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Zur Beurteilung der Situation

6. März 1954
Informationsdienst Nr. 2147 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Allgemein wird über politische Probleme weniger diskutiert, dafür treten die betrieblichen und örtlichen Belange mehr in den Vordergrund. Unter den Arbeitern der VEB wird wie am Vortage über die Wehrgesetzdebatte diskutiert,1 während ein Teil der Angestellten und besonders der Intelligenz sich oft interesselos verhalten. Überwiegend sind die Arbeiter empört und protestieren teilweise gegen die Grundgesetzänderung, da sie eine weitere Maßnahme zur Vorbereitung eines neuen Krieges ist. Des Öfteren erwarten Werktätige, dass nun auch bei uns ähnliche Maßnahmen eingeleitet werden. Vereinzelt fordern Arbeiter verstärkte Sicherungsmaßnahmen für die DDR. Die meisten äußern sich jedoch nicht weiter dazu. In Einzelstimmen erwarten Werktätige, dass bei Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland eine Westflucht in die DDR erfolgen wird.

Negative bzw. feindliche Diskussionen treten in geringem Umfang auf, in ihnen zeigt sich der Einfluss der feindlichen Propaganda. Ein Arbeiter aus dem RAW Wittenberge, [Bezirk] Schwerin: »Wie kann man nur so gegen das Wehrgesetz auftreten, wo wir ja bei uns auch so etwas haben, wenn auch verkappt, nämlich die KVP2

Ein Kollege aus dem VEB Kompressorenwerk Gera: »Wenn man bei uns die Wehrpflicht einführen sollte, haue ich ab. Jedenfalls lasse ich mir die Jacke nicht vollhauen. Mögen diejenigen die DDR verteidigen, die 1 000 DM Prämie bekommen.«

Ein Arbeiter von der Schiffswerft Fürstenberg, [Bezirk] Frankfurt/Oder: »Wenn Molotow3 nicht immer auf die Bildung einer provisorischen Regierung bestanden hätte,4 wäre das deutsche Problem gelöst und Westdeutschland würde nicht den Weg zum Krieg beschreiten.«

Ein Kollege aus dem Kombinat Espenhain, [Bezirk] Leipzig: »Eine Wehrpflicht bei uns lehne ich ab. Denn dann würden die Methoden der ehemaligen Naziwehrmacht auch bei uns wieder eingeführt werden.« (Diese Ansicht vertraten mehrere Arbeiter.)

Ein Arbeiter des Industriewerkes Ludwigsfelde, [Bezirk] Potsdam: »Bis jetzt ist ja noch gar nichts passiert. So lange die SPD dagegen ist,5 wird das Gesetz noch nicht verwirklicht und innerhalb eines Jahres kann man sowieso keine Armee aufbauen.«

Missstimmung besteht unter den Kumpel der Wismut-Schächte6 von Oberschlema, da nicht genügend Bohrstangen und sehr schlechte Bohrkronen zur Verfügung stehen. Als Notbehelf werden zerbrochene Bohrstangen zusammengeschweißt, sie halten jedoch schlecht und gefährden dadurch die Arbeiter.

Mangel an Buntmetall herrscht im VEB Textima Leisnig, [Bezirk] Leipzig, wodurch der Betrieb drei Monate in Planrückstand ist. Da Messing fehlt, können zwei Waschbatterien (Exportaufträge) nicht fertiggestellt und acht Anlagen noch nicht angefertigt werden. Dies entspricht einem Wert von 240 000 DM, die im Betrieb festliegen.

Im VEB Kraftfahrzeugwerk »Ernst Grube« in Werdau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, fehlen Kugellager für ca. 80 Fahrzeuge sowie 8-mm-Bleche für die Kraftwagenfertigung. Des Weiteren stockt die Belieferung mit Lkw-Motoren vonseiten des Horch-Werkes in Zwickau. Für den Export stehen Fahrzeuge bereit, jedoch hat der DIA noch keine Anweisung zur Verladung gegeben. Dadurch fehlen dem Werk 3 500 000 DM, die dringend für Lohn- und Gehaltszahlungen benötigt werden.

Handel und Versorgung

Der Schlachthof Dresden hat seit 14 Tagen einen großen Anfall an Frischfleisch. Zurzeit lagern 300 t Schweinefleisch und blockieren sämtlichen Lagerraum. Wenn das Fleisch nicht abtransportiert wird, muss die Produktion um 50 Prozent eingeschränkt werden.

Im Bezirk Karl-Marx-Stadt beklagen sich Hausfrauen über das ungenügende Angebot an Bettwäsche, Tisch- und Handtüchern.

