Zur Beurteilung der Situation
4. März 1954
Informationsdienst Nr. 2146a zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Die Diskussionen der Arbeiter über die Wehrdebatte sind etwas umfangreicher geworden.1 Von Angestellten und Angehörigen der technischen Intelligenz wird nur in geringem Maße darüber diskutiert. Der größte Teil der Stimmen richtet sich gegen die Einführung des Wehrgesetzes, weil dadurch ein weiterer Schritt zum Krieg getan wird. Vereinzelt protestieren die Arbeiter in Resolutionen gegen die Bonner Verfassungsänderung und übernehmen Verpflichtungen zur Steigerung der Arbeitsleistung. Von Jugendlichen wird vereinzelt geäußert, dass sie sich zur KVP verpflichten wollen bzw. wenn notwendig sofort zum Schutze der DDR bereit sein werden.2 Teilweise werden in Diskussionen Gegenmaßnahmen bzw. die Einführung der Wehrpflicht in der DDR gefordert. Mehrfach befürchten Werktätige, dass nun auch bei uns die Wehrpflicht eingeführt wird. Ein Teil spricht sich dagegen aus.
Ein Arbeiter aus dem VEB Eisenhüttenwerk Thale, [Bezirk] Halle: »Auch bei uns steht die Wehrpflicht vor der Tür, denn nachdem 1948 in Westdeutschland die Währungsreform eingeführt wurde, erfolgte sie auch bei uns, ebenso kommt es jetzt.«3 Ein Kollege aus der Bau-Union Senftenberg, [Bezirk] Cottbus: »Da in Bonn das Wehrgesetz eingeführt wird, wird es auch bei uns nicht mehr lange dauern. Dann aber ohne mich.«
In weiteren negativen bzw. feindlichen Diskussionen werden die Argumente des RIAS ausgesprochen. Der Gesamtumfang der negativen Stimmen ist gering. Ein Arbeiter aus dem Kombinat Böhlen, [Bezirk] Leipzig: »Bei uns besteht ebenfalls eine Wehrmacht in Form unserer KVP. Der Westen hat es jetzt nur nachgemacht.«
Ein Schlosser aus dem Trafo- und Röntgenwerk Dresden: »Ich lehne jegliche Dienstverpflichtung ab und werde mich auch nicht zur VP werben lassen.« Ein Kranfahrer aus dem Kunstfaserwerk »Wilhelm Pieck« in Schwarza, [Bezirk] Gera: »Jetzt sind wir wieder so weit wie 1933, es fehlt nur noch, dass auch bei uns die Wehrdienstpflicht eingeführt wird.«
Ein Kollege aus dem VEB Maschinenbau Nordhausen, [Bezirk] Erfurt: »Durch den Wehrdienst wird wenigstens die Jugend zur Ordnung erzogen. Außerdem werden jetzt die Jugendlichen von der Straße wegkommen. Es ist doch alles dummes Gerede, dass man in Westdeutschland den Krieg vorbereitet.«
Zu Ehren des IV. Parteitages der SED4 sind weitere Verpflichtungen bekannt geworden. So haben z. B. die Kumpel des Braunkohlenreviers Zeitz, [Bezirk] Halle, alle Kollegen der übrigen Braunkohlenwerke im Bezirk Halle zum Wettbewerb aufgerufen. Eine Brigade vom Otto-Brosowski-Schacht will den Jahresplan bis zum 1.10.1954 erfüllen, eine andere Brigade will den Monatsplan mit 15 Prozent übererfüllen.5
Missstimmung herrscht unter den Arbeitern des IFA-Werkes »Ernst Grube« in Werdau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, da sie die hohen Prämien der Intelligenz (bis zu 2 000 DM) als ungerecht empfinden.
Die Arbeiter des Kunstseidenwerkes Premnitz, [Bezirk] Potsdam, beschweren sich über den Mangel an Omnibussen im Berufsverkehr. So kommen bei Ausfall eines Busses viele Arbeiter zwei bis drei Stunden später zur Arbeit bzw. nach Hause.
Im VEB Peniger Patentpapierfabrik, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, fehlt gebleichter und ungebleichter Zellstoff. Die Materialvorräte wurden bereits in den ersten Tagen des Monats März aufgebraucht.
Im VEB RFT in Mittweida,6 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, fehlen Schrauben und Muttern; bei den Schraubenfabriken T[EWA]-Betriebe7 mangelt es wiederum an Automatenstahl.
