Zur Beurteilung der Situation
3. März 1954
Informationsdienst Nr. 2145 zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Diskussionen der Werktätigen über die Wehrdebatte im Bonner Bundestag1 haben etwas zugenommen. Im Zusammenhang hiermit wird nur sehr vereinzelt über den Ausgang der Viermächtekonferenz2 und die Erklärung des Ministerpräsidenten Grotewohl3 vor der Volkskammer gesprochen.4 Die Stimmen zur Wehrdebatte sind meist positiv und stammen überwiegend von Arbeitern aus den VEB. Darin wird erkannt, dass die Wehrdebatte einen weiteren Schritt zum Krieg bedeutet, was jedoch nicht den Interessen der Werktätigen entspricht. Sie wollen den Frieden. Vereinzelt wird in diesem Zusammenhang gefordert, jetzt die DDR verstärkt zu schützen.
Von einem geringen Teil, besonders von Angestellten und der technischen Intelligenz, wird gefragt, was nun geschehen soll. Da die Wehrdebatte in Westdeutschland durchgeführt wurde, müsse man nach ihrer Ansicht wohl oder übel auch der Wehrpflicht nachkommen. Ein Angestellter aus dem VEB Volltuch Pößneck, [Bezirk] Gera: »Ich bin gegen das Wehrgesetz von Adenauer,5 aber was soll man dagegen machen; wenn die Bundesregierung die westdeutsche Jugend dazu zwingt, dann wird uns wohl kein anderer Weg offenbleiben.«
In weiteren negativen feindlichen Stimmen sprechen Arbeiter, stärker Angestellte, davon, dass die KVP bei uns das Gleiche wie die neue westdeutsche Wehrmacht darstelle.6 Vereinzelt werden pazifistische Stimmen bekannt, die sich gegen jede Wehrpflicht aussprechen. Der Gesamtumfang der negativen Stimmen ist gering. Ein Technologe von der Neptun-Werft Rostock: »Durch die Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland werden wir in der DDR dieselben Maßnahmen durchführen. Die KVP ist ja auch nichts weiter als eine Wehrmacht.«
Ein Schlossermeister aus dem Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Rudolstadt, [Bezirk] Gera: »Ich für meine Person bin gegen die Einführung einer Wehrpflicht, ob drüben oder hüben.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Waggonbau Niesky, [Bezirk] Dresden: »Ich bin der Meinung, dass sich Westdeutschland ebenso schützen muss wie wir. Die Rekrutierung der Jugend Westdeutschlands ist kein Fehler, denn jedes Land hat seine Wehrmacht.«
Ein Arbeiter aus dem VEB Anlagenbau Berlin in Stalinstadt: »Es ist ganz gut, dass in Westdeutschland das Wehrgesetz in Kraft tritt, dadurch hört die Arbeitslosigkeit auf, die Russen werden klein nachgeben. Wenn die hier nicht bald anders vorgehen, kommt noch was, wir haben von den ganzen leeren Phrasen die Schnauze voll.«
Wiederholt wird berichtet, dass in fast allen Werften des Bezirkes Rostock von den Arbeitern über Arbeitsmangel diskutiert wird. Die Facharbeiter wünschen, dass sie entsprechend ihren Kenntnissen eingesetzt werden.
Ein Teil der Arbeiter des VEB Spielkartenfabrik Altenburg, [Bezirk] Leipzig, ist darüber missgestimmt, dass nur der Direktor sowie technische und kaufmännische Angestellte Prämien erhielten, jedoch die Arbeiter leer ausgingen. Sie haben kein Interesse an einer weiteren Planerfüllung mehr.
Wegen Materialschwierigkeiten im VEB Möve-Werk in Mühlhausen,7 [Bezirk] Erfurt, konnten z. B. am 25.2.1954 statt der vorgesehenen 222 Spur- und Schubstangen nur zwei angefertigt werden. Ähnlich verhält es sich bei der Herstellung von Traktorenersatzteilen, die zur Vorbereitung auf die Frühjahrsbestellung gebraucht werden.
