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Zur Beurteilung der Situation

8. März 1954
Informationsdienst Nr. 2148 zur Beurteilung der Situation

Die Lage in Industrie, Verkehr, Handel und Landwirtschaft

Industrie und Verkehr

Diskussionen über politische Fragen werden in geringerer Anzahl geführt als Diskussionen über betriebliche Probleme. Unter den Diskussionen über politische Fragen wird fast ausschließlich über die Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland diskutiert.1 Positive Stimmen, in der Mehrzahl von Arbeitern, sprechen sich gegen die Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland aus. Ein Teil erwartet von uns ähnliche Gegenmaßnahmen bzw. verstärkte Sicherung unserer DDR. Ein großer Teil der Belegschaften nachfolgend genannter Betriebe spricht sich gegen die Einführung der Wehrpflicht in Westdeutschland aus: VEB Maxhütte Unterwellenborn, [Bezirk] Gera, VEB Schwermaschinenbau »Heinrich Rau«, [Bezirk] Potsdam, VEB Elbewerft Boizenburg, [Bezirk] Schwerin, VEB Zellwolle Wittenberge, [Bezirk] Schwerin, IKA Sonneberg, [Bezirk] Suhl, VEB Braunkohlenwerk Bitterfeld Werk III, [Bezirk] Halle, VEB Elektrokompressoren- und Motorenwerke Halle,2 VEB Chemische Werke Buna, [Bezirk] Halle – K 138 und VEB Volltuch Pößneck, [Bezirk] Gera.

Ein großer Teil der Belegschaft des Funkwerkes Dabendorf, [Bezirk] Potsdam, ist der Meinung, dass man auf diese Provokation in Westdeutschland bei uns in der DDR mit Gegenmaßnahmen antworten müsste.

Ein Arbeiter vom Chemiewerk Lauta, [Bezirk] Cottbus: »Da man drüben das Wehrgesetz eingeführt hat ist nun mit Bestimmtheit damit zu rechnen, dass es auch bei uns eingeführt wird.«

Ein Teil der Arbeiter, besonders jedoch Angestellte und Intelligenz, verhält sich abwartend bzw. zurückhaltend gegenüber politischen Problemen.

Negative und feindliche Diskussionen treten unter den Werktätigen in geringem Maße auf. Hierbei zeigt sich besonders der Einfluss der westlichen Propaganda. Die Argumente dieser Menschen sind unterschiedlich, jedoch in der Mehrzahl betreiben sie eine Hetze gegen die SU und DDR, Ablehnung des Eintrittes in die VP u.  Ä. Ein Arbeiter von der Bahnmeisterei Camburg, [Bezirk] Gera: »Wer weiß wie lange der Staat sich noch hält. Das tausendjährige Reich hat auch nur zwölf Jahre bestanden. Am 17.6.[1953] war ich gegen die Provokation, wenn aber die Bevölkerung Waffen gehabt hätte, wäre kein Russe am Leben geblieben.«

Ein Jugendlicher vom VEB Lipsia Mügeln, [Bezirk] Leipzig: »Wenn bei uns die Wehrpflicht eingeführt wird und ich erhalte einen Gestellungsbefehl, dann werde ich diesen zerreißen.«

Ein Jugendlicher der Abteilung Schlosserei vom EKM Maschinenbau Görlitz, [Bezirk] Dresden: »Ich will meine persönliche Freiheit haben und kann ja auch nicht auf meine Verwandten in Westdeutschland schießen.«

Ein Teil der Arbeiter der Gasag Hauptverwaltung, Abteilung Maschinen und Elektro in Berlin, äußert sich wie folgt: »Wir haben ja schon lange Polizei und KVP, sind denn das keine Soldaten.3 Schließlich muss sich ja auch Westdeutschland schützen.«

Ein Arbeiter (SED) vom VEB Holzindustrie Wesenberg, [Bezirk] Neubrandenburg: »Ich habe meine Arbeit und verdiene mein Geld. Zur Friedensarbeit habe ich keine Lust. Wir können ja doch nichts daran ändern, die machen ja doch was sie wollen.« (will keine gesellsch[aftliche] Arbeit leisten)

Ein Arbeiter vom VEB »Heinrich Rau« Schwermaschinenbau Wildau, [Bezirk] Potsdam: »Solange es dem Arbeiter hier schlechter geht als im Westen, wird das kapitalistische System die Oberhand behalten. Bei uns in der DDR müssten viel mehr Preissenkungen durchgeführt werden.«

Zu Ehren des IV. Parteitages der SED4 wurden in einigen Betrieben Verpflichtungen übernommen. Ein großer Teil der Arbeiter sieht mit Erwartung dem IV. Parteitag entgegen und hofft, dass dieser Verbesserungen in der Lebenslage mit sich bringt, z. B. Preissenkungen, Abschaffung der Lebensmittelkarten.