Des Öfteren geben die Schwierigkeiten in der Materialversorgung Anlass zu negativen Diskussionen. Ein Arbeiter aus dem VEB »Goldfisch« in Oberlungwitz,8 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Das nennt man nun das Jahr der großen Initiative.9 Mit der Materialzuweisung hat es noch nie so schlecht geklappt wie jetzt.«
Ein Arbeiter vom VEB Strumpfwerk Lichtenstein, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Es ist eine Unsicherheit unter den Arbeitern, denn man denkt jeden Tag, dass man mit der Arbeit wegen Materialmangel aufhören muss.«
Im Kreis Kamenz, [Bezirk] Dresden, besteht die Gefahr, dass infolge zu geringer Belieferung mit Braunkohle für das 1. Quartal über zehn Betriebe, die zum Teil Exportaufträge durchführen, innerhalb von zwei bis drei Tagen die Produktion einstellen bzw. Kurzarbeit einführen müssen.
Seit ca. 1949/50 lagern im RAW Brandenburg-West, [Bezirk] Potsdam, ca. 200 t Kohle, wovon bereits ca. 100 t verwittert sind. Das Ministerium für Eisenbahnwesen ist im November 1953 davon benachrichtigt worden, hat jedoch noch keine Maßnahmen dagegen getroffen.
Eine Fluktuation der Arbeiter wird von der Bau-Union Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, Baustelle Kühlhaus, gemeldet. Angeblich seien die Normen zu hoch und die Arbeitsorganisation schlecht.
Handel und Versorgung
In den HO-Geschäften der Wismut AG10 herrscht ein spürbarer Mangel an Textilien. Die DHZ Niederlassungen halten ihre Verträge nicht ein und begründen, dass die Produktionsbetriebe aus Mangel an Rohstoffen ihre Lieferverträge nicht einhalten.
Im Kreis Plauen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, kursierende Gerüchte über eine bevorstehende Preissenkung führten zu einer Verminderung des Umsatzes in HO-Geschäften. Im Industriewarenladen in Plauen sank der Tagesumsatz von 10 000 auf 3 000 DM.
Im Bezirk Magdeburg kann die Nachfrage bei Textilien und Haushaltswaren nicht befriedigt werden.
Im Kreis Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, mangelt es in HO-Geschäften an Sekt, guten Weinen und Trinkbranntweinen besserer Qualität.
In Berlin sind Hausfrauen verärgert, weil das Kindernährmittel »Babysan« nicht mehr in der HO, sondern nur noch auf Abschnitte der Milchkarte verkauft wird.
Landwirtschaft
Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen fachliche Probleme. Über politische Fragen wird wenig gesprochen. Über die Regierungserklärung wurden nur aus dem Bezirk Potsdam Stimmen bekannt.11 Dort wurden in den letzten Tagen in den Landgemeinden Versammlungen durchgeführt, die zum größten Teil positiv verliefen. So wurden z. B. im Kreis Pritzwalk in 18 Gemeinden Verpflichtungen über den vorfristigen Abschluss der Frühjahrsbestellung übernommen.
Über das Wehrgesetz liegen nur einige positive Stimmen vor. Ein LPG-Bauer aus Grauwinkel, [Kreis] Herzberg, [Bezirk] Cottbus: »In Westdeutschland hat man wieder die Wehrpflicht eingeführt. Hoffentlich führt sie dazu, dass die Jugendlichen aus Westdeutschland in unsere Republik flüchten und das wird meiner Meinung nach auch eintreten. Hoffentlich kann man den Jugendlichen auf dem Wege zu uns behilflich sein.«
Nach wie vor bestehen ernste Schwierigkeiten in der Beschaffung von Saatkartoffeln und in der Futtergrundlage. Das wird heute aus den Bezirken Potsdam, Frankfurt/Oder und Leipzig berichtet. In der LPG Gortz, [Kreis] Brandenburg, [Bezirk] Potsdam, fehlen 800 Ztr. Saatkartoffeln. In einer VdgB-Versammlung in Ketzür, [Kreis] Brandenburg, sagte ein Mittelbauer: »Wenn ich keine Saatkartoffeln bekomme, bleibt mein Acker eben unbestellt.« Im Bezirk Leipzig, Kreis Torgau, beklagen sich Bauern, dass sie Freigabescheine für Futtermittel besitzen, aber durch die VdgB nicht beliefert werden.