Im VEB IFA-Werk Horch Zwickau,8 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, mangelt es an Anlassern. Der Zubringerbetrieb VEB IKA-Werke in Ruhla9 kann den Bedarf nur zu ca. 60 Prozent decken.
Im VEB Bauhof Nauen, [Bezirk] Potsdam, besteht eine stärkere Fluktuation an Bauarbeitern. Sie sind der Ansicht, dass sie bei Privatunternehmern mehr verdienen können.
Handel und Versorgung
Die DHZ Lebensmittel Annaberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, erhielt vor einigen Tagen eine Sendung mit 8 800 kg Makkaroni aus Bulgarien. Die Waren sind bereits 1952 hergestellt worden und sind nicht mehr genießbar.
Bei der HO in Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg, lagern größere Überplanbestände an Schokoladenwaren, die nicht abgesetzt werden können, weil der Bevölkerung die Preise zu hoch sind. Die Schokolade droht bei warmer Witterung zu verderben.
Wichtig erscheint folgende Aussage, die der Verkäufer eines Eisenwarengeschäftes in Magdeburg einem VP-Angehörigen gegenüber machte: »Obwohl unser Geschäft ein Spezialgeschäft für Tischlereigewerbe ist, werden die Materialien, die von den Handwerkern verlangt werden, durch die DHZ ungenügend geliefert.« Er sagte weiter, dass einige Kunden, die nicht bedient werden konnten, Äußerungen fallen ließen: »Wenn das so weitergeht, ist der 17. Juni [1953] nicht mehr weit, vielleicht gibt es dann wieder alles.«
Landwirtschaft
Stimmen zu politischen Problemen sind nur ganz vereinzelt bekannt geworden. Lediglich aus dem Bezirk Frankfurt/Oder wird berichtet, dass sich in einer Reihe von Versammlungen in LPG lebendige positive Diskussionen über die Regierungserklärung und die Bonner Wehrdebatte entwickelten. So sagte z. B. ein LPG-Bauer aus Blumberg, [Kreis] Bernau, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Wer den Worten Adenauers glaubt, die er am Funkturm gesprochen hat,10 der lässt sich genauso verblenden, wie wir es einst bei Hitler erlebten. Die Worte Grotewohls11 und die Vorschläge Molotows12 sind die einzigen Möglichkeiten, aus einem gespaltenen Deutschland herauszukommen.13 Das Wehrgesetz muss man als Provokation bezeichnen.«
Meist stehen fachliche Fragen im Mittelpunkt der Gespräche. In den Bezirken Magdeburg, Potsdam und Rostock sind viele Bauern über die mangelhafte Futtergrundlage, über ungenügende Düngerlieferung und über Pflanzkartoffelmangel verärgert. Im Bezirk Halle sind die Bauern vor allem um neues Saatgut für die ausgewinterten Flächen, die zuweilen bis auf 50 Prozent geschätzt werden, besorgt.
Ständig werden neue Beispiele bekannt, wo Großbauern gegen die LPG hetzen und andererseits »freie Wirtschaft« fordern. In Eickendorf, [Kreis] Schönebeck, [Bezirk] Magdeburg, besteht eine Gruppe von Altbauern, die gegen die dortige LPG hetzt. Ihr Rädelsführer, ein Großbauer, sagte: »Man muss der LPG den Kopf nehmen, die Beine fallen dann allein.« Ein Großbauer aus Falkenhain, [Kreis] Wurzen, [Bezirk] Leipzig: »In diesem Jahr wird es wieder so sein, dass die LPG den Dünger mit der Schaufel streuen kann, während die anderen kaum eine Handvoll davon haben.« Von allen Großbauern des Dorfes wurde er dabei unterstützt.