Das Kollektiv der Motorendreherei vom »Karl-Liebknecht«-Werk Magdeburg (bestehend aus 700 Arbeitern) hat das Kollektiv des Schwermaschinenbaues Salbke5 aufgerufen, einen 6 DV – 24 Motor kostenlos über den Plan herzustellen und diesen der KVP zu überreichen.

Die Brigade Schulz vom VEB (K) Maschinenbau Neubrandenburg verpflichtete sich, im Monat März 1954 zwei Motoren von Traktoren mehr zu reparieren. Die Lehrlingsbrigade des gleichen Betriebes hat sich verpflichtet, 2 500 Feuerhaken und ebenso viele Kohlenschaufeln zusätzlich herzustellen.

Missstimmung: In der Autobasis I des [Wismut-]Objektes 9 in Aue6 herrscht unter den Kraftfahrern schlechte Stimmung aus folgenden Gründen: Die Maschinenprämie für das IV. Quartal 1953 wurde noch nicht ausgezahlt; die Überstunden vom Monat Januar 1954 sind noch nicht abgerechnet worden; die Differenzen in der Abrechnung der Überstunden vom Januar bis September 1953 sind noch nicht bereinigt worden; mit der neuen Arbeitsregelung sind die Kraftfahrer nicht einverstanden.

Unzufriedenheit wegen der Entlohnung besteht unter Kraftfahrern in der Leichtindustrie im Bezirk Leipzig. So sagte z. B. ein Kraftfahrer aus dem VEB EKO Oschatz:7 »Unter den Kraftfahrern ist man verbittert, dass bis jetzt die Lohnfrage nicht geregelt ist, obwohl im Februar geschrieben wurde, dass die Verhandlungen bereits abgeschlossen seien. Ich habe mit mehreren Kraftfahrern gesprochen, wobei die Frage des Streiks in der nächsten Woche sogar gestellt wurde.« (unüberprüft)

Die Lehrlinge der Thälmann-Werft [Brandenburg], [Bezirk] Potsdam, die am 1.3.1954 ausgelernt haben, werden als Transport- und Hofarbeiter beschäftigt. Darüber sind viele Kollegen der Werft unzufrieden.

Die Stimmung der Bauarbeiter der Baustelle Potsdam-Babelsberg der Bau-Union Potsdam ist nicht zufriedenstellend. Die Bauarbeiter argumentieren u. a.: »Nach dem 17.6.[1953] hat sich nichts geändert. Lediglich ein paar neue Filme bzw. alte Filme werden gespielt. Wenn das der neue Kurs ist,8 so hat er nicht viel gebracht.«

Produktionsschwierigkeiten traten in einigen Betrieben in Erscheinung, Ursachen dazu sind Materialmangel, Arbeitskräftemangel.

Im Braunkohlenwerk Grube Greifenhain, [Bezirk] Cottbus, besteht Mangel an Streckenholz.

Im VEB Ellma in Ellefeld, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, besteht Mangel an Stahlsortimenten, dadurch wurden die Produktionspläne Januar/Februar nur mit 70 Prozent erfüllt.

Im VEB Macedonia Dresden muss am 8.3.1954 die Produktion eingestellt werden, infolge Rohstoffmangel.9 Dies ist im 1. Quartal bereits das dritte Mal der Fall.

In den Braumälzereien des Bezirkes Dresden bestehen in der Planerfüllung Schwierigkeiten, da es an Braugerste mangelt.

In dem VEB Falkensteiner Gardinenfabrik, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, besteht ein starker Mangel an Arbeitskräften. Dadurch können in der Abteilung Tüllgardinen 200 000 qm Gardinenstoffe nicht hergestellt werden, obgleich alle Rohmaterialien vorhanden sind.