Im Bezirk Schwerin interessieren sich jetzt mehr Einzelbauern als sonst für die LPG. Von Einzelbauern und Mittelbauern wurde zum Ausdruck gebracht, dass sie sich besser stehen würden, wenn sie einer LPG beitreten. In einigen Dörfern sind bereits Mittelbauern in die LPG eingetreten.
Im Bezirk Rostock kritisieren Bauern öfters die Arbeit der staatlichen Organe. So sagte z. B. ein LPG-Bauer aus Garftitz, [Kreis] Putbus, [Bezirk] Rostock: »Die Arbeit des Rates des Kreises lässt sehr zu wünschen übrig. Wir wollen doch endlich wissen oder sehen, was wir bekommen. Auch arbeitet die BHG schlecht. Rechnungen bekommen wir für gelieferte Waren sehr spät, dass meistens immer gleich Verzugszinsen darauf folgen. Hier müssen Fachkräfte hin, die auch in der Lage sind, die Buchführung ordentlich zu führen.«
In vielen MTS, so berichtet Rostock, sind viele Arbeiter mit ihren Löhnen nicht zufrieden. So z. B. sagte ein parteiloser Schlosser von der MTS Kuhlrade,12 [Kreis] Ribnitz: »Mir ist der ganze Dreck für die paar Mark hier über. Ich gehe lieber in die Stadt und arbeite dort als Schlosser, weil ich dort mehr Geld verdiene. So denken auch alle meine Kollegen.«
Im Bezirk Neubrandenburg hat sich die Schweinepest weiter ausgebreitet. Auf dem VEG Rosentahl, [Kreis] Strasburg, wo die Pest neu ausbrach, wurde als wahrscheinliche Ursache ermittelt, dass Wasser aus einem Tümpel, in den Jauche aus den Ställen zufließt, zum Füttern verwendet wurde.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Über das Wehrgesetz wird wenig diskutiert. Stimmen von Hausfrauen sind meist positiv. Die weniger auftauchenden negativen Stimmen kommen aus bürgerlichen Kreisen. Eine Hausfrau aus Schmalkalden, [Bezirk] Suhl: »Ich habe die Schrecken des letzten Krieges selbst erlebt, deshalb verabscheue ich das vom Bonner Bundestag angenommene Wehrgesetz.«
Ein Bäckermeister aus Frankfurt/Oder: »Der Russe will keinen Friedensvertrag, denn er ist bis zu den Zähnen bewaffnet und hat dasselbe mit der ostdeutschen Jugend gemacht. Er hat die beste Basis, um seine Gewalt auch Westeuropa spüren zu lassen. Es ist nicht wahr, dass der Westen auf einen Krieg hinstrebt. Aber es ist ganz natürlich, dass man sich zur Verteidigung vorbereiten muss, und diesen Zweck hat das Wehrgesetz.«
Im Bezirk Karl-Marx-Stadt hetzen Pfarrer verstärkt gegen unsere DDR. So sagte z. B. in Grünhain, [Kreis] Schwarzenberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ein Pfarrer in einer Predigt: »Junge Pioniere sagen immer ›Seid bereit‹. Auf was sollen wir bereit sein? Auf den Tod? Es bereitet sich aber niemand mehr darauf vor. [Besser wär]13 für unser deutsches Vaterland, dass wir bald eine neue Regierung bekommen, die uns im Glauben an Gott erzieht.«
Vier ältere Einwohner aus Lippersdorf, [Kreis] Marienberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, haben von der Inneren Mission aus Westdeutschland je ein Päckchen mit folgendem Inhalt bekommen: 1 Päckchen Pudding, ein Päckchen Backpulver, 250 g Margarine sowie etwas Kinderwäsche.
Im Bezirk Frankfurt/Oder, besonders im Kreis Bernau, wird in bürgerlichen Kreisen versteckt diskutiert, dass man im Frühjahr wieder mit Republikfluchten von Gewerbetreibenden und Großbauern rechnen müsse. Als Begründung wird angeführt, »ihnen bleibt keine Luft mehr zum Atmen«.
Im Kreis Neuhaus, [Bezirk] Suhl, sollen 39 Handwerksbetriebe geschlossen werden, weil die Inhaber keine Meisterprüfung abgelegt haben. Viele wünschen aber, innerhalb eines halben Jahres die Meisterprüfung ablegen zu können. Einige sagten: »Wenn wir die Schließungspapiere erhalten, gehen wir nach Westdeutschland und werden dort bestimmt als politisch Verfolgte behandelt.«
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter
Suhl: 20 000 Stück in russischer Schrift mit Ballons eingeschleust.