Ein Mittelbauer aus dem Kreis [Bad] Freienwalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Mir ist die freie Wirtschaft lieber als die Planwirtschaft, da brauche ich nicht nur für das Soll zu schuften.« Ein Großbauer aus Mockrehna, [Kreis] Eilenburg, [Bezirk] Leipzig, forderte »freie Wirtschaft« mit folgender Begründung: »Ihr erzählt uns dauernd von Westdeutschland, dass es den Bauern dort schlecht geht. Sie erhalten für 1 Zentner Getreide 20,00 Mark und für 1 Zentner Fleisch 120 Mark. 1 Zentner Dünger kostet bei uns genau wie drüben 10,00 Mark, obwohl wir niedrigere Preise für unsere Produkte erhalten.«
Ersatzteilmangel meldet die MTS-Spezialwerkstatt Jüterborg, [Bezirk] Potsdam. Vor allem fehlen Pendellager für die Schaltwellen des Traktors »Pionier«, die nirgends zu beschaffen sind.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Über die Wehrdebatte im Bonner Bundestag wird nur wenig diskutiert, aber doch meist positiv. Negative Stimmen, allerdings nicht verbreitet, stammen von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Elementen, während die positiven Meinungen meist Verwaltungsangestellten und Hausfrauen eigen sind. Manche Menschen meinen, nun müssten bei uns in der DDR ähnliche Maßnahmen getroffen werden. Eine Hausfrau aus Erfurt: »Der Weg, den Westdeutschland geht, ist gefährlich. Kriege sind vermeidbar, also müssen wir für den Frieden kämpfen.«
Ein Verwaltungsangestellter aus Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich als Schwerbeschädigter habe den letzten blutigen Krieg mitgemacht. Ich bin empört darüber, dass man in Bonn ein Wehrgesetz verabschiedet hat. Ich rate jedem jungen Menschen ab, für die Imperialisten eine Waffe zu tragen.« Ein Zahnarzt aus Brand-Erbisdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Nun haben die Rindviecher in Westdeutschland das Wehrgesetz angenommen. Das bedeutet wieder Krieg. Uns wird also nichts anderes übrig bleiben, als ein ähnliches Gesetz anzunehmen.«
Eine Frau bürgerlicher Herkunft aus Demmin, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich hoffe, dass es nun einmal anders kommt. Dann bekommt mein Schwiegersohn seinen Betrieb zurück.« Ein Gewerbetreibender aus Finkenheerd,14 [Kreis] Fürstenberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Der Westen zeigt jetzt mit seiner Wehrmacht, wie man es macht. Hoffentlich bekommt der Russe jetzt Angst.«
Bewohner einiger Grenzgemeinden im Kreis Sonneberg, [Bezirk] Suhl, haben plötzlich Angst, dass sie von einer eventuellen Aggression durch die Westmächte zuerst getroffen werden könnten.
In Halberstadt, [Bezirk] Magdeburg, sind die Diskussionen von Hausfrauen über eine Preissenkung, die angeblich auf dem IV. Parteitag15 beschlossen werden soll, umfangreicher geworden (siehe auch unsere gestrige Meldung).16
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter
Karl-Marx-Stadt: 2 390 Stück in ausgekohltem Zustand auf einem Haufen gefunden. Inhalt: »Kampfgruppe aus Potsdam«, Stimmzettel,17 »4 Jahre der DDR – 4 Jahre Terror«.
Leipzig: 500 Stück am 27.2.1954 sichergestellt, KgU,18 Hetze gegen SU und DDR.
Erfurt: 255 Stück teils mit Ballons eingeschleust, teils aus Fahrzeugen geworfen, SPD.19
Schwerin: 70 Stück SPD mit Ballons eingeschleust, 39 Stück KgU mit Ballons eingeschleust. Inhalt: Langsamarbeiten.
Neubrandenburg: 39 Stück SPD mit Ballons eingeschleust. Inhalt: 35 Jahre Verrat usw., 23 Stück »Widerstandbewegung der Sowjetzone«20 mit Ballons eingeschleust. Inhalt: Hetze gegen DDR, Genossen Walter Ulbricht21 und »Langsamarbeiten«. 3 Stück »Gewerkschaftliches Aktionskomitee«.22 Inhalt: Hetze gegen Viermächtekonferenz.
