Zur Beurteilung der Situation
5. März 1954
Informationsdienst Nr. 2146b zur Beurteilung der Situation
Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft
Industrie und Verkehr
Allgemein wird über politische Fragen weniger diskutiert. Dafür treten die betrieblichen und örtlichen Belange mehr in den Vordergrund. Unter den Arbeitern der VEB nimmt die Diskussion über die Wehrgesetzdebatte im Bonner Bundestag an Umfang etwas zu.1 Angestellte und Intelligenzler sprechen wenig darüber. Überwiegend sind die Arbeiter empört über die Änderung des Bonner Grundgesetzes und erkennen daran die kriegerischen Absichten der Adenauer-Clique.2 Vereinzelt wurden Protestresolutionen verfasst bzw. Verpflichtungen übernommen. Im VEB Jutewerk Triebes, [Bezirk] Gera, wurde eine Unterschriftensammlung bei allen Belegschaftsmitgliedern durchgeführt; darin kommt eine starke Empörung zum Ausdruck.
Im VEB Zinnerz Altenberg, [Bezirk] Dresden, wurde von einer Brigade ein Aufruf zum Fahren einer Sonderschicht erlassen. Im VEB Greizer Kammgarnspinnerei, [Bezirk] Gera, erklärten sich zwei Jugendliche zum Eintritt in die KVP bereit.3
Des Öfteren sprechen Werktätige davon, dass nun auch in der DDR die Wehrpflicht eingeführt werden wird. Dabei fordern einige Arbeiter verstärkte Sicherungsmaßnahmen für die DDR. Die meisten äußern sich jedoch nicht weiter dazu.
In negativen bzw. feindlichen Diskussionen, meist von reaktionären Elementen geäußert, zeigt sich der Einfluss der feindlichen Propaganda. Ein Jugendlicher aus dem VEB Kombinat Espenhain, [Bezirk] Leipzig: »Das ist alles dasselbe, in Westdeutschland Militarismus und in der DDR nennt man es KVP.« Ein Klempner vom Autoreparaturwerk Wismar, [Bezirk] Rostock: »Der Bundestag hat nun die Zwangsrekrutierung durchgedrückt. Ich muss sagen, dass dies für die jungen Menschen nur gut ist.«4
In einer Diskussion äußerte ein Jugendlicher vom VEB Sachsenwerk Radeberg, [Bezirk] Dresden: »Wenn bei uns ebenfalls das Wehrgesetz eingeführt wird, haue ich sofort nach dem Westen ab.«
Ein Arbeiter aus Lauchhammer, [Bezirk] Cottbus, sagte zu mehreren Jugendlichen: »Nun ist es drüben bald so weit, dann werden sie Euch wohl auch bald abholen.«
In der Geraer Kammgarnspinnerei diskutieren Kollegen negativ, da nach ihrer Meinung der Durchschnittsverdienst von 200 DM im Monat im Verhältnis zu den Warenpreisen zu niedrig sei.
In der Warnow-Werft Warnemünde, [Stadt] Rostock, wird negativ über die Wartestunden diskutiert, weil dadurch Kollegen in zehn Tagen nur 50,00 bis 60,00 DM erhalten.
Im VEB Sprengstoffwerk Gnaschwitz und VEB LOWA Bautzen, [Bezirk] Dresden, wird noch immer negativ über die Prämienzahlung diskutiert. Eine Arbeiterin aus dem VEB Sprengstoffwerk Gnaschwitz sagte dazu: »Die Kollegen lassen sich viel zu viel gefallen. Man müsste es oben so wie in der LOWA machen und sagen, dass wir auch beabsichtigen zu streiken.«
Im VEB Motorradwerk Zschopau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, besteht Materialmangel, wodurch teilweise Facharbeiter für Hofarbeiten eingesetzt werden müssen. In der Abteilung Motorenbau musste die Produktion schon einige Male eingestellt werden. Durch die geringe Produktion besteht die Gefahr, dass der Betrieb für den Monat März keine Löhne zahlen kann.
Wegen Materialmangel besteht im VEB Fichtel & Sachs in Reichenbach,5 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, Missstimmung unter den Arbeitern.
Wegen Mangel an Einwickelpapier kann in den Öl- und Fettwerken Magdeburg nur noch höchstens acht Tage Margarine produziert werden.