Betriebsstörungen: Am 5.3.1954 erfolgten im Kraftwerk des Braunkohlenwerkes »Friedenswacht« in Lauchhammer, [Bezirk] Cottbus, das in Betrieb genommen werden sollte, zwei Explosionen. Ursache: Nicht genaue Einhaltung der Betriebsvorschriften. Die Gaszufuhr erfolgte bereits acht Minuten vor der Entzündung, sodass die vorgeschriebene Menge stark überschritten war, was die Explosion hervorrief. Der Schaden beträgt nach vorläufiger Schätzung ca. 500 000 bis 1 Million DM. Zwei Personen wurden verletzt.

Am 5.3.1954 stellte im VEB Grobgarnwerk II in Kirschau, [Bezirk] Dresden, eine Brigade (20 Arbeiter) für ca. eine Stunde die Arbeit ein, da der Brigadier (SED) wegen Provokation aus der Partei ausgeschlossen wurde. Nach Aufklärung durch die Betriebsparteiorganisation nahmen sie die Arbeit wieder auf.

Handel und Versorgung

Im HO-Warenhaus Leipzig lagern Schuhe, Strümpfe und Möbel, die aufgrund der Form und Qualität von der Bevölkerung nicht gekauft werden.

Im VEB Elbdom Zuckerwarenfabrik, [Bezirk] Dresden, lagern zzt. 531 880 t Kunsthonig und Zuckersirup im Werte von insgesamt 537 443 DM, die nicht absetzbar sind.

Absatzschwierigkeiten bestehen in der Fleischwarenfabrik Ludwigslust, [Bezirk] Schwerin. Die Räucherböden hängen voll Räucherwaren.

Wie aus dem Bezirk Potsdam berichtet wird, macht sich in letzter Zeit bemerkbar, dass der Privathandel aufblüht, der Umsatz in HO und Konsum aber zurückgeht.

Landwirtschaft

Politische Probleme werden weiterhin wenig diskutiert. Über die Wehrgesetzdebatte sind nur einzelne Stimmen bekannt geworden, die zum Teil positiv sind. In negativen Stimmen wird gegen die KVP gehetzt. Ein Neubauer aus Falkenwalde, [Bezirk] Neubrandenburg: »Die KVP ist genau dasselbe wie die Wehrpflicht in Westdeutschland. Man sollte nicht darüber sprechen, dass drüben den Bauern das Land geraubt wird, um Flugplätze zu bauen.10 Bei uns ist dasselbe vorhanden.«

Verpflichtungen zu Ehren des IV. Parteitages der SED wurden von einigen LPG- und Einzelbauern übernommen. Die LPG Rukieten, [Kreis] Bützow, [Bezirk] Schwerin, verpflichtet sich, monatlich fünf Schweine auf freie Spitzen11 abzuliefern. Die Genossenschaftsbauern der Gemeinde Broock,12 [Bezirk] Schwerin, werden fünf Schweine dem freien Aufkauf zur Verfügung stellen. Ein werktätiger Bauer aus Mittenwalde, [Bezirk] Neubrandenburg, will übersollmäßig 3 dz Fleisch, 1 000 Eier und 100 kg Milch liefern.

Schwierigkeiten in der Saatkartoffelbeschaffung und Düngemittelversorgung stehen weiterhin im Mittelpunkt des Interesses der Landbevölkerung.

In der LPG »Neues Leben« Gräfentonna, [Bezirk] Erfurt, wurde bei Öffnung der Mieten festgestellt, dass von den 2 500 Ztr. Saatkartoffeln der überwiegende Teil erfroren ist.

In der LPG Birkenhügel, [Bezirk] Gera, sind durch unsachgemäße Lagerung ca. 800 bis 1 000 Ztr. Kartoffeln, darunter das Saatgut, erfroren.

Die BHG Lunzenau, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, hat bisher nur einen Waggon Kalkammoniak erhalten, der bei Weitem nicht ausreicht. Ein zweiter Waggon wurde für Monat Mai angekündigt. Kalkammoniak muss jedoch bereits im Monat März gestreut werden.

Der LPG in Köthen, [Bezirk] Halle, fehlen noch 100 Ztr. Strickstoffdünger.

Über die Wühltätigkeit der Großbauern wird bekannt, dass im Kreis Dippoldiswalde, [Bezirk] Dresden, Großbauern versuchen ihren Einfluss auf die Kleinbauern zu verstärken, indem sie kostenlos ihre Traktoren für die Feldbestellung zur Verfügung stellen. So z. B. ein Großbauer aus Hartmannsdorf.