Landwirtschaft

Nach wie vor wird über politische Probleme wenig diskutiert. Über die Wehrdebatte sind Stimmen bekannt geworden, die meist positiv sind. Vereinzelt wird ein neuer Krieg nun als unvermeidlich angenommen. So sagten einige Bauern aus Pasewalk, [Bezirk] Neubrandenburg: »Der Krieg ist jetzt unvermeidlich. Das beweist das Ergebnis der Berliner Konferenz7 und die Aufrüstung und Annahme des Wehrgesetzes in Westdeutschland.«

Saatgutbeschaffung, Düngemittelversorgung und die Futtergrundlage, das sind die Probleme, die im Mittelpunkt des Interesses stehen. Bei werktätigen Bauern in Dobbin, [Kreis] Güstrow, [Bezirk] Schwerin, fehlen noch 470 dz Saatkartoffeln und 20 dz Saatgetreide. LPG-Bauern aus dem Kreis Pritzwalk, [Bezirk] Potsdam, beklagen sich über ungenügende Kali-Zuteilung. In sämtlichen VEG des Landkreises Leipzig mangelt es an Futtermitteln. Im VEG Knauthain reichen die Futtermittel für 2 000 Schweine nur noch vier Tage.

Die Befürchtungen von Bauern aus dem Bezirk Halle, dass fast 50 Prozent der Wintersaaten ausgewintert seien, haben sich nicht bestätigt. Untersuchungen im Kreis Aschersleben ergaben, dass die Frostschäden nicht erheblich sind.

Die LPG-Bauern warten noch immer auf eine Regelung in der Sozialversicherung. So wird heute aus dem Bezirk Halle berichtet. Ein Buchhalter aus der LPG Zschornewitz sagte, Walter Ulbricht8 habe auf der II. Konferenz der LPG in Halle versprochen,9 die Angelegenheit bis zum 1.2.1954 zu klären.

Über die Wühltätigkeit der Großbauern wurden folgende Beispiele bekannt. In Dehles,10 [Kreis] Plauen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, verpflichteten(!) [sic!] sich drei Großbauern, 160 Pferdestunden bei werktätigen Bauern zu leisten. Damit heucheln sie eine fortschrittliche Einstellung und untergraben den Einfluss der MTS im Dorf. Auf einer VdgB-Konferenz sagte ein Großbauer (LDP) aus Lampersdorf, [Kreis] Oschatz, [Bezirk] Leipzig: »Man richtet ja das Junkertum in den LPG wieder auf. Zum Beispiel darf sich die LPG bei uns schon wieder Reitpferde anschaffen. Überhaupt ist alles Mist in der LPG

In den Kreisen Pritzwalk und Potsdam hat sich die Schweinepest weiter ausgebreitet.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Über das Wehrgesetz wird nur in geringem Umfang diskutiert. Die meisten Stimmen sind positiv, von denen wiederum die meisten von Hausfrauen und Verwaltungsangestellten stammen. Vereinzelt macht sich besonders bei politisch unaufgeklärten Menschen eine gewisse Hilflosigkeit bemerkbar. Eine Angestellte aus Frankfurt/Oder: »Man weiß nicht, was man heute von allem halten soll. Hoffentlich kommt kein Krieg, es wäre furchtbar. Aber was können wir schon dagegen machen, dass in Westdeutschland die Jugend zu Soldaten wird.«

Vereinzelt hetzen bürgerliche Elemente gegen die KVP. Ein LDP-Mitglied aus Geithain, [Bezirk] Leipzig: »Man spricht jetzt bei uns so viel über die Aufstellung einer Söldnerarmee in Westdeutschland. Was macht man denn bei uns. Wir werben doch auch für die KVP

Organisierte Feindtätigkeit

Flugblätter

Potsdam: 50 000 Stück KgU11 und SPD,12 Inhalt: Sinnvoller Widerstand, »35 Jahre Verrat« usw. mit Ballons eingeschleust, 10 000 Stück in Form eines Briefes mit der Anschrift »An Präsidenten W. Pieck«,13 Inhalt: Hetze gegen SU, DDR und führende Funktionäre, mit Ballons eingeschleust, 300 Stück KgU. Inhalt: Kampfgruppe warnt Bezirk Potsdam, mit Ballons eingeschleust, 66 Stück. Inhalt: Deutsche Selbsthilfe,14 20 Stück NTS.15

Neubrandenburg: 23 500 Stück NTS, gebündelt sichergestellt, mit Ballons eingeschleust, 5 000 Stück, »Widerstandsgruppe Freiheit in der von Bolschewisten besetzten Zone Deutschlands«, 2 500 Stück, Zentralkomitee Antibolschewistischer Soldaten in der KVP.

Dresden 10 000 Stück in Karton aufgefunden. Inhalt: Hetze gegen SU und DDR, mit Ballons eingeschleust, zehn Stück UfJ16 mit Druckkasten hergestellt, 9 Stück SPD. Inhalt: Freie Wahlen, Stimmzettel,17 Langsamarbeiten, 8 Stück »Widerstandsbewegung der Sowjetzone«,18 ein Stück NTS.

Rostock: 4 580 Stück NTS mit Ballons eingeschleust.

Karl-Marx-Stadt: 295 Stück KgU. Inhalt: Sinnvoller Widerstand, Bluthunde und ihre Tradition, Kampfgruppe warnt Potsdam, 60 Stück SPD. Inhalt: Arbeiter der Sowjetzone »35 Jahre Verrat« usw., »4 Jahre DDR«, 1 Stück NTS.