Der VEB Leisniger Zigarrenfabrik Schöneck,6 [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, hat Absatzschwierigkeiten. Zurzeit lagern dort ca. 10 Millionen Zigarren. Unter den Kollegen wird heftig darüber diskutiert, dass die HO die Zigarren von der Privatindustrie aufkauft, während sie die Abnahme aus VEB ablehnt.
Handel und Versorgung
In Fleischereien im Kreis Hagenow, [Bezirk] Schwerin, lagern größere Fettbestände (10 300 kg), die nur noch kurze Zeit genießbar sind. Der Rat des Bezirkes hat noch keine Anweisung erteilt, um diese ungewöhnlich hohen Mengen, die durch die Schweinepest anfallen, verkaufen zu lassen.
Unter der Landbevölkerung im Bezirk Schwerin besteht eine starke Nachfrage nach Kleinmotorrädern. Im Kreis Parchim, [Bezirk] Schwerin, mangelt es an Baumaterialien und Holzbearbeitungswerkzeugen.
Im Kreis Finsterwalde, [Bezirk] Cottbus, fehlt, HO-Butter. Das Kontingent für das 1. Quartal wurde von 10 t auf 6,2 t gekürzt. Diese Menge ist fast restlos verkauft. In gleichen Kreisen fehlen in Werkküchen Kartoffeln. Bei der DHZ in Finsterwalde lagern 7 t Konfekt aus der SU, das nicht abgesetzt werden kann und bei Witterungsumschlägen verdirbt. Im Bezirk Cottbus bestehen Engpässe bei Elektrogeräten, Baustoffen und Textilien sowie Schuhwaren besserer Qualität.
Landwirtschaft
Über die Wehrdebatte sind nur vereinzelt Stimmen aus MTS und LPG, weniger von Einzelbauern bekannt. Sie sind meist positiv. Fachliche Probleme stehen im Vordergrund der Diskussionen. Es wird über zu wenig Saatkartoffeln und Futtermittel geklagt. Darüber berichten die Bezirke Frankfurt/Oder, Potsdam, Halle und Rostock.
Viele Bauern aus dem MTS-Bereich Jeßnitz, [Kreis] Bitterfeld, [Bezirk] Halle, sind verärgert, dass sie 50 Prozent Konsumkartoffeln für Saatkartoffeln liefern müssen. Bei den meisten mangelt es an Futterkartoffeln.
In der Schweinemastanstalt in Güldenhof,7 [Kreis] Gransee, [Bezirk] Potsdam, ist für ca. 1 000 Schweine nur noch für fünf Tage Futter vorrätig.
In einigen Kreisen der Bezirke Erfurt und Schwerin klagen Einzelbauern über die geringe Zuteilung an Düngemitteln.
Der Mangel an Ersatzteilen in MTS führt zuweilen zu negativen Äußerungen. Der Werksleiter der MTS Lankensburg, [Kreis] Bergen, [Bezirk] Rostock, sagte: »Ja, da kann man mal sehen, in Bezug auf Maschinen und Werkzeuge können wir mit dem Westen doch noch immer nicht standhalten. Was gibt es drüben für feine Autos. Es ist drüben auch nicht schwierig, Ersatzteile zu beschaffen, wenn bei Reparaturen welche gebraucht werden.«
Im Bezirk Frankfurt/Oder wird in Grenzgebieten nach wie vor in geringem Umfang gegen die Oder-Neiße-Grenze gehetzt. Ein Landarbeiter aus Hohenwutzen, [Bezirk] Frankfurt/Oder, sagt: »Es ist eine Schande, dass die östlich der Oder gelegenen Ländereien von Polen nicht bestellt werden. Ich kann nicht verstehen, dass die westlichen Außenminister in dieser Frage von Molotow nichts erzwingen konnten.«8
Im Bezirk Magdeburg wird in einigen LPG die Wachsamkeit verletzt. In der Gemeinde Damerow, [Bezirk] Magdeburg, wurde einem Großbauern ein Schweinestall zur Verfügung gestellt. Er kann dadurch unkontrolliert in der LPG ein- und ausgehen.