Karl-Marx-Stadt: 3 400 Stück. Inhalt: »Genosse Rotlauf im neuen Kurs«14 gebündelt aufgefunden. 38 Stück. Inhalt: Stimmzettel,15 »35 Jahre Verrat« usw. »Langsamarbeiten«. Sechs Stück. Inhalt: Hetze gegen Viermächtekonferenz.16
Frankfurt/Oder: 3 010 Stück KgU,17 Inhalt: Hetze gegen Viermächtekonferenz, SED und Genossen Molotow,18 mit Ballons eingeschleust. 170 Stück NTS,19 Inhalt: Brief eines Deserteurs der Sowjetarmee.
Leipzig: 300 Stück SPD20 und NTS mit Ballons eingeschleust.
Schwerin: Verstärkt SPD mit Ballons eingeschleust.
Gera: 50 Stück NTS.
Neubrandenburg: 19 Stück SPD. Inhalt: »35 Jahre Verrat« usw., »Langsamarbeiten«.
Dresden: 13 Stück SPD. Inhalt: Hetze gegen SED und KPD mit Ballon eingeschleust.
Potsdam 11 NTS.
Halle: Einzelne SPD.
Erfurt: Einige Flugblätter von vier Flugzeugen abgeworfen.
Magdeburg: zwei mit Druckstempel hergestellt. Inhalt: »Ein zweiter 17.6.[1953] kommt wieder.«
Rostock: zwei Stück SPD. Inhalt: »35 Jahre Verrat« usw. mit Ballon eingeschleust.
Auf dem Wege von Langenfeld, [Bezirk] Suhl, nach Hildburghausen, [Bezirk] Suhl, wurde ein Angehöriger der Grenzpolizei von 5 bis 6 Unbekannten niedergeschlagen.
In Groß Pinnow, [Bezirk] Frankfurt/Oder, wurden zwei freiwillige VP-Helfer von mehreren Landarbeitern niedergeschlagen und misshandelt.
Folgende Hetzschriften wurden gefunden: In Rostock drei Hetzschriften »Sozialdemokrat«,21 eine Hetzschrift mit Inhalt: »Jugoslawien geht seinen eigenen Weg«, in Magdeburg zwei Hetzschriften der KgU (Kampfgruppe warnt Neubrandenburg), in Schwerin 1 200 gefälschte VP-Zeitschriften, in Frankfurt/Oder eine Hetzschrift »Neuer Sendbote«, in Potsdam drei Hetzschriften gegen die Viermächtekonferenz.
In Magdeburg wurden an Genossen einige Briefe per Post zugestellt, von der »SED-Opposition«,22 Inhalt: »In Versammlungen soll gegen den Ausschluss von Zaisser23 und Konsorten Stellung genommen werden.«
In Gera wurden per Post drei Hetz- und Drohbriefe an Angehörige des SfS geschickt.
Am 1.3.1954 wurde in der Betriebsparteischule des Reichsbahnamtes Cottbus an ein Rednerpult ein Hakenkreuz angeschmiert.
Der Bürgermeister der Gemeinde Köritz, [Bezirk] Potsdam, erhielt einen fingierten Anruf, wonach er sich beim VPK Kyritz wegen Verlängerung einer Veranstaltung verantworten sollte.
Am 2.3.1954 wurden von einem Zimmermann in der Ziegelei Wismar24 die Stützen des Transporteurs mit der Axt angeschlagen. Bei Belastung wären sie zusammengebrochen. Der Schaden wurde rechtzeitig bemerkt.
Vermutliche Feindtätigkeit
Am 1.3.1954 wurde festgestellt, dass von einer sowjetischen Kartoffelnestpflanzmaschine für das VEG Markee,25 [Bezirk] Potsdam, das Spezialwerkzeug sowie die dazugehörigen Zeichnungen aus dem Reparaturkasten gestohlen worden sind.
Aus Westberlin
Am 1.3.1954 fand eine Kundgebung der SPD am Funkturm statt, zu der etwa 5 000 Personen erschienen waren. Die Versammlung wurde von Neumann26 geleitet. Das Referat hielt Ollenhauer.27 Teilweise hatte er guten Beifall, besonders wenn er Adenauer28 angriff.29
Einschätzung der Situation
Die Lage ist gegenüber dem Vortag unverändert.
