er auch vor zehn Jahren am 20. Juli 1944 zum Widerstandskreis gegen Hitler gehörte, so ist doch seine Tätigkeit beim englischen Secret Service als Deutscher um so mehr verwerflich, als er bei dieser Tätigkeit Material gegen seine deutschen Landsleute im Nürnberger Prozess lieferte.31
Geschäftsleute, Versicherungsdirektoren sowie Angestellte sagten Folgendes: Der Fall John beweise eindeutig, dass an der Spitze der Regierung Leute sitzen, die das deutsche Volk verraten und in einen Dritten Weltkrieg steuern. Lächerlich geradezu der Versuch, der deutschen Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen und den deutschen Michel glauben zu machen, es handele sich um einen »Menschenraub«. Das glaubt doch nicht einmal der dumme kleine deutsche Arbeiter und dieser ist noch nicht einmal der »Dümmste«, sondern hat ein außerordentlich feines Fingerspitzengefühl für politische Dinge. Es hat ja nicht an warnenden Stimmen gefehlt und wenn Herr Adenauer den »Mann« nicht mehr sehen wollte, warum handelte er dann nicht entsprechend (Überwachung Johns usw.). Aber da hatte ja noch der englische Hochkommissar ein Wörtchen mitzureden, denn wir sind noch lange nicht »Herr im Hause«, sondern werden genauso behandelt wie das dümmste Negervolk in Afrika.
Ein Mittelbauer aus Gröningen, ehemals Hauptmann der faschistischen Wehrmacht: »Nach meiner Meinung ist die Flucht des Dr. John in die DDR ein Verrat.«
Nachtrag zur Industrie
Von der Papierfabrik Greiz, [Bezirk] Gera, wird mitgeteilt, dass der gelieferte Zellstoff aus dem Zellstoffwerk Trebsen, [Bezirk] Leipzig, zumTeil sehr starke radioaktive Ausstrahlungen aufweist. Vom Zellstoffwerk wird vermutet, dass die Radioaktivität von dem Fabrikationswasser herrührt, welches aus der Mulde entnommen wird.32
Anlage 1 vom 14. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2287
Westliche Pressestimmen zum Fall Dr. John
Die vom Londoner Rundfunk33 wiedergegebenen englischen Pressestimmen zum Fall Dr. John bringen zum Ausdruck, dass die von Dr. John angeführten Gründe über sein Überwechseln in die DDR als nicht stichhaltig betrachtet werden. Es wird von verschiedenen Seiten betont, dass Dr. John wohl überwiegend aus persönlichen dienstlichen Gründen Westdeutschland verlassen hat, ausgelöst durch den Aufenthalt in Westberlin am 20. Juli [1954].34 Gleichzeitig wird betont, dass es sich beim Verhalten Dr. Johns um einen Einzelfall handelt, den man nicht verallgemeinern sollte.
Londoner Rundfunk: »Aber die Reaktion von Dr. John kann kaum als ein vernünftiger Prozess bezeichnet werden, sie ist ein Akt der Verzweiflung«.