Frankfurt/Oder: 50 Stück NTS,23 Inhalt: »Gegen Dienst der KVP und Sowjetarmee«. 16 Stück »Freiheitsrat«.
Dresden: 40 Stück SPD, meist mit Ballons eingeschleust.
Potsdam 14 Stück NTS, 8 Stück SPD mit Ballons eingeschleust. Inhalt: »35 Jahre Verrat« usw., »Langsamarbeiten«.
Rostock: 11 Stück SPD mit Ballons eingeschleust. Inhalt: »35 Jahre Verrat« usw. und »Langsamarbeiten«.
Gera: 2 Stück SPD, mit Ballon eingeschleust. Inhalt: »35 Jahre Verrat usw.«, 1 Stück KgU.
Halle: einige SPD-Ostbüro. Inhalt: Hetze gegen Viermächtekonferenz.
Am 1.3.1954 wurde der BPO-Sekretär und BGL-Vorsitzende des Kreislandwirtschaftsbetriebes in Nahwinden, [Bezirk] Erfurt, niedergeschlagen. Täter wurden festgenommen.
Am 1.3.1954 wurden in Havelberg, [Bezirk] Magdeburg, zwei Fahnen heruntergerissen, die zu Ehren der Kreisdelegiertenkonferenz der SED angebracht waren. Die Täter wurden festgenommen.
In der Nacht vom 27. zum 28.2.1954 wurden in Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder, zwölf Fahnentücher abgerissen, die anlässlich der Bezirksdelegiertenkonferenz der SED angebracht werden.
An das Gebäude der DHZ in Bischofswerda, [Bezirk] Dresden, wurde mit rotem Ölstift in großen Buchstaben: »Hitler ist richtig« angeschrieben. Im Werk »Deutschland«, Albert Funk Schacht in Oelsnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurde unter Tage eine Hetzlosung »SA marschiert – Heil« angeschrieben.
Folgende Hetzschriften wurden sichergestellt: In Dresden zwei Hetzschriften des UfJ,24 eine Hetzschrift »Der Tag«,25 in Neubrandenburg drei Hetzschriften »Der Tag«, ein Hetzbrief von der »Widerstandsbewegung Mecklenburg« (mit Matrize hergestellt), in Gera zwei Hetzbriefe der KgU (Inhalt: Hetze, Drohungen und Warnungen), in Suhl einige Hetzbriefe der KgU (Inhalt: Freilassung der politischen Gefangenen).
Am 28.2.1954 wurden in Schullwitz, [Kreis] Dresden, drei Hetzzettel an eine Anschlagtafel geklebt, die mit Schreibmaschine geschrieben waren. Inhalt: Hetze gegen Funktionäre der SED und LPG.
Am 26.2.1954 wurden in Potsdam drei Plakate der Nationalen Front26 beschmiert.
Vom 27. zum 28.2.1954 wurden im RAW Gotha, [Bezirk] Erfurt, von 35 Plakaten mit dem Bildnis des Genossen Molotow die Köpfe herausgerissen.
Am 28.2.1954 wurde in Elberingerode, [Bezirk] Magdeburg, der Schaukasten einer BSG und Kulturgruppe zertrümmert.
Einschätzung der Situation
Die Diskussionen über die Einführung der Kriegsdienstpflicht nehmen weiter zu, dabei verstärken sich die Proteste unter den Arbeitern in VEB, während auf dem Lande und unter der übrigen Bevölkerung wenig dazu Stellung genommen wird.
Vereinzelt werden verstärkte Sicherungsmaßnahmen für die DDR gefordert.
Negative und feindliche Stimmungen sind weiterhin in geringem Umfang zu verzeichnen. Hauptsächlich in kleinbürgerlichen Kreisen und unter Großbauern.
Auf dem Lande steht in Zusammenhang mit der Frühjahrsbestellung oft die Frage des Saatgutes, der Futter- und Düngemittel im Vordergrund.