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Zur Beurteilung der Situation

1. März 1954
Informationsdienst Nr. 2143 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Zur Viermächtekonferenz1 sind unter den Werktätigen der Betriebe nur noch ganz vereinzelt Stimmen bekannt geworden. Darin werden von fortschrittlichen Werktätigen die Vorschläge des Genossen Molotow2 begrüßt3 und die Konferenz als ein Erfolg der Friedenskräfte angesehen. In negativen Diskussionen wird die Forderung nach »freien Wahlen«4 und nach Revision der Oder-Neiße-Grenze gestellt. Ein Arbeiter aus dem Klara-Zetkin-Werk in Burgstädt, [Kreis] Karl-Marx-Stadt: »Für mich ist nach wie vor die Oder-Neiße-Grenze niemals die endgültige Friedensgrenze.«

Zur Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Grotewohl5 sind vereinzelt Stimmen bekannt geworden, die meist die Erklärung begrüßen.6 Dabei zeigt sich, dass die Erklärung nicht weit verbreitet ist. Eine Arbeiterin aus dem Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Schwarza, [Bezirk] Gera: »Otto Grotewohl hat heute zwei Stunden gesprochen und was er sagte, war wirklich in Ordnung. Es ist jedoch schade, dass man die Rede so wenig propagiert.«

Zu Ehren des IV. Parteitages der SED7 wurden von einzelnen Betrieben der Bezirke Halle, Cottbus, Suhl und Leipzig Verpflichtungen eingegangen. So verpflichteten sich z. B. die Kollegen des Otto-Brosowski-Schachtes,8 [Bezirk] Halle, bis zum 30.3.1954 4 000 t über den Plan zu fördern. Im VEB Kalikombinat »Ernst Thälmann« in Merkers, [Bezirk] Suhl, will eine Brigade 800 t Rohsalz über den Quartalsplan fördern. Im Eilenburger Celluloid-Werk übernahmen fünf Kollegen der Buchhaltung die Verpflichtung, in fünf LPG die Buchhaltung zu unterstützen.

Über die Wehrdebatte im Bonner Bundestag9 wurden von einem Teil der Arbeiter in den Bezirken Gera, Dresden, Magdeburg, Cottbus und Frankfurt/Oder Diskussionen bekannt, worin meist diese Machenschaft Adenauers10 verurteilt wird. Ein Heizer aus der Maxhütte Unterwellenborn: »Das Wehrgesetz ist für uns eine große Gefahr. Man sieht genau den Weg, wie nach 1933, erst Wehrgesetz, dann Aufrüstung und dann kommt der Krieg.«

Ein Kollege aus dem »Ernst-Thälmann«-Werk Magdeburg: »Die Regierung der DDR kann gegen die Annahme des Wehrgesetzes in Westdeutschland nichts machen. Man wird in der DDR auch ein Wehrgesetz annehmen müssen.« Diese Ansicht vertreten mehrere Kollegen dieses Betriebes.

Zur Arbeitsniederlegung kam es am 26.2.1954 im Privatbetrieb Normann Wäschekonfektion in Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, bei 70 Arbeitern, da der Unternehmer eine Betriebsvereinbarung der BGL ablehnte, in der unter anderem die Forderung auf Unterstützung bei Todesfällen sowie Zuwendungen bei Urlaubsfahrten usw. enthalten sind.

Negative Diskussionen zur Prämienzahlung wird von den Kollegen des Sprengstoffwerkes Gnaschwitz, [Bezirk] Dresden, geführt, wobei die Produktionsarbeiter der Meinung sind, dass die Verteilung der Prämien ungerecht zugehe.

Unzufriedenheit besteht unter den Kollegen einiger Betriebe im Bezirk Dresden wegen Mangel an Ferienplätzen. So haben sich z. B. beim VEB Bremsbelag Coswig, [Bezirk] Dresden, 235 Arbeiter für Ferienplätze eingetragen, jedoch hat der Betrieb nur 105 Plätze erhalten. Ein Arbeiter sagte dazu: »Die Preise für die Ferienplätze sind billiger geworden, aber dafür sind gleich wieder weniger vorhanden. Im Kunstseidenwerk »Siegfried Rädel« in Pirna, [Bezirk] Dresden, sollen nur etwa die Hälfte der beantragten Plätze vom Bundesvorstand des FDGB zugesagt worden sein.«

Der Kohlenvorrat der HO Wismut11 in Johanngeorgenstadt ist nur noch bis einschließlich Montag, den 1. März 1954 gesichert. Dadurch können ab Dienstag, den 2. März 1954 die Brotfabriken, Küchen und Gaststätten nicht mehr arbeiten. Das hat zur Folge, dass ca. 20 000 Bergarbeiter kein Brot und ca. 6 000 Bergarbeiter kein Mittagessen erhalten können.