»Manchester Guardian«:35 »Dr. John hatte es satt, von der deutschen Bundesregierung die kalte Schulter gezeigt zu bekommen und als Emigrant behandelt zu werden, der während des letzten Krieges in Großbritannien im Dienste des Feindes stand. Er war entsetzt über die Anwesenheit ehemaliger Nazis bei der Gedenkfeier für die Opfer des 20. Juli [1944]. Er war von dem schrecklichen Gedanken besessen, dass diese Menschen (d. Opfer), unter ihnen sein Bruder Hans,36 umsonst gestorben waren. Otto John habe die plötzliche Idee einer Mission gehabt, die so unsinnig und verworren war, wie die von Rudolf Heß.37 Er habe dem kalten Krieg in Europa ein Ende machen wollen. Man könne leicht verstehen, warum John unter Verfolgungswahn gelitten habe und dennoch mit der unberührten Entschlossenheit eines Schlafwandlers hat sich Dr. John den Leuten in die Hände gegeben, die auf der ganzen Welt wahrscheinlich am wenigsten seine Motive würdigen können.«
»Daily Telegraf«: »Der von ihm gestern angeführte Grund war völlig widersinnig. Dass nämlich die einzige Alternative für ihn gewesen wäre, ins Ausland zu gehen, wenn er nicht die Ostzone wählte.«38
»Times«: »Dies ist eine persönliche Tragödie, die in der deutschen Vergangenheit ihre Wurzeln hat und nicht als ein Hinweis auf Strömungen oder politische Entwicklungen in der Zukunft Deutschlands angesehen werden kann.«39
Der Kommentator des Londoner Rundfunks, Lindley Fraser,40 beschäftigt sich mit den durch die Erklärung Dr. Johns ausgelösten Diskussionen über die Wiedererstehung des Nationalsozialismus in Westdeutschland. Er ist der Meinung, dass gerade in England die Meldungen über Dr. John sehr ernsthaft studiert werden und sagt: »Diese Wahrheit ist für die englische Bevölkerung gerade jetzt von Interesse, denn seit Monaten wächst, namentlich in der Labour-Party, die Abneigung gegen den Gedanken der deutschen Aufrüstung.«
Ohne Nennung von Namen behauptet der Sprecher, dass Journalisten »sich weitgehend die Behauptung Dr. Johns zu eigen machen, dass die Bundesregierung besonders das Amt Blank nationalsozialistisch durchsetzt ist«.41 Andere bestreiten dies, geben aber zu, dass der »Verwaltungsapparat eine zwar nicht nationalsozialistische aber doch eine stark nationalistische Färbung angenommen hat«. Er selbst hält diese Auffassung für übertrieben, spricht aber dann die Befürchtung aus, dass die Tatsache des Neofaschismus die Sprecher für die EVG42 stärken würde, die meinten: »Die deutsche Aufrüstung muss früher oder später kommen, darum ist es weit besser, dass sie sich in einem ausgesprochen internationalem Gefüge vollzieht, als dass sie wie vor 25 Jahren aus eigenem erfolgt, im Geheimen vielleicht.« Er schließt mit den Worten: »… aber ich glaube nicht, dass der Fall John eine ernstliche Verschiebung der Ansichten bewirkt hat. Die vernünftigen Gründe für die EVG sind heute genauso stark wie immer, wenn nicht noch stärker.«
In einer Stellungnahme zu den Ausführungen Dr. Johns über die Stellung Englands zum Kommunismus hetzt der Südwestfunk, dass die SU versuchte, England gegen die USA zu beeinflussen.43 Zur Beweisführung wird dazu ein angeblicher Trinkspruch des Genossen Molotow44 angeführt, in dem er vor der Gefahr eines neuen Krieges, der für Großbritannien Frankreich und die SU abermals unermessliches Leid bringen müsste, warnt45 und es heißt dazu: »Großbritannien soll gegen die USA mobilisiert werden, nicht einmal so sehr im Sinne eines Bremsklotzes gegen amerikanische Kriegsabsichten, an die im Ernst wohl auch Molotow nicht glaubt, sondern im Sinne jener Politik, die Churchill46 mit seiner Mairede vom vorigen Jahr47 sichtbar gemacht hat und die auf einen weltweiten Kompromiss zwischen Ost und West hinausläuft«.
Der Sprecher bedauert, dass »die amerikanische Gewohnheit, über alles und jedes hemmungslos zu reden, persönlichen Ansichten größte Publizität zu geben, den Moskauversuch erleichtert, amerikanische Kriegsabsichten zu behaupten«, und versucht, die angeführten Beispiele wie Dulles,48 General Clark49 usw. als nichtoffizielle Sprecher hinzustellen.