Die Forderung nach »freier Wirtschaft« wird, wenn auch vereinzelt, immer wieder laut. In einer Einwohnerversammlung in Mellenau, [Kreis] Templin, [Bezirk] Neubrandenburg, sprachen sich zwei Bauern, ein Genosse und ein Parteiloser für die »freie Wirtschaft« aus mit der Begründung, dass dadurch höhere Ernteerträge erzielt werden könnten.
In einigen ländlichen Gemeinden des Kreises Sonneberg, [Bezirk] Suhl, wird das Gerücht verbreitet, dass die freien Spitzen9 abgeschafft werden sollen. Einige Bauern wollen bereits ihr Vieh, ohne dass es das erforderliche Gewicht besitzt, verkaufen.
Stimmung der übrigen Bevölkerung
Über die Wehrdebatte wird wenig diskutiert. Die meisten Stimmen stammen von Hausfrauen und sind überwiegend positiv. Auch Jugendliche und Studenten lehnen das Wehrgesetz ab. Oft wird davon gesprochen, dass wahrscheinlich in der DDR ähnliche Maßnahmen getroffen werden. Eine Hausfrau aus Erfurt: »Man kann es kaum fassen, dass in Westdeutschland schon wieder Gesetze erlassen werden, die der Vorbereitung eines neuen Krieges dienen. Der vergangene Krieg hat uns genug Not und Elend gebracht. Die westdeutsche Bevölkerung muss nun stärker erkennen, dass der Weg Adenauers ins Verderben führt.«
Ein Sparkassenangestellter (CDU) aus Bischofswerda, [Bezirk] Dresden: »Wenn man in Westdeutschland die Wehrpflicht einführt, wird sie auch bei uns in den nächsten Tagen eingeführt.«10
Ein Oberschüler aus Dresden: »In der Volkskammer wird auch bei uns über die Einführung der Wehrpflicht diskutiert werden. Es wird sich auch bei uns notwendigerweise erforderlich machen, da im Westen die Wehrpflicht eingeführt wird.«
Vereinzelt werden Stimmen laut, die die Gefahr der Wehrergänzung im Bonner Grundgesetz nicht erkennen. Charakteristisch dafür ist die Meinung eines Angestellten aus Fürstenwalde, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Bald wird es auch bei uns eine Wehrpflicht geben. Ich wäre nicht abgeneigt. Vor allem die Jugend würde wieder etwas Schliff in die Knochen kriegen.«
In den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Magdeburg und Potsdam hetzen Pfarrer wiederholt gegen die DDR. So z. B. äußerte ein Pfarrer aus Erlbach, [Kreis] Klingenthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt: »Die Menschen bei uns kommen jetzt nicht mehr zur Ruhe, sie müssen Tag und Nacht arbeiten. Ihnen wird etwas aufgetragen, was sie schaffen müssen, ohne auf die Menschen Rücksicht zu nehmen und sie zu fragen, ob sie es schaffen können.«
Die evangelischen Pfarrer im Kreis Rathenow, [Bezirk] Potsdam, verteilen an die Eltern derjenigen Kinder, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, Handzettel, in denen die Eltern an die »Christenpflicht« erinnert werden. Unterschrieben sind diese Handzettel mit »Kollektiv der Pfarrer Rathenows«.11
Organisierte Feindtätigkeit
Flugblätter
Neubrandenburg: 3 686 Stück NTS,12 Inhalt: »Offiziere und Soldaten der Roten Volksarmee«. 15 Stück »Widerstandsbewegung der Sowjetzone«.13 Vier Stück KgU,14 Inhalt: »Kampfgruppe warnt Bezirk Schwerin« Namen von Mitarbeitern des SfS in Schwerin.
Cottbus: 3 000 Stück NTS. Inhalt: »Du kannst jetzt mit den Russen verkehren«.
Frankfurt/Oder 1 150 Stück NTS, 10 Stück KgU »Sinnvoller Widerstand«.
Magdeburg 1 000 Stück KgU sichergestellt, mit Ballons eingeschleust.
Halle 1 000 Stück NTS aus Düsenjägern abgeworfen.
Gera: 202 Stück SPD,15 Inhalt: Stimmzettel,16 neue Versprechung, neue Lügen, »freie Wahlen«.