Im Fernmeldeamt Sangerhausen, [Bezirk] Halle, ist wegen Kohlenmangel der Nachrichtenverkehr gefährdet, da das einwandfreie Funktionieren der fernmeldetechnischen Einrichtungen und Anlagen von bestimmten Wärmegraden (im Durchschnitt 18 Grad) abhängt.

Im VEB Sanar Dahlen, [Bezirk] Leipzig, fehlen 50 Prozent des Gesamtbedarfs an Stahlmessing. Dadurch konnte der Plan für Februar 1954 nur mit 60 Prozent erfüllt werden.

Handel und Versorgung

In Halle gibt es Schwierigkeiten in der Textilversorgung, weil mehrere Betriebe (unter anderem VEB Gardine Plauen, Fortschritt Berlin, Privatfirma Bahlmann Nordhausen) ihre Lieferverträge nicht erfüllen.

Im Kreiskonsum Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, lagern Schokoladenwaren für 260 000 DM. Sie können nicht abgesetzt werden, weil der Bevölkerung die Preise zu hoch sind. In mehreren Kreisen des Bezirkes Karl-Marx-Stadt fehlen Fischkonserven und Frischfisch.

Wie schon einmal gemeldet, lagern im Schlachthof Dresden seit längerer Zeit 40 t Rindertalg zur Margarineherstellung und 35 t Speisetalg. Die Waren können nicht abgesetzt werden und erleiden durch Fettsäurebildung Qualitätsverminderung.

Landwirtschaft

Politisches Desinteresse nimmt an Umfang beträchtlich zu. Sicher ist das auch darauf zurückzuführen, dass die wirtschaftlichen Aufgaben, Vorbereitung der Frühjahrsbestellung, mehr und mehr die Interessen der Bauern bestimmen.

Über die Viererkonferenz wird kaum noch diskutiert, und über die Regierungserklärung sind nur vereinzelt Stimmen aus MTS bekannt geworden. Ein Traktorist von der MTS Gnoien, [Bezirk] Neubrandenburg: »Was die Regierung in Westdeutschland will und wie sie zusammengesetzt ist, ist uns allen bekannt, dort sitzen nur Krupp12 und seinesgleichen, aber keine Arbeiter. Der Arbeiter wird unterdrückt. Bei uns in der DDR gibt es keine Unterdrückung, weil wir eine Regierung der Arbeiter haben. Darum ist es unsere Aufgabe, die Rede Otto Grotewohls zu unterstützen und uns für die Einheit einzusetzen.«

Zum IV. Deutschen Bauerntag13 sind einige Verpflichtungen bekannt geworden. Die MTS Rothenburg/O.L., [Kreis] Niesky, [Bezirk] Dresden, sandte ein Telegramm an den Bauerntag mit der Verpflichtung, die Frühjahrsbestellung in zwölf Tagen durchzuführen. Im Kreis Bitterfeld, [Bezirk] Halle, wurden von werktätigen Einzelbauern und LPG 1 200 Selbstverpflichtungen übernommen.

Der Mangel an Saatkartoffeln ist als ernst zu bezeichnen, das wird heute aus den Bezirken Neubrandenburg, Potsdam und Halle gemeldet. Die Bauern sind verärgert, so wird aus Brehne, [Kreis] Bitterfeld, [Bezirk] Halle, berichtet, weil ihnen im Herbst vergangenen Jahres Saatkartoffeln ohne Gegenleistung versprochen wurden, und jetzt müssen sie 50 Prozent der erhaltenen Saatkartoffeln mit Speisekartoffeln oder anderen Produkten ausgleichen; sie müssten dann ihr Vieh verkaufen, um es nicht verhungern zu lassen.