Aufträge von Einzelbauern auf Zuweisung von Pferden häufen sich beim Handelskontor für Zucht- und Nutzvieh in Sebnitz, [Bezirk] Dresden. Sie begründen es damit, dass die MTS nur für LPG-Bauern arbeiten würden und keine Anträge der Einzelbauern annehmen.

Die Schweinepest hat sich im Kreis Riesa, [Bezirk] Dresden, und im Kreis Bernburg, [Bezirk] Halle, verstärkt. So mussten z. B. im VEG Gohlis, [Kreis] Riesa, 2 000 Schweine notgeschlachtet werden.

Stimmung der übrigen Bevölkerung

Über die Wehrgesetzdebatte wird wenig diskutiert. Vorwiegend von Hausfrauen positiv. Einzelne sprechen davon, dass wahrscheinlich nun in der DDR ähnliche Maßnahmen ergriffen werden. Eine Hausfrau aus Hoyerswerda, [Bezirk] Cottbus: »Durch das Wehrgesetz soll nun das Morden wieder seinen Anfang nehmen. So ist es uns schon einmal gegangen. Es ließe sich durch Verständigung vieles erreichen, aber auf diesen Weg der Gewalt verzichten wir.«

Ein Arbeiter aus Aken (Elbe), [Bezirk] Halle: »Aufgrund der Einführung des Wehrgesetzes in Westdeutschland wird bestimmt in der DDR in nächster Zeit das Wehrgesetz auch eingeführt.«

Aus den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Magdeburg wird berichtet, dass teilweise unter der Bevölkerung die Hoffnung besteht, dass mit dem IV. Parteitag die Lebensmittelkarten wegfallen.

Seit Beginn des Jahres 1954 reichten auf der Bergakademie Freiberg, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, ca. 20 Studenten Anträge zu ihrer Exmatrikulierung ein. Der wahrscheinliche Grund dafür soll die zu hohe Stundenzahl der Vorlesungen sein.

Unter den Tierärzten auf dem Leipziger Schlachthof herrscht Unzufriedenheit. Sie leisteten im Dezember 1953 und Januar 1954 durch den zu verzeichnenden Viehstau Überstunden, diese wurden ihnen nicht bezahlt.

Organisierte Feindtätigkeit

Hetzschriften: Der größte Teil der Hetzschriften wurde mittels Ballons eingeschleust und meist noch gebündelt sichergestellt.

Dresden: 25 000 Stück Hetze gegen DDR, SU und SED.

Cottbus 137 Stück Ostbüro der SPD,13 »Einheit, Freiheit, Frieden«.

Karl-Marx-Stadt 1 130 Stück SPD »Sozialdemokrat«14 und »Stimme des Patrioten«,15 300 Stück KgU,16 »KgU warnt den Bezirk Potsdam« und »Bluthunde«.

Potsdam: 2 500 Stück CDU-Ostbüro, Hetze gegen Viermächtekonferenz.17

Vereinzelte kleine Ballons mit der Aufschrift: »Freiheit SPD« und je ein bis zwei Hetzschriften wurden aus den Bezirken Halle, Rostock, Erfurt und Schwerin berichtet.

Hetzschriften des NTS18 wurden in den Bezirken Frankfurt/Oder 5 000 Stück, Neubrandenburg 500 Stück, Halle 1 500 Stück und Gera 13 000 Stück noch gebündelt sichergestellt. Inhalt: Hetze gegen die SU, Aufforderung zum Desertieren.

Antidemokratische Schmierereien und Handlungen: Vereinzelt wurden in den Bezirken Rostock und Suhl Plakate der FDJ zum Deutschlandtreffen19 und Plakate, die sich gegen den EVG-Vertrag richten, abgerissen und beschmiert.20

In der Warnow-Werft-Warnemünde wurde z. B. ein Plakat mit dem Bildnis des Genossen Molotow21 zerstört. Man hatte die Augen ausgestochen und das Gesicht mit Karbidschlamm beschmiert.

In der Nacht vom 5. zum 6.3.1954 wurde das sowjetische Ehrenmal in Meiningen, [Bezirk] Suhl, beschädigt. Der Sowjetstern wurde zerschlagen und das Ehrenmal beschmiert.

Einschätzung der Situation

Die Lage hat sich gegenüber den Vortagen nicht wesentlich verändert.

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