Gera: über 3 kg Flugblätter vom Zentralverband der Nachkriegsemigranten aus der UdSSR (TsOPE)19 mit Ballons eingeschleust.

Cottbus: 285 Stück SPD. Inhalt: Stimmzettel, »Kollektivierung geht weiter«.

Erfurt: neun Stück SPD mit Ballon eingeschleust.

Frankfurt/Oder: sieben Stück SPD. Inhalt: »Der Freiheitsrat ruft die Arbeiter der Sowjetzone«, Hetze gegen LPG.

Schwerin: einzelne SPD.

Wismutgebiet: ein Stück SPD. Inhalt: »Bestochene Verräter als Kronzeugen der SPD«, mit Ballon eingeschleust.

Am 3.3.1954 abends wurde der Parteisekretär des Postamtes Großschönau, [Bezirk] Dresden, auf dem Nachhauseweg von unbekannten Tätern vom Fahrrad gerissen und niedergeschlagen. Ein Täter äußerte dabei: »Jetzt haben wir Dich, Du Kommunistenhund«.

Am 2.3.1954 wurde an einem Traktor des VEG Görlsdorf, [Bezirk] Cottbus, unter dem Typenschild am Motor ein eingebohrtes Loch im Luftanzugskanal festgestellt. Dadurch wäre ungefilterte Luft in den Zylinder gedrungen und der Motor nach kurzer Zeit ausgefallen. Der Traktor war von einer Generalreparatur von der MTS-Reparaturwerkstatt Jüterbog abgeholt worden.

Am 3.3.1954 wurde im Wartesaal des Bahnhofes Lüdershagen, [Bezirk] Rostock, ein Stalinbild mit einem Hakenkreuz beschmiert.

Am 5.3.1954 wurde am Marktplatz in Eisenach, [Bezirk] Erfurt, ein Stalinbild beschädigt, am Platz der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft wurde ein Standbild des Genossen Wilhelm Pieck durch Steinwürfe beschädigt.

Am 4.3.1954 wurden im VEB Kali-Werk »Karl Marx« in Sollstedt, [Bezirk] Erfurt, einige Förderwagen mit folgenden Hetzlosungen beschmiert: »Hier SPD« und »Lohngruppe IV – Hungerlohngruppe«.

Folgende Hetzschriften wurden gefunden: »Sozialdemokrat«20 im Bezirk Karl-Marx-Stadt 897, im Bezirk Halle eine größere Anzahl, im Bezirk Gera neun und im Bezirk Rostock vier. Gefälschte VP-Zeitung: Im Bezirk Karl-Marx-Stadt 134, im Bezirk Suhl eine. »Der Tag«:21 Im Bezirk Neubrandenburg vier.

Folgende Hetzbriefe wurden gefunden: Im Bezirk Potsdam 109 Hetzbriefe, die an Personen in Sachsen und Thüringen adressiert waren. Inhalt: Gefälschte Fahrkarten,22 Hetze gegen Viermächtekonferenz, freie Wahlen. 20 Postwurfsendungen, die an Offiziere der Grenzpolizei im Kreis Oranienburg gerichtet waren.

Im Bezirk Halle 25 Hetzbriefe vom »Komitee der Widerstandskämpfer der Sowjetischen Besatzungszone, Sachsen-Anhalt«, meist an Geschäftsleute gerichtet. Inhalt: Rücktritt der Regierung, freie Wahlen. Sieben Postwurfsendungen der KgU. Inhalt: Gefälschte Lebensmittelkarten. Im Bezirk Erfurt acht mit Matrizen vervielfältigte Rundschreiben der »SED-Opposition«.23

Im Bezirk Schwerin ein Hetzbrief der »SPD-Opposition«. Inhalt: Stellungnahme gegen den Ausschluss Zaissers24 und Konsorten aus der SED. Im Bezirk Dresden ein Hetzbrief vom »Skiverband München«, gerichtet an die SG »Dynamo« in Kamenz. Inhalt: Hetzmaterialien.

Am 4.3.1954 wurden während einer Vollversammlung der LPG Wedringen, [Bezirk] Magdeburg, zwei Steine von unbekannten Tätern durch die Fenster geworfen.

Vermutliche Feindtätigkeit

Am 5.3.1954 fiel im VEB Plüschweberei Hainichen, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ein Motor aus. Im Motor befand sich Papier und Ähnliches, obwohl er von einer Schutzhaube eingeschlossen war.

Am 4.3.1954 waren im VEB Kali-Werk »Karl Marx« in Sollstedt, [Bezirk] Erfurt, einige Förderwagen mit minderwertigem Salz beladen und nur die oberste Schicht bestand aus gutem Kali.

Ein Gerücht, wonach die Lebensmittelkarten ab einer bestimmten Gehaltsgruppe wegfallen sollen, kursiert in einigen Orten der Bezirke Magdeburg, Gera und Karl-Marx-Stadt. Begründet wird es damit, dass aus den Kontrollabschnitten der Lebensmittelkarten jetzt nach dem Verdienst gefragt sei.

Einschätzung der Situation

Die Lage hat sich gegenüber dem Vortage nicht wesentlich verändert.

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