Mangel an Ersatzteilen auf den MTS wird täglich gemeldet. Die MTS Polenz und Lohmen, [Kreis] Sebnitz, [Bezirk] Dresden, können ihre Mähbalken nicht in Ordnung bringen, weil vor allem Mähbalkenfinger fehlen.

Vernachlässigung der Wachsamkeit wurde in den LPG des Kreises Oschatz, [Bezirk] Leipzig, festgestellt. In mehreren LPG waren bei Kontrollen die Stalltüren offen, sodass jeder ungehindert die Ställe betreten kann. In anderen LPG waren trotz der bestehenden Wachpläne keine Wachen aufgestellt.

Anbaupläne sind das Gesprächsthema von Groß- und Mittelbauern im Bezirk Leipzig. Charakteristisch ist dafür die Meinung eines Mittelbauern aus dem Kreis Altenburg. Er sagte: »Durch die Anbaupläne sind uns die Hände gebunden. Wenn auch nicht ganz freie Wirtschaft wäre, so könnte die Wirtschaft doch freier sein als jetzt. Wir wissen manchmal nicht, was wir machen sollen.«

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Auch hier wird über die politischen Probleme sehr wenig diskutiert. Über die Viererkonferenz wird kaum noch gesprochen. In diesem Zusammenhang sind einige Stimmen über die Regierungserklärung bekannt geworden. Ein Postangestellter aus Mühlhausen, [Bezirk] Erfurt: »Ich begrüße die Ausführungen des Genossen Grotewohl. Er hat die Kriegstreiber entlarvt. Sollte die Adenauer-Clique versuchen, das Wehrgesetz durchzuführen, dann wird sich der Widerstand der Bevölkerung Westdeutschlands verstärken, denn die Menschen erkennen immer mehr, dass dieser Weg ins Verderben führt.« Ein Rentner aus Eisenach, [Bezirk] Erfurt: »Grotewohl ist diesmal wieder ziemlich anmaßend geworden. Glaubt er, Adenauer sei mit Waffengewalt zu vernichten. Die Spannung nimmt dadurch wieder zu. Wer weiß, ob das nicht mit einem Bruderkrieg endet.«

Zur Wehrdebatte im Bonner Bundestag liegen vereinzelt Meinungsäußerungen vor. Ein Einwohner aus Mulda, [Kreis] Brand-Erbisdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die SPD hat deshalb nur geschlossen dagegen gestimmt, weil sie sowieso nicht die Mehrheit hat und die Abänderung am Grundgesetz auch ohne die Stimmen der SPD durchgeführt wird.14 Die SPD-Führung führt hier nur ein Scheinmanöver durch, um die Arbeiter zu täuschen.«

Am 27.2.1954 fand in Luckau, [Bezirk] Cottbus, eine Demonstration gegen den EVG-Vertrag statt.15 1 000 Personen nahmen teil. Die Ausführungen des Referenten wurden von einem großen Teil gleichgültig aufgenommen.

Dass die politische Passivität besonders in den bürgerlichen Parteien verbreitet ist, zeigt unter anderem die Jahreshauptversammlung der CDU in Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg. Eine Viertelstunde nur wurde über die aktuellen politischen Fragen gesprochen. Über die Mitarbeit in der Nationalen Front16 wurde kein Wort verloren.

Im Kreis Gransee, [Bezirk] Potsdam, führt die evangelische Kirche zzt. eine Evangelisationswoche durch. Die Beteiligung der Bevölkerung ist stärker als sonst bei politischen Versammlungen. In Schulzendorf z. B. ist das Pfarrhaus täglich schon um 19.00 Uhr überfüllt, wenn die Abendveranstaltungen um 20.00 Uhr beginnen.

Organisierte Feindtätigkeit

Flugblätter

Cottbus: 10 500 Stück mit Ballons eingeschleust und am 27.2.[1954] sichergestellt. Inhalt: Hetze gegen den Präsidenten und die Regierung.

Potsdam: 5 000 Stück am 25.2.1954 sichergestellt. West-CDU. Inhalt: »Moskaus Unaufrichtigkeit restlos enthüllt«.

Suhl: 1 000 Stück am 26.2.1954 sichergestellt. »Freiheitsrat«,17 »Aktionseinheit der FDJ Berlin«, SPD-Ostbüro Berlin,18 Inhalt: Hetze gegen die DDR und die SED.