Der Südwestfunk versucht durch die Wiedergabe angeblicher Stimmen von Personen aus der DDR zum Fall Dr. John eine erneute Hetze gegen die DDR zu entfalten. Er will den Eindruck erwecken, dass die Bevölkerung der DDR das Verhalten Dr. Johns verurteile und zum anderen ihm keine Bedeutung beimesse. Gleichzeitig benutzt er die Meinung eines angeblichen Studenten aus Potsdam dazu, um von einer »Wiedererstehung des Nazismus« in der DDR zu sprechen, was sich in der Existenz der NDPD zeige.50
Anlage 2 vom 14. August 1954 zum Informationsdienst Nr. 2287
Missstände, die in Berliner Betrieben bestehen
Im VEB Groß-Berliner Altstoffhandel liegt die Normenerfüllung der Kraftfahrer und Transportarbeiter etwa bei 200 Prozent, die der Presserkolonnen bei ca. 160 Prozent. Aufgrund der Übererfüllung der Normen ist der Lohnfonds des Betriebes derart angespannt, dass im IV. Quartal Schwierigkeiten in der Lohnzahlung auftreten werden. Zurzeit erhalten die Kraftfahrer durchschnittlich Löhne von DM 800 bis 1 000 Brutto. Ein großer Teil der Transportarbeiter erhält monatlich ca. 700 DM brutto. Verschiedene Kollegen haben in den letzten Monaten freiwillig ihre Norm erhöht. Allerdings ergeben sich durch diese Normenerhöhungen keine wesentlichen Lohnkürzungen.
Beim VEB Tiefbau ist in den einzelnen Hauptabteilungen die Lohnsumme bis zu 25 Prozent überzogen, ohne dass die entsprechenden Gegenleistungen in der Produktion aufzuweisen sind. Eine Ursache liegt darin, dass zu wenig Normensachbearbeiter vorhanden sind,51 und dass bei der Auswahl der Normensachbearbeiter und Instrukteure nicht immer vom gesellschaftspolitischen Gesichtspunkt ausgegangen wurde. Ein weiterer Grund für die Lohnsummenüberziehung besteht darin, dass durch die vielen kurzfristigen Terminstellungen die bauleitenden Kräfte dazu gezwungen sind, oft Forderungen zu bewilligen, die nicht gerechtfertigt sind, nur um die Termine einzuhalten.
Die Planerfüllung im VEB TRO »Karl Liebknecht«52 betrug im Juli 56 Prozent. Somit hat der Betrieb bereits einen Planrückstand von 3 Mio. DM. Im Monat August wird das Plansoll wahrscheinlich ebenfalls um 2 Mio. DM nicht erfüllt. Der Rückstand in Höhe von 5 Mio. wird bis Jahresende nicht mehr aufzuholen sein, da die Planauflage für die Monate Oktober bis Dezember sehr hoch ist. Die Ursachen hierfür sind Materialschwierigkeiten, fehlerhaftes Material, Mängel in der Arbeitsorganisation, das Fehlen von Werkzeugen und Facharbeitern. In letzter Zeit wurde wiederholt festgestellt, dass Gussteile, die angeliefert werden, von Eisenhüttenwerk Tangermünde,53 Vereinigte Gießereien Torgelow, Vereinigte Gießereien Ueckermünde, Berliner Metallguss und Gießerei Sperlich Buchholz, mehr als doppelt [so] schwer sind wie angefordert. Dies trifft auch für hochwertige Edelmetalle zu. Der Betrieb hat dadurch ungeheuren Schaden. Neben dem erhöhten Werkzeugverschleiß entstehen außerdem höhere Lohnkosten durch Mehrarbeit. Die Arbeiter des Betriebes äußern aufgrund des Zustandes der Gussteile: »Die Lieferfirmen haben auf unsere Kosten eine leichte Planerfüllung. Das macht auf die Dauer Tonnen aus und darauf kommt es den Gießereien ja an. Es muss festgestellt werden, dass die Arbeiter die Lust verlieren, und wiederholt haben sich deshalb Facharbeiter aus diesem Betrieb anderweitig Arbeit gesucht.«
Aus dem Berliner Glühlampenwerk wird mitgeteilt, dass die angelieferten Nickelstäbe aus Hettstedt seit zwei Monaten derart schlecht sind, dass nach der Bearbeitung der Nickeldraht zurückgeschickt werden muss. Trotz scharfer Kontrolle der Gütekontrolleure im Glühlampenwerk, ist es nicht möglich, die Fehler vor der Bearbeitung festzustellen.