Leipzig: 130 Stück SPD, einige Hölz-Neumann-Gruppe,17 Inhalt: Aufzählung von Parteifeinden, die »beseitigt worden sind«.
Erfurt: 80 Stück SPD, KgU und NTS.
Karl-Marx-Stadt: 43 SPD. Inhalt: Stimmzettel, »35 Jahre Verrat« usw., 5 Stück »Gewerkschaftliches Aktionskomitee«.18 Inhalt: »Stimme der Freiheit«.
Dresden 10 Stück SPD. Inhalt: »Arbeiter der Sowjetzone« mit Ballon eingeschleust, mehrere Flugblätter mit Kinderdruckkasten hergestellt. Inhalt: »Freie Wahlen«.
Rostock: sechs Stück SPD. Inhalt: »35 Jahre Verrat« usw. mit Ballon eingeschleust.
Folgende Hetzschriften wurden gefunden: Im Bezirk Karl-Marx-Stadt 1 400 »Sozialdemokrat«,19 6 Stück gefälschte VP-Zeitungen, im Bezirk Schwerin größere Mengen »Sozialdemokrat« und »Stimme des Patrioten«,20 im Bezirk Erfurt 13 Stück »Sozialdemokrat«, 8 Stück »Stimme des Patrioten«, im Bezirk Dresden ein »Sozialdemokrat«, eine »Kleine Tribüne«,21 im Bezirk Neubrandenburg 2 Stück »Sozialdemokrat«, im Bezirk Frankfurt/Oder 2 Stück gefälschte »Junge Welt«,22 im Wismutgebiet23 zwei Hetzschriften. Inhalt: »Der Weg zur Einheit Deutschlands«.
Verschiedene Angehörige des SfS im Bezirk Erfurt erhielten mit Matrize abgezogene Handzettel. Inhalt: Sie sollen sich loyal verhalten.24
In der Gemeinde Dobian, [Bezirk] Gera, wurden in der Nacht vom 3. zum 4.3.1954 sämtliche Plakate gegen den EVG-Vertrag von unbekannten Tätern abgerissen.25
Vermutliche Feindtätigkeit
Im VEB Steinkohlenwerk »Deutschland« in Oelsnitz, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, trat nach dem Mittagessen am 4.3.1954 eine Durchfallerkrankung bei ca. 160 Kollegen ein. Das Mittagessen bestand aus Nudeln mit Rindfleisch. Vermutliche Ursache der Erkrankung: Infektion durch das Rindfleisch und Verwendung minderwertiger Nudeln.
In einigen Kreisen der Bezirke Potsdam, Leipzig und Erfurt wird ein Gerücht verbreitet, wonach die Lebensmittelkarten wegfallen und dann alle Waren auf HO-Preise gesetzt werden.
Im Kreis Auerbach, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wird verstärkt gegen die Wismut-Sperrgrenze26 und im Zusammenhang damit gegen die SU gehetzt. Beim Rat des Kreises waren schon des Öfteren Delegationen aus den naheliegenden Orten und forderten die Aufhebung der Sperrgrenzen. Sie argumentierten dabei: »Deutsche an einen Tisch – aber wir können nicht von Lengenfeld nach Rodewisch«.27
Am 3.3.1954 brannte die Scheune des Lehr- und Versuchsgutes Lichtenwalde, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ab, wobei ca. 300 Ztr. Stroh, einige wichtige landwirtschaftliche Maschinen und ein Bulle vernichtet wurden. Der Gesamtschaden beträgt ca. 20 000 DM. Die Ursache ist vermutlich vorsätzliche Brandstiftung.
Einschätzung der Situation
In den Betrieben haben die Diskussionen über die Wehrergänzung des Bonner Grundgesetzes etwas zugenommen. In den Kreisen der übrigen Bevölkerung wird weniger darüber gesprochen, auf dem Lande noch geringer, weil dort die Fragen der Frühjahrsbestellung, Saatgutbeschaffung und Futterversorgung im Mittelpunkt des Interesses stehen.
Die meisten Diskussionen über die Wehrdebatte sind positiv. Während in den Kreisen der übrigen Bevölkerung oft schlechthin angenommen wird, dass nun in der DDR ähnliche Maßnahmen getroffen werden, werden von Arbeitern, wenn auch vereinzelt, Gegenmaßnahmen direkt gefordert.