Karl-Marx-Stadt: 14 Stück NTS,19 12 Stück SPD-Ostbüro (Stimmzettel),20 11 Stück »Freiheitsrat«, Vier Stück. Inhalt: »35 Jahre Verrat an der Arbeiterklasse«.

Frankfurt/Oder: 43 Stück NTS.

Dresden: 9 Stück mit Ballon eingeschleust. »Freiheitsrat« Inhalt: Hetze gegen Walter Ulbricht,21 1 Stück NTS.

Neubrandenburg: 1 Stück mit Ballon eingeschleust, SPD-Ostbüro. Inhalt: »35 Jahre Verrat an der Arbeiterklasse«.

Ein Kettenbrief. Inhalt: Passiver Widerstand, wurde einem Großbauern in Rudisleben, [Bezirk] Erfurt, zugestellt.

Zwei Hetzschriften des UfJ,22 Inhalt: »Raus aus der LPG« und »Bauernforderungen nach dem Kurswechsel«,23 wurden einem LPG-Vorsitzenden in Joachimsthal, [Bezirk] Frankfurt/Oder, mit der Post zugestellt.

In der Mathias-Thesen-Werft Wismar, [Bezirk] Rostock, wurde ein Bild des Genossen Molotow mit Bleistift übermalt.

In Hochkirch, [Bezirk] Dresden, wurde am 26.2.1954 ein Transparent mit der sorbischen Aufschrift: »Auf zum IV. Bauerntag« von Unbekannten entfernt.

Durch fingierte Telefonanrufe wird in Karl-Marx-Stadt versucht Unruhe zu stiften. So erhielt der VEB RFT Gerätewerk Karl-Marx-Stadt eine fingierte telefonische Aufforderung, Bestellungen für Presskohle einzusammeln. Im VEB Gasversorgung Karl-Marx-Stadt wurde eine Kollegin telefonisch gefragt, warum sie nicht an der letzten Demonstration teilgenommen habe.

In einigen Gemeinden des Kreises Meißen, [Bezirk] Dresden, kursiert das Gerücht, dass die Bockwurst aus Fleisch von pestkranken Schweinen hergestellt sei, und man sie deshalb nicht kaufen solle.

Im Kreise Bernau, [Bezirk] Frankfurt/Oder, wird das Gerücht verbreitet, dass den Schulentlassenen vonseiten der Regierung eine Spende von 150 bis 250 DM gezahlt werden würde.

Im Konfirmandenunterricht in Bernau, [Bezirk] Frankfurt/Oder, wurden von einem Pfarrer 170 Gutscheine für Bettelpakete24 ausgegeben. Hierbei handele es sich um eine »Unterstützung für Konfirmanden«. Die Pakete müssen innerhalb von drei Tagen in Berlin, französischer Sektor, Bernauer Straße 115 abgeholt werden.

Vermutliche Feindtätigkeit

In der Nacht vom 26. zum 27.2.1954 brannte in Paulsdorf, [Bezirk] Dresden, die Scheune eines Kleinbauern, vermutlich durch Brandstiftung nieder. Der Schaden beträgt 20 000 bis 25 000 DM.

Aus Westberlin

Aus der Berufsschule der Stummpolizei25 wird Folgendes bekannt: Beim letzten Unterricht wollte der Lehrer, ein Schulrat, über allgemeine Bildung zu den Polizisten sprechen. Als er jedoch die Feststellung traf, dass die anwesenden Polizisten nicht einmal den Bildungsgrad eines durchschnittlichen Volksschülers haben, wurde er durch Zwischenrufe unterbrochen. Es wurde ihm entgegengehalten: »Wir sind keine Rekruten, sondern Polizisten«.

Über den Besuch Adenauers26 äußerte man sich: »Was will der hier, der verscheißert uns auch bloß.« Ein Wachtmeister sagte dazu: »Die mit der EVG, daran ist bloß alles gescheitert. An allen Ecken und Enden müsste es mal krachen und knallen, damit sie endlich mal die Schnauze vollkriegen.« Als der Lehrer einwendete: »Sie haben es doch selbst in der Hand, Sie können doch wählen und die Demokratie so formen, wie Sie sie haben wollen«, wurde allgemein gelacht.

Einschätzung der Situation

Die Lage ist gegenüber den Vortagen unverändert.

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