Anlage (o. D.) zum Informationsdienst Nr. 2146a
Tätigkeit der Westsender
Der westliche Rundfunk verstärkt wieder seine Hetze gegen die DDR, um die feindlichen Elemente zu ermuntern, die Bevölkerung zu beunruhigen und die Republikflucht zu steigern. So brachte der RIAS am 1.3.1954 eine Sendung unter dem Titel »Wissen und Wahrheit«;30 darin heißt es u. a.: »Die Geschichte nun zeigt, dass jede staatliche Machtanmaßung immer nur bis zu einem bestimmten Punkt vorhält. Dann setzt nach der Art eines Pendels die Gegenbewegung ein. Hier und dort finden sich einige wenige zusammen, die das Vordringen des Staates immer unerträglicher empfinden, die kleine Gruppen bilden und schließlich als Nervenzentrum des Freiheitsgedankens, der mit wachsender Geschwindigkeit um sich greift, die Anmaßung, staatliche Macht einzudämmen und zurückzudrängen, versuchen. Das kann in den verschiedensten Formen und mit den mannigfaltigsten Mitteln geschehen. Es kann vom passiven Boykott behördlicher Anordnungen bis zu offener Rebellion greifen. Es kann in der Studierstube eines Gelehrten oder in einer Fabrik seinen Ausgang nehmen. Der 17. Juni 1953 ist ein modernes und ein geläufiges Beispiel zu dem Beginn einer solchen Gegenbewegung.«
Der Südwestfunk erklärte am gleichen Tag: »Vor einer neuen Verhaftungswelle in der Sowjetzone warnte heute die Westberliner Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit. Sie will erfahren haben, dass der kommunistische Staatssicherheitsdienst von der kommenden Nacht ab eine acht Tage dauernde Verhaftungswelle gegen Widerstandskämpfer im gesamten Gebiet der Sowjetzone durchführen will. Die Kampfgruppe rief die Bevölkerung der Sowjetzone zur Vorsicht und gegenseitigen Hilfe auf.«
Dazu erklärte Radio Paris31 am 2.3.1954: »Die Verhaftungswelle soll in der vergangenen Nacht eingesetzt haben und acht Tage andauern. Besonders seien Ostberlin und die großen Industriezentren davon betroffen. Laut des Westberliner Nachrichtenbüros wurden 18 Arbeiter der Walter-Ulbricht-Werke in Halle32 als angebliche Provokateure festgenommen.«
Auf der gleichen Linie sendet Hamburg33 am 2. und 3.3.1954 u. a. Folgendes: »Damit, meine Zuhörer, ist schon wieder das Stichwort gefallen, das Stichwort, das alles erklären soll, warum sich in den sächsischen und mitteldeutschen Industriegebieten die Schwierigkeiten häufen, warum die Arbeiter nicht davon ablassen, freie Wahlen zu fordern und Molotows Deutschlandparolen abzulehnen, warum die Funktionärskader der dauernd gesiebten SED bis hinauf in die bezirklichen Spitzen schon wieder nicht zuverlässig sind und einer abermaligen Reinigung bedurften. Alpdruck des Zonenregimes, das sich unter der wachsenden Gegnerschaft des Volkes immer weniger sicher fühlt.
In Chemnitz, Magdeburg und Erfurt sind in der vergangenen Woche insgesamt 60 Personen festgenommen worden, weil sie sich auf Massenkundgebungen der SED gegen das Regime in der Sowjetzone gewandt haben. Den Festgenommenen wurde in fast allen Fällen Aufwiegelung der Werktätigen vorgeworfen. Zu zahlreichen Zwischenfällen ist es am Wochenende in der Sowjetzone auf Betriebsversammlungen zur Vorbereitung des SED-Parteitages gekommen. In den volkseig[enen] BMW-Werken in Eisenach34 lehnten die Arbeiter unter Protest sogenannte Sonderschichten zu Ehren des Parteitages ab. Die Versammlung musste aufgelöst werden.
Im Uranbergbau von Aue mussten während der Versammlung Gruppen des Werkschutzes und der SED-Betriebskampftruppe eingesetzt werden, um Proteste der Arbeiterschaft zu verhindern. In der Maschinenfabrik Polysius in Dessau wurden vier Arbeiter verhaftet, die sich gegen Normenerhöhungen und Sonderschichten ausgesprochen